Ausgerechnet Deutschland
Vom Mut und von der Notwendigkeit, im Land der Täter ein Zeichen zu setzen. Heute vor 60 Jahren wurde der Zentralrat der Juden gegründet.

Von Arno Widmann

Wer vergangenen Samstag nach dem "Zentralrat der Juden" googelte, dem wurden von der Maschine nach dem Wort Zentralrat angeboten: Zentralrat der Muslime, Zentralrat, Zentralrat der Luden, Zentralrat deutscher Staatsbürger, Zentralrat der Ex-Muslime, der Armenier, der Sinti und Roma. Alles nur kein Zentralrat der Juden. Der alte, üble Antisemitismus spült immer noch Luden statt Juden nach oben. Wieder bedient er sich modernster Technik.

Im August 1945 legte Earl Grant Harrison dem amerikanischen Präsidenten Truman einen Bericht zur Lage der displaced persons vor. Darin heißt es über die Juden: "Überwiegend leben sie in deutschen Lagern, teilweise sogar in den bisherigen Konzentrationslagern, bewacht hinter Stacheldraht. …. Müssen angesichts dessen die Deutschen, die dies alles beobachten, nicht glauben, daß wir die Nazi-Politik fortsetzen oder doch billigen?"

Man liest oft, die jüdische Bevölkerung Deutschlands habe vor 1933 etwa eine halbe Million Menschen ausgemacht. Nach der Befreiung seien es 15.000 gewesen. Die Zahlen sind nicht kompatibel. Die 500.000 vor 1933 waren nur die, die in jüdischen Gemeinden organisiert waren. Die Zahl 15.000 ist eine Momentaufnahme unmittelbar nach der Befreiung. Daß sich in späteren Jahrzehnten die jüdische Bevölkerung der Bundesrepublik fast immer zwischen 20.000 und 30.000 Mitgliedern bewegte, hat damit nichts zu tun. Hinter dieser scheinbaren Konstanz verbarg sich eine starke Fluktuation.

Man geht davon aus, daß die osteuropäischen Judenverfolgungen nach dem Zweiten Weltkrieg dazu führten, daß zeitweise um die 200.000 Juden in Deutschland lebten. Für die meisten von ihnen waren die Auffanglager in Deutschland eine Zwischenstation auf dem Weg in andere Länder, viele aber schafften es nicht, Deutschland zu verlassen. Sie, und nicht die deutschen Juden, bildeten schon damals das Gros der deutschen jüdischen Gemeinden (welche Rolle werden diese Vertriebenen, die doch ebenso konstitutiv für die Bundesrepublik sind wie die "Heimatvertriebenen" im geplanten "Zentrum gegen Vertreibungen" spielen?) Die Historikerin Monika Richarz schrieb: "Die großen DP-Lager in Bergen-Belsen, Föhrenwald, Landsberg, Berlin usw. waren in den Jahren bis 1950 die eigentlichen Zentren jüdischen Lebens und Überlebens auf deutschem Boden."

Am 19. Juli 1950 um 14 Uhr trafen sich in der Hebelstraße 17 in Frankfurt am Main 25 Vertreter jüdischer Gemeinden zur Gründung einer Dachorganisation. Heinz Galinski, der Chef der Berliner Jüdischen Gemeinde, bedauerte, daß keine Vertreter der jüdischen Gemeinden der DDR anwesend waren. Ihnen müßte in dem zu gründenden Gremium auf jeden Fall ein Platz freigehalten werden. Würde das nicht geschehen, dann könnte er als Vertreter aller Gemeinden Berlins unmöglich mitmachen.

Mitgründer Philipp Auerbach wurde von einem Minister verhöhnt: "König der Juden"

Der Zentralrat der Juden schien, bevor er sich um seine Angelegenheiten kümmern konnte, schon voll beschäftigt mit dem, was später dann die deutsche Frage hieß.

Am Ende des Tages freilich gab es einen "Zentralrat der Juden in Deutschland". In dessen Direktorium saß auch Heinz Galinski. Neben ihm Philipp Auerbach. Hendrik George van Dam war Generalsekretär und blieb es bis zu seinem Tode im Jahre 1973. Van Dams Vater war Hofantiquar von Kaiser Wilhelm II. gewesen, der Vater seiner Mutter liberaler Stadtparlamentarier in Bremen. Der Hamburger Philipp Auerbach hatte Buchenwald und Auschwitz überlebt, war seit September 1946 bayerischer Staatskommissar für rassisch, religiös und politisch Verfolgte. Er half diesen bei der Entschädigung, bei der Eingliederung und bei der Ausreise. 1951 wurde ein Prozeß gegen ihn eröffnet. Unter anderem wegen Amtsunterschlagung, Veruntreuung, Erpressung und Betrug. Richter Josef Mulzer war ehemaliger Oberkriegsgerichtsrat. Ein Beisitzer war ehemaliges SA-Mitglied. Der weitere Beisitzer, der Vorsitzende, die Staatsanwälte und der psychiatrische Sachverständige waren ehemalige NSDAP-Mitglieder. Der bayerische Justizminister Josef Müller (CSU), der beliebte "Ochsensepp", höhnte Auerbach "den König der Juden". Auerbach wurde zu zweieinhalb Jahren Gefängnis und 2700 Mark Geldstrafe verurteilt.

In der Nacht nach der Urteilsverkündung, am 16. August 1952, nahm sich Philipp Auerbach das Leben. Ein Untersuchungsausschuß des Bayerischen Landtages rehabilitierte ihn 1954.

Der Zentralrat war gegründet worden, weil die jüdischen Gemeinden zu spüren bekommen hatten, daß die deutschen Behörden sich nicht um sie kümmerten. In der ersten Regierungserklärung von Kanzler Adenauer zum Beispiel kamen die Juden nicht mit einem Wort vor. Das wurde registriert und gleich in der ersten Erklärung des Zentralrats kritisiert.

Ein Schluß daraus ist die Hinwendung zum kurz davor entstandenen Staat Israel. In der Erklärung heißt es darum: "So gilt unser erster Gruß zum Jahreswechsel den verantwortlichen Männern unserer Regierung im Heiligen Land."

Die frühen Gemeinden verstanden sich überwiegend als Übergangsorganisationen. Kaum jemand wollte in Deutschland bleiben. Der Zentralrat hatte das Überleben und das Auswandern zu organisieren. Ans Einleben dachte kaum jemand. Auch die jüdischen Weltorganisationen drängten auf Auswanderung. Die Regierung Adenauer überlegte die Gründung eines "Referats für jüdische Angelegenheiten".

Die Gründung des Zentralrats war auch der Versuch, sich das Schicksal nicht aus der Hand nehmen zu lassen. Nicht von der Regierung, aber auch nicht von den jüdischen Weltorganisationen. Van Dam schrieb Anfang der 60er Jahre: "Zweifellos ist die Problematik der Wiedergutmachung für die Gründung des Zentralrates der Juden in Deutschland ausschlaggebend gewesen." Wer vom Zentralrat spricht, darf den 1897 in Saarlouis geborenen Journalisten Karl Marx nicht vergessen. Er gründete die Jüdische Wochenzeitung und leitete sie über Jahrzehnte hinweg. Seine Familie lebte seit 900 Jahren in Trier und im Hunsrück. Er war der, der am schnellsten den Kontakt zur deutschen Regierung, zu den führenden Politikern herstellte. Seine Kompromißbereitschaft erzürnte oft die Kollegen. Er stärkte wohl auch Kiesinger den Rücken, das Amt des Bundeskanzlers zu übernehmen. Wer damals mit Adenauer verhandelte, der verhandelte mit Hans Globke, also mit jenem Mann, der dafür gesorgt hatte, daß der Nazistaat zum Beispiel unter Rassenschande nicht nur den Geschlechtsverkehr mit Juden, sondern schon die gemeinsame Onanie verstand.

Es verging kein Monat, in dem es nicht zu antijüdischen Schmierereien, Friedhofsschändungen kam. Wer sein Kind auf eine deutsche Schule schickte, mußte damit rechnen, daß es von einem seiner Lehrer erfuhr, daß dem deutschen Volk das Selbstbestimmungsrecht vorenthalten würde, daß man noch warte, aber sich eines Tages rächen werde und der Diktatur der Alliierten ein Ende machen.

Der Zentralrat war von Anfang an eine der Zielscheiben der antisemitischen Agitation. Er veröffentlicht nicht, was ihn an Bedrohungen erreicht. Es gibt auch keine Statistik der versuchten Anschläge auf seine Büros.

Ignatz Bubis, der ja schon vor seiner Zeit als Vorsitzender sehr in der Öffentlichkeit und in der öffentlichen Kritik stand, war doch einigermaßen fassungslos über die Menge und die niederträchtig-gemeine Tonart der Schmähbriefe, die zu Tausenden an den Vorsitzenden des Zentralrats gingen. Sie hatten nichts zu tun mit dem, was er sagte und tat. Sie waren Hasskübel, die über ihn ausgeschüttet wurden.

Ich weiß nicht mehr, wie viele Schleusen ich passieren mußte, bis ich bei ihm war. Aber ich weiß noch, wie sehr ich darüber erschrak. Und darüber, daß ich mir nicht klar genug gemacht hatte, wie bedroht das Leben jüdischer Repräsentanten in Deutschland auch 40 Jahre nach der Befreiung noch – oder gar wieder? – war. Und immer noch ist.

Ignatz Bubis war ein Mann der Öffentlichkeit. Das unterschied ihn von manchem seiner Vorgänger. Lange war die Devise gewesen: Je weniger Öffentlichkeit, desto mehr läßt sich durchsetzen. Nicht wenigen der nach 1945 geborenen Juden in Deutschland erschien das die falsche Politik. Sie wollten die Öffentlichkeit für ihre Vorstellungen gewinnen, nicht die Parteiführungen. Ihre Haltung zur Bundesrepublik war ambivalenter. Sie waren hier aufgewachsen, hatten – auch in der Studentenbewegung – wesentlich mitgeholfen, daß in der Bundesrepublik die Waffe der Kritik wieder in Gebrauch kam. Sie sahen die BRD als ihr Land. Als das Land, das sie bessern wollten.

Am 31. Oktober 1985 stießen die beiden Generationen aufeinander. Im Frankfurter Schauspielhaus. Es ging um die Aufführung von Rainer Werner Fassbinders Theaterstück "Der Müll, die Stadt und der Tod".

Ignatz Bubis setzte sich vehement dafür ein, die Aufführung des Stückes über einen jüdischen Häuserspekulanten zu verhindern, zunächst in Gesprächen mit den Stadtpolitikern, und als die nicht zum Ziel führten, besetzte er zusammen mit Mitgliedern der jüdischen Gemeinde die Bühne. Sie entrollten ein Transparent, auf dem stand: "Subventionierter Antisemitismus". Es gab eine erregte Diskussion, bei der sich Daniel Cohn-Bendit, wahrscheinlich damals der bekannteste Jude Frankfurts, für die Aufführung des Stückes einsetzte, während sich Micha Brumlik, wie sein Generationsgenosse Cohn-Bendit ein Grüner, neben Bubis gestellt hatte und gegen die Aufführung aussprach.

Josef Schupack, Mitglied der Jüdischen Gemeinde, brachte damals das Problem auf den Punkt: "Ich war in Auschwitz, und ich erinnere mich, als Göring sagte: ,Wer Jude ist, bestimme ich.´ Nun bestimmen wir, was Antisemitismus ist."

1989 wurde Ignatz Bubis zum Zweiten Vorsitzenden des Zentralrates gewählt. 1992, nach dem Tod von Heinz Galinski, wurde er Erster Vorsitzender. Er engagierte sich mehr noch als seine Vorgänger auch für die Gleichberechtigung der in Deutschland lebenden Ausländer, Einschränkungen des Asylrechts lehnte er ab.

Der Zentralrat der Juden hat wesentlich dabei mitgeholfen, daß die Bundesrepublik Deutschland ein demokratischer Staat wurde. Er hat bei der Integration der sogenannten Kontingentflüchtlinge, der nach 1990 in die Bundesrepublik Deutschland eingereisten russischen Juden, Bewunderungswürdiges hinter und vor den Kulissen geleistet. Man kann das jetzt in einer Ausstellung "Ausgerechnet Deutschland" im Jüdischen Museum Frankfurt – und völlig unverständlicherweise leider nur dort – bewundern.

107.000 Personen sind zurzeit beim Zentralrat der Juden in Deutschland als Gemeindemitglieder registriert. Bei etwa 90.000 von ihnen ist Russisch die Muttersprache. Das ist die epochale Umwälzung, die in den vergangenen 20 Jahren stattgefunden hat. In Deutschland leben nicht mehr vorwiegend Juden, die es nicht woanders hin geschafft haben. Hier leben auch Juden, die lieber hier als in den USA oder in Israel leben. Das ist eine radikal neue Situation. Auch für den Zentralrat.

Frankfurter Rundschau - 19.7.10 - mit freundlicher Erlaubnis der FR

Das “neue Deutschland”:
deutsche Juden noch 1951 von vormaligen Nazis verfolgt, gejagt, denunziert. Das war der gerühmte Neuanfang.