Gestörtes Gleichgewicht
John Darwin über den „imperialen Traum" in der Weltgeschichte

Von Rudolf Walther

Welt- oder Globalgeschichtliche Gesamtdarstellungen sind bis heute eine Spezialität der englischen Geschichtsschreibung. Einen Schwerpunkt bildet Oxford, wo Jack Gallagher, Judith Brown, Patrick O'Brien und andere Weltgeschichte lehrten beziehungsweise lehren. Auch John Darwin zählt dazu. Sein neues Buch über den „imperialen Traum" in der Weltgeschichte seit 1400 ist ein Beleg für die Bedeutung dieses Forschungsgebiets. Darwin bietet ein farbiges und faktenreiches Panorama des Aufstiegs und Niedergangs von Imperien auf der gesamten Welt in den vergangenen 500 Jahren.

In der deutschen Geschichtsschreibung hat dieser Forschungsansatz keinen guten Nimbus mehr, weil sich viele deutsche Historiker, die die Weltgeschichte darstellen wollten, in den Sackgassen geschichtsphilosophischer, „geopolitischer" und rassistischer Spekulationen verloren und einem banalen geistesgeschichtlichen, geographischen oder biologischen Determinismus das Wort redeten.

Von solchen ideologischen Scheuklappen ist Darwins Sicht auf die Imperien völlig frei. Er bereitet dem Leser obendrein das große intellektuelle Vergnügen zuzusehen, wie sich Dutzende von gängigen Vorurteilen über den Gang der Weltgeschichte buchstäblich in Nichts auflösen. So war der Aufstieg zur Hegemonie Europas langwierig und setzte sich erst spät - zwischen 1815 und 1914 - durch. Vor 1800 gab es in wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht keinen großen Kontrast zwischen Europa, Asien und dem osmanischen Reich, sondern „überraschende Ähnlichkeiten" (Kenneth Pomeranz).

Kulturell gelangte Europa etwa im 14. Jahrhundert auf das Niveau von China und des islamischen Ostens. Bilder der italienischen Maler der Früh-Renaissance zeigen, wie der Westen „geradezu geblendet" war „von dem sagenhaften Reichtum und der intellektuellen Reife der islamischen Welt." Die kruden Weltbilder von der „westlichen Überlegenheit" sind im wesentlichen Produkte der Vulgärphilosophie und des Biologismus des 19. Jahrhunderts.

Emir Timur (1330-1405), ein turkisierter muslimischer Mongole, war der letzte Welteroberer, der gleichsam aus dem „Sattel regierte". Sein Reich erstreckte sich von Persien und Mesopotamien bis nach Zentralasien, Indien und Nordchina. Nach seinem Tod ging die Macht von den Nomadenhäuptlingen unwiderruflich zu den seßhaften Regenten von Staaten und Reichen über. Ab dem 15. Jahrhundert bildete sich zwischen China, der islamischen Welt und Europa ein Gleichgewicht heraus, das bis ins 18. Jahrhundert Bestand hatte.

Die spanischen Eroberungen in der Karibik und in Lateinamerika waren spektakulär, erfolgreich und kurzlebig. Sie führten ebenso wenig zur Gründung eines Königreichs der Eroberer wie im Falle Englands  und  Frankreichs  in Nordamerika. Europa lebte seit der Reformation in einer Periode der „selbstzerstörerischen Instabilität" und der Dauerkonkurrenz zwischen den Dynastien Habsburg (Österreich/Spanien) und Valois (Frankreich). Aus Angst vor einer katholischen Dominanz über ganz Europa unter Karl V. und seinem Sohn Philipp II. verbündeten sich deutsche Fürsten lieber mit den Türken als mit den spanischen Habsburgern.

Noch um 1700 war Edo (das spätere Tokio) doppelt so groß wie London

Die Gelehrsamkeit Europas erschöpfte sich in dieser Zeit in theologischen Disputen, während sich in der islamischen Welt eine literarische und wissenschaftliche Hochkultur herausbildete, die nur von der chinesischen übertroffen wurde. Mit der Ablösung der Ming- durch die Qing-Dynastie (1664) entstand in China nicht nur ein starker Staat mit einer gelehrten Beamtenschaft, sondern auch eine „entwickelte Merkantilwirtschaft", ein riesiger Binnenmarkt sowie ein Außenhandel, der „ebenso groß war wie der Europas". Zwar blieben auch in China einzelne Regionen vom „Wirtschaftswunder" abgehängt - wie in Europa Süditalien, Portugal, Schottland -, aber insgesamt hielt das Reich das Entwicklungstempo des Westens. Das gilt auch für Japan, obwohl es sich noch stärker abschottete als China. Japan produzierte um 1600 zwei Drittel des Silbers und baute das Handelsvolumen mit China ständig aus. Um diese Zeit war Edo (das spätere Tokio) die einzige Millionenstadt in der Welt und noch 100 Jahre später doppelt so groß wie London.

Territorial gesehen war Rußland der Gewinner der europäischen Expansion nach Osten. Während portugiesische, englische und holländische Seefahrer China und Japan nur an den Küsten anknabberten und bescheidene Handelsstützpunkte gründeten, vergrößerten die Zaren ihr Reich nach Osten gewaltig. Um 1600 umfaßte es 1,5 Millionen Quadratkilometer, hundert Jahre später knapp das Vierfache. Gleichzeitig geriet das osmanische Reich ins Hintertreffen und verlor nach und nach seine europäischen Territorien.

Erst das, was John Darwin die „Eurasische Revolution" nennt, zerstörte zwischen 1750 und 1840 das Gleichgewicht zwischen den Kulturen des Ostens und des Westens und schuf die Grundlagen für die euro-atlantische Vormacht Großbritanniens bis 1914 und der USA nach 1945. Der Osten wurde abhängig vom Import westlicher Industrieprodukte und Technologien oder er stagnierte und verarmte. Das Zusammenspiel von industrieller Revolution, Eisenbahnboom und Waffenproduktion wurde von politisch-kulturellen und wissenschaftlichen Revolutionen begleitet. Die Kriege zwischen 1792 und 1815 behinderten diese Entwicklung zwar, aber danach förderten die fünf europäischen Großmächte den Ausbau ihrer Wirtschaft und ihrer Infrastruktur treibhausartig bis zum Ersten Weltkrieg.

John Darwin skizziert die Entwicklung der konkurrierenden Reiche bis zum Kalten Krieg und dessen Überwindung mit souveränen Strichen und stupender Materialkenntnis, die hier nur fragmentarisch vermittelt werden kann. Ein beeindruckendes und lehrreiches Buch.

John Darwin:
Der imperiale Traum

Der imperiale Traum. A. d. Engl., v. M. Bayer und N. Juraschitz.
Campus Verlag 2010, 534 Seiten,
49,90 Euro.

Frankfurter Rundschau - 18.8.10

Der Verlag könnte den Verkauf fördern:
Ein äußerst gewichtiges Werk, wie der Rezensent deutlich macht. Man sollte es sogleich lesen. Ob das Warten auf eine kostengünstigere TB-Ausgabe Aussicht auf Erfolg hat? Leider ist auch das E-Book nur ein paar Euro günstiger zu haben.
Dem Verlag möchte  man etwas mehr Mut wünschen...