Die erste Ich-Erzählerin
Reinhard Kaiser übertrug die „Lebensbeschreibung der Erzbetrügerin und Landstörzerin Courage”

Interview: Claus-Jürgen Göpfert

Herr Kaiser, was ist das für eine Frau, die Courage?

Mir scheint, sie ist die stärkste Frau der deutschen Literatur.

Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen läßt zum ersten Mal in der deutschen Literatur eine Frau erzählen.

Ja, vermutlich ist Courage die erste Ich-Erzählerin der deutschen Literatur. Grimmelshausen hat für diesen Roman eine Maske angelegt. Der Autor, den die Titelseite des Originalbuchs nennt, heißt Philarchus Grossus von Trommenheim. Diesem Mann, so die Erzählfiktion, hat die Courage ihre Lebensbeschreibung von der ersten bis zur letzten Seite „in die Feder diktiert". Philarchus wird dann auch als Autor des folgenden Buches, des „Seltsamen Springinsfeld", genannt. Dort ist nun er der Ich-Erzähler und wird dabei selbst Figur in seiner Erzählung. So berichtet er auch, wie es dazu kam, daß die Courage ihm ihre Geschichte preisgegeben hat: Um sich an Simplicissimus zu rächen, der sich in seinem eigenen Buch so despektierlich über sie geäußert hat.

War Grimmelshausen denn ein literarischer Vorläufer der Frauenbewegung?

Das wohl nicht. An manchen Stellen äußert er sich sogar ziemlich feindlich oder herablassend über Frauen und bleibt dabei im Rahmen der konventionellen Vorurteile seiner Zeit. Trotzdem: Er interessiert sich ganz offensichtlich dafür, wie Frauen „funktionieren". Einen wichtigen Platz in seiner Gedankenwelt nimmt das Motiv der Verkehrten Welt ein - einer Welt, in der die gewohnten Verhältnisse ins Kippen geraten. Plötzlich sind es nicht mehr die Metzger, die die Rinder schlachten, sondern die Rinder schlachten die Metzger. So wird auch eine Welt vorstellbar und erzählbar, in der eine Frau ihre Unabhängigkeit über alles stellt, sich von den Männern nichts mehr vorschreiben läßt, in der sie es mit den Männern aufnimmt. In einer Szene schlägt die Courage einem Gegner im vollen Galopp den Kopf ab. In einer anderen schließt sie mit einem Mann einen Ehevertrag, der ihr all die Vorrechte sichern soll, die sonst die Männer für sich in Anspruch nehmen.

Für die damalige Zeit eine Utopie?

Ja. Ein Gegenbild ohne Platz in der Wirklichkeit. Das steht auch auf der Titelei des Courage-Romans: Gedruckt in Utopien. Grimmelshausen läßt sich auf ein literarisches Experiment ein: Was geschieht, wenn eine Frau inmitten der Welt des Dreißigjährigen Krieges, in der es ja ohnehin drüber und drunter ging, auf ihrer Selbstständigkeit besteht? Mir scheint, die Figur der Courage ist Grimmelshausen beim Schreiben dann - gleichsam gegen die eigenen, seiner Zeit stärker verhafteten Überzeugungen - nach allen Seiten über das hinausgewachsen, war er beabsichtigt hat. Sie hat sich, könnte man vielleicht sagen, als literarische Figur auch gegenüber ihrem Erfinder selbstständig gemacht und angefangen, ihr eigenes Leben zu leben - auf dem Papier. Und Grimmelshausen hat es zugelassen. Darin besteht in diesem Fall vielleicht seine große Leistung.

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Reinhard Kaiser vor den geliebten Büchern in seinem Haus in Seckbach. Bild: Andreas Arnold« (rechts)

Wie sind Sie Grimmelshausen begegnet?

Bis auf eine kurze, oberflächliche Begegnung während des Germanistikstudiums eigentlich erst vor vier Jahren, als ich angefangen habe, ihn zu übersetzen.

Aber jetzt hat es Sie gepackt?

Ja, die Idee, aus dem Deutschen ins Deutsche zu übersetzen, hat mich von Anfang an fasziniert. Bis dahin hatte ich ja nur aus dem Englischen und gelegentlich aus dem Französischen übersetzt. Aber wie sich herausstellt, ist das Übersetzen aus dem Deutschen ins Deutsche in mancher Hinsicht schwieriger - dadurch aber auch noch interessanter.

Was ist das Schwierige bei der Übertragung aus dem alten Deutsch?

Es ist komplizierter, weil - anders als bei einer anderen Fremdsprache - nicht alles übersetzt werden muß. Bei meiner Übersetzung aus dem Englischen muß jedes englische Wort in ein deutsches verwandelt werden. Beim Deutschen des 17. Jahrhunderts liegt der Fall anders: Manche Wörter können stehenbleiben, weil sich ihre Bedeutung nicht verändert hat. Andere Wörter kennen wir gar nicht mehr. Und wider andere haben ihre Bedeutung mehr oder minder stark verschoben, ohne daß man es ihnen ohne weiteres ansieht. Wer sich bei Grimmelshausen um sein „Gewehr" kümmert, dem geht es nicht um die langläufige Schußwaffe, die wir bei diesem Wort vor uns sehen, sondern um seine Rüstung oder Ausrüstung als Ganzes.

ZUR PERSON

Reinhard Kaiser lebt im Frankfurter Stadtteil Seckbach. Der 60-Jährige arbeitete als Lektor und Übersetzer, bis er 1989 sein erstes eigenes Buch vorlegte, die Satire „Der Zaun am Ende der Welt". Bekannt geworden sind auch „Der kalte Sommer des Doktor Polidori", „Eos Gelüst" und „Königskinder".

Den „Simplicissimus" von Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen übertrug er 2009 ins moderne Deutsch. Jetzt folgt als zweiter Teil die „Lebensbeschreibung der Erzbetrügerin und Landstörzerin Courage".

Frankfurter Rundschau - 16.8.10 - mit freundlicher Erlaubnis der FR