Märchen aus alten Zeiten
Ein hartnäckiges Gerücht bis heute: Die Nazis und Heinrich Heines “Loreley”

Von Niels Kaiser

Die Nazis mochten Heinrich Heine nicht, aber sie mochten seine „Loreley". In Schul- und Gesangsbüchern anonymisierten sie deshalb das beliebte Gedicht. Bereits 1935 berichtete der Literaturwissenschaftler Walter Berendsohn in seiner im dänischen Exil entstandenen Heine-Studie: „Die Loreley wird weiter abgedruckt und gesungen, aber darunter steht: „Verfasser unbekannt".

Diese Geschichte gehört zum festen Repertoire der Heine-Rezeption. Aber die schöne Geschichte hat einen Haken: Kein einziges Druckwerk mit dem „Verfasser unbekannt"-Vermerk läßt sich heute mehr finden. „Seit mindestens 20 Jahren suchen wir danach", sagt Bernd Kortländer vom Heine-Institut in Düsseldorf und kommt zu dem ernüchternden Ergebnis: „Es handelt sich um ein Gerücht."

Die Geschichte von den Nazis, die auf ein als urdeutsch empfundenes Gedicht nicht verzichten wollten, auch wenn es aus der Feder eines als jüdisch und undeutsch diffamierten Autors stammte, und die deshalb auf einen lächerlichen und leicht zu durchschauenden Trick verfielen - ist diese Geschichte am Ende einfach viel zu schön, um wahr zu sein?

Die „Verfasser unbekannt"-Geschichte hält sich bis heute hartnäckig.

Ja, sagt Heiner Schumacher von der Universität in Frankfurt. Als Wirtschaftstheoretiker beschäftigt er sich mit den Prozessen, die eine falsche Information am Leben erhalten. Die „Verfasser unbekannt"-Geschichte ist für ihn ein Paradebeispiel für ein erfolgreiches Gerücht. Ein solches braucht eine gewisse Plausibilität - die ist vorhanden, hat es im Dritten Reich doch sogar Versuche gegeben, die Heine-Vertonungen Robert Schumanns durch Unterschieben eines neuen Textes „zu retten". Obendrein darf der Inhalt des Gerüchtes nicht zu wichtig sein: Ein erfolgreiches Gerücht taugt nicht zur Schlagzeile. Des Weiteren bedarf es eines Superspreaders - das ist jemand, der ein Gerücht kraft seiner Autorität in die Welt setzt - und eines Netzwerkes, in dem sich das Gerücht verbreiten kann.Märchen aus alten Zeiten - 220px-Emil_Krupa-Krupinski_Loreley_1899

Der Superspreader ist in Walter Berendsohn zu sehen. Der kann im dänischen Exil allerdings gar nicht wissen, ob seine Informationen über den Umgang der Nazis mit Heine auf Tatsachen beruhen. Berendsohn ist auch nicht etwa der Urheber des Gerüchtes. Der ist - für ein gutes Gerücht gehört sich das so - nicht mehr zu ermitteln. Die Buchhistorikerin Brit Hopmann von der Universität Leiden hat die Spuren zurückverfolgt. Als früheste Meldung fand sie die Pressenotiz einer Exilantenzeitung, die Ende 1934 von einem bayerischen Lesebuch spricht, in dem die „Loreley" mit dem Zusatz „Verfasser unbekannt" abgedruckt sei (also nur ein einziges Buch und noch dazu eines mit lokal begrenztem Wirkungsbereich).

Das Netzwerk, das schließlich für die nötige Verbreitung des einmal gestreuten Gerüchtes sorgte, bilden die im Prager und Pariser Exil   versammelten   deutschen Schriftsteller von Heinrich Mann bis Oskar Maria Graf, für die Heine eine verbindende Identifikationsfigur darstellt und die die Geschichte nur allzu gerne glauben. Heinrich Mann schreibt: „Heine hat uns im voraus gerächt, da er das Meiste, was über das Land in seinem jetzigen Zustand zu sagen ist, schon damals gesagt hat - in einer Sprache, wir hätten keine zeitgemäßere".

Für den Gerüchteforscher Heiner Schumacher ist es eine ausgemachte Sache, daß sich eine als positiv empfundene Information in einem solchen Umfeld schnell verbreiten kann und dann auch nicht mehr angezweifelt wird. Das Gerücht hat eine soziale Funktion. „Ich fühle mich dann mit dem verbunden, der mir das weitergesagt hat oder dem ich das mitteile. Insofern werden hauptsächlich Dinge kommuniziert, die uns beide irgendwie verbinden". Der Wahrheitsgehalt des Gerüchtes ist für die exilierten Schriftsteller gar nicht nachprüfbar.

Auch die ausländische Presse greift das Thema in Artikeln auf. Die englische Morning Post schlägt vor, man solle doch künftig gleich Adolf Hitler als den Dichter der „Loreley" ausgeben. Spätestens jetzt ist die Geschichte in der Welt. Das bleibt auch nach dem Krieg so.

Ein Buch mit einem Beleg für den falschen Hinweis ist bisher nicht aufgetaucht

In den zahlreichen Schriften der Heine-Gedenkjahre 1947 und 1956 taucht sie auf, in nahezu jeder Heine-Gesamtausgabe, ebenso in Adornos wirkmächtigem Aufsatz „Die Wunde Heine". Die Geschichte wird zu einer Art Gründungsmythos der Heine-Rezeption in der noch jungen Bundesrepublik.

Daß sie auch nach dem Weltkrieg immer noch so gerne und dazu so oft erzählt wird, hat für Bernd Kortländer vom Heine-Institut jetzt eine neue soziale Funktion: Die Erzählung macht denjenigen, der sie vorträgt, noch nachträglich zum Widerstandskämpfer. „Er kann sagen: Ich konnte den Trick der Nazis durchschauen, weil ich Heine kannte. Es gibt also eine Entlastungsfunktion von der Schuld, daß man sich nicht intensiv mit Heine beschäftigt hat."

Was aber ist mit all den Menschen, die sich noch daran erinnern können, den „Verfasser unbekannt"-Verweis während der Nazizeit in ihren Schulbüchern gesehen zu haben? Aus Sicht der Gerüchteforschung ist das ein leicht zu fassendes psychologisches Phänomen: Der Glaube an ein Gerücht beeinflußt auch die eigene Erinnerung, erst recht, wenn diese sich über größere Zeiträume erstreckt.

Im Heine-Institut in Düsseldorf tauchen immer wieder Besucher auf, die sich genau „erinnern" können. Bernd Kortländer bittet dann um Belege oder Kopien, doch bis auf den heutigen Tag sind keine bei ihm eingetroffen. Trotz fehlenden Nachweises wird sich die schöne Geschichte aber wohl nicht so bald aus der Welt schaffen lassen. Schließlich bleibt da ein gewichtiges Problem: Der Gegenbeweis, daß es nie ein Buch mit dem „Verfasser unbekannt"-Vermerk gegeben hat, ist methodologisch ganz und gar unmöglich.

Frankfurter Rundschau - 1.8.10

Wer kannte es nicht, dieses Gerücht? Und nun diese Aufklärung. Lesenswert.
Wissenswert!