Deutschland wurde von hinten und vorn betrogen
Aus Korrespondenzen von Friedrich Engels für den englischen »Northern Star«

15. Oktober 1845:

»So war der Zustand Deutschlands gegen Ende des vorigen Jahrhunderts: Das ganze Land war eine lebende Masse von Fäulnis und abstoßendem Verfall. Niemand fühlte sich wohl. Das Gewerbe, der Handel, die Industrie und die Landwirtschaft des Landes waren fast auf ein Nichts herabgesunken; die Bauernschaft, die Gewerbetreibenden und Fabrikanten litten unter dem doppelten Druck einer blutsaugenden Regierung und schlechter Geschäfte ... Alles war verkehrt, und ein allgemeines Unbehagen herrschte im ganzen Lande. Keine Bildung, keine Mittel, um auf das Bewußtsein der Massen zu wirken, keine freie Presse, kein Gemeingeist, nicht einmal ein ausgedehnter Handel mit anderen Ländern - nichts als Gemeinheit und Selbstsucht - ein gemeiner, kriechender, elender Krämergeist durchdrang das ganze Volk. Alles war überlebt, bröckelte ab, ging rasch dem Ruin entgegen, und es gab nicht einmal die leiseste Hoffnung auf eine vorteilhafte Änderung; die Nation hatte nicht einmal genügend Kraft, um die modernden LaichFriedrich Engelsname toter Institutionen hinwegzuräumen.«

8. November 1845:

»Die deutschen Staaten, die an nichts anderes als an ihr liebes Legitimitätsprinzip dachten, wurden noch einmal übers Ohr gehauen und verloren durch den Frieden (Wiener Kongreß) alles, was sie durch den Krieg gewonnen hatten. Deutschland blieb in 38 Staaten zersplittert, eine Aufteilung, die jeden inneren Fortschritt hinderte und bewirkte, daß Frankreich ihm mehr als gewachsen ist; die deutschen Staaten blieben der beste Markt für die englischen Waren und dienten nur der Bereicherung des englischen Bürgertums. Diese Klasse des englischen Volkes hat es leicht, sich einer Freigebigkeit zu rühmen, die sie veranlaßte, enorme Summen zu schicken, um den Krieg gegen Napoleon in Gang zu halten; aber... sie hatten nur die Absicht, durch ihre Freigebigkeit die kontinentalen Märkte wieder zu öffnen; und das taten sie mit solchem Erfolg, daß die Profite, die sie seit dem Frieden allein aus Deutschland bezogen, hinreichen würden, um jene Summen wenigstens sechsmal zu ersetzen ...

Nach dem Sturz Napoleons verlebte der König von Preußen einige seiner glücklichsten Jahre. Er war zwar von hinten und vorne betrogen worden. England hatte ihn betrogen, Frankreich hatte ihn betrogen, seine eigenen teuren Freunde, der Kaiser von Österreich und der Kaiser von Rußland, betrogen ihn immer und immer wieder; aber in der Fülle seines Herzens bemerkte er das nicht einmal - er konnte sich nicht die Möglichkeit vorstellen, daß es in der Welt irgendwo solche Schufte gäbe, die Friedrich Wilhelm III., »den Gerechten«, betrügen könnten.

Er war glücklich. Napoleon war gestürzt. Er hatte keine Furcht. Er bestand auf Artikel 13 der Deutschen Bundesakte, der eine Verfassung für jeden Staat versprach. Er bestand auf dem andern Artikel über die Freiheit der Presse. Ja, am 22. Mai 1815 erließ er sogar eine Proklamation, die mit den Worten begann - Worten, in denen sein huldvolles Glücksgefühl wunderbar vermischt war mit seiner feldwebelhaften Anmaßung: »Es soll eine Repräsentation des Volks gebildet werden!« Sein nächster Schritt war der Befehl, eine Kommission zu ernennen, die eine Verfassung für sein Volk ausarbeiten sollte; und selbst 1819, als revolutionäre Symptome in Preußen auftraten, als die Reaktion in ganz Europa am meisten grassierte und als die glorreiche Frucht der Kongresse ihre höchste Reife erreichte, selbst damals erklärte er, in Zukunft solle keine öffentliche Anleihe aufgelegt werden ohne die Zustimmung der künftigen Repräsentativversammlungen des Königreichs.

Leider war diese glückliche Zeit nicht von Dauer! Im Gemüt des Königs wich die Furcht vor Napoleon nur zu bald der Furcht vor der Revolution.«

20. Februar 1846:

»Von 1834 bis 1840 starb in Deutschland jede öffentliche Bewegung aus. Die Agitatoren von 1830 und 1834 waren entweder im Gefängnis oder verstreut im Ausland, wohin sie geflohen waren. Der Kampf gegen den immer strenger werdenden Zensor und die wachsende Nachlässigkeit und Gleichgültigkeit der bürgerlichen Klassen wurde von jenen fortgesetzt, die viel von ihrer bürgerlichen Furchtsamkeit während der Zeit der Agitation behalten hatten. Die Führer der Parlamentsopposition hielten weiter ihre Reden in den Kammern, aber die Regierungen fanden Mittel und Wege, um sich die Stimmen der Mehrheiten zu sichern. Es bot sich keine weitere Gelegenheit, irgendwelche wie immer geartete öffentliche Bewegung in Deutschland zustande zu bringen; die Regierungen handelten in allen Stücken nach ihrem Gutdünken.«

Aus:
Deutsche Geschichte - Europa und die Welt - 1.2009

Friedrich Wilhelm III., König von Preußen, 1815:
Eine wichtige Proklamation!