Der klassische Morast

Der klassische Morast
Die Legende von der Geburt Deutschlands hat eine lange Karriere

Von Christian Thomas

Der Satz vom „Tag, an dem Deutschland entstand", ist zuletzt sehr gerne aufgegriffen worden, urpünktlich zum Jubiläum. Von einem Buchumschlag ging der Satz schlagzeilenartig aus. Er war dem Autor Tillmann Bendikowski aber wohl irgendwie peinlich, er relativierte ihn rasch, dazu war bereits das Vorwort da. Die Schlagzeile war aber nicht peinlich genug, um vom „Spiegel" Anno Domini 2008 aufgegriffen zu werden: „Die Geburt der Deutschen".

Man könnte sich lustig machen, könnte sagen: Die Geburt so zu sehen, hat Tradition - jedenfalls diese Herkunftslegende. Sie geht zurück auf das 19. Jahrhundert; sie gründet im deutschen Humanismus; sie wurzelt in den Schriften des Tacitus (um 56 bis etwa 120 n. Chr.); so entspann sich über Jahrhunderte ein ungeheueres Dickicht an Legenden und Herkunftsmythen.

Kein Werk hat „das deutsche Nationalbewusstsein und den deutschen Nationalismus intensiver beeinflusst" als die „Germania" des Tacitus, schrieb vor Jahren der Historiker Manfred Fuhrmann in einem Nachwort zu einem Reclam-Bändchen. Mit dem Aufspüren der Tacitusschriften durch Handschriftenräuber, die der Papst über die Alpen geschickt hatte, mit der Wiederentdeckung der „Germania" 1455 im Hersfelder Kloster, der „Annalen" 1505 im Kloster Corvey, setzte eine so intensive wie tendenziöse Lektüre ein. Hauptvertreter des deutschen Humanismus, Ulrich von Hutten, Philipp Melanchthon, nutzten ihren Tacitus, um Germania gegen Rom auszuspielen. Die „humanistische Optik" (Manfred Fuhrmann) verfuhr mit Tacitus wenig zimperlich und verschaffte den Deutschen eine Herkunft und zeitlose Charaktereigenschaften. Der protestantische Humanismus war es, der in den Deutschen die Abkömmlinge des Arminius sah und den Tugendkatalog des Tacitus, mit all seinen Zuspitzungen, übernahm: Glaubensstärke, Gewissenstreue, Prinzipienfestigkeit, Freiheitsliebe.

Während des Humanismus wurden die Tacitus-Schriften instrumentalisiertterra incognita002

Die tendenziöse Tacitusrezeption wäre einer selbstsicheren Nation erspart geblieben. Zum „Arminius-Komplex", von dem mancher Historiker spricht, kam es wegen der Komplexe, die bereits Sprecher des deutschen Humanismus gegenüber dem Rom der Päpste entwickelt hatten, schließlich auch der Chauvinismus des 19. Jahrhunderts, sobald er nach Frankreich sah. Zur Indienstnahme der Tendenzgeschichtsschreibung des Tacitus gehörte, dass er seinem (angeblich dekadent gewordenen) Rom die Leviten las, und den Deutschen neben der Todesverachtung ins Stammbuch geschrieben hatte, dass sie sich nicht mit anderen Stämmen vermischten. Das wurde eines Tages für den Rassenwahn ein Stichwort.

Kultiviert wurden mit diesen Klischees vermeintlich ewig gültige Charaktereigenschaften, die aus einer angeblich germanischen Antike hervorgegangen seien. Zur Wirkungsgeschichte der Herkunftslegende gehört, dass Mitte des 16. Jahrhunderts die „Geburtsstunde der Deutschen" ausgebrütet war.

Gehört Arminius zu unserer Geschichte? Ja, wegen seiner fatalen Wirkungsgeschichte

Mit der Fiktion deutscher Humanisten, der Martin Luther sekundierte, indem er aus Arminius den Hermann machte, aus dem „dux belli" den Heer-Mann, tat sich eine „verheerende Rezeption" (Peter Arens) auf, die über den Barock und die Klassik bis in die Romantik tradiert wurde, über Daniel Caspar von Lohenstein und dutzende Opern, über den Osnabrücker Justus Moser und den Hamburger Klopstock, über Herder und Fichte an den Chauvinismus vermacht wurde, und nicht zuletzt in Heinrich von Kleists „Die Hermannsschlacht" aufging. Zum Fürchten war das Stück, wie auch in Bochum zu erleben, 1982, in Claus Peymanns Inszenierung.

Heinrich Heine war es, der in seinem „Deutschland, ein Wintermärchen" über den „klassischen Morast" höhnte, in dem die Varusschlacht ausgefochten worden sei. Ergänzend darf man sagen: Der klassische Morast, das war die germanophile Instrumentalisierung der Tacitusschriften, das waren die ideologisch motivierten Nachhutgefechte aus der Tacitustradition. Über Jahrhunderte wurde alles daran gesetzt, einen Gegenstand aus seinem historischen Kontext herauszureißen, so dass ausgerechnet der Cheruskerfürst Arminius, ob von patriotischer oder nationalromantischer Seite, in der Tat entwurzelt wurde.

„Gehört Arminius / Hermann zu unserer Geschichte", fragt Ralf-Peter Märtin in seinem Buch. Ja, so möchte man kurz und bündig antworten: wegen der Wirkungsgeschichte dieser Herkunftslegende. Es gibt kaum ein Klischee, das von derartiger Kontinuität war wie die germanophile Tacitusrezeption. Und innerhalb der konservativen Wirkungsgeschichte gab es keinen wirklichen Widerpart, wenn ein elitärer Snobismus in der gescheiterten Romanisierung Germaniens durch Rom eine „Urkatastrophe" auszumachen glaubte. Vor allem aber lebte sich ein Kult aus, der nicht nur von einem Denkmalerbauer bei Detmold betrieben wurde, sondern im Land der Arminius-Dichter und Anti-Rom-Denker von den Nazis nur noch zugespitzt werden musste.

Deren bedingungslose Kapitulation hat auch vom Germanenkult kuriert, zur abgekühlten Neuorientierung nach 1945 gehört das, was Arens als „modernes Unbehagen am Germanischen" bezeichnet. Von Arens stammt auch die Pointierung, der Cherusker sei entnazifiziert, mittlerweile kämpfe er gegen das Vergessen.

Um in diesem Kampf eine Chance zu haben, wird man sich im Jubiläumsjahr auch an die Klischees erinnern müssen, die ihm zugeschrieben, angedichtet, in Schlagzeilen nachgerufen wurden, wie dann zuletzt nicht nur im „Spiegel". Ist es doch kein anderer Ort, an dem vom „Urknall" der deutschen Geschichte geraunt wird, als das Deutsche Historische Museum.

Frankfurter Rundschau - 3.1.09 - mit freundlicher Erlaubnis der FR