Verbrechen von tausend Jahren
Lilian und Desider Fursts zweistimmige Autobiographie "Daheim ist anderswo"

Von Renate Wiggershaus

Am 12. März 1938 schien in Wien die Sonne, und der Himmel strahlte in intensivem Blau. Aus dem Fenster der elterlichen Wohnung im 4. Stock in der Maria-Theresien-Straße lehnte sich die sechsjährige Lilian R. Furst, um zu sehen, was am Ende der Straße los war. Sie hörte Marschmusik und frenetisches Jubelgeschrei, sah Wagenkolonnen und marschierende Soldaten. Im Haus war es totenstill; weder Kindermädchen noch Eltern achteten auf sie. Ein Gefühl durchdringender Trauer ergriff sie. An diesem Tg ging ihre geborgene und sorglose Kindheit zu Ende.

Deutsche Truppen waren in Österreich einmarschiert, wo 200.000 Juden lebten, davon 175.000 in Wien. Drei Tage später verkündete Hitler auf dem Wiener Heldenplatz den "Anschluß" Österreichs ans Deutsche Reich. Jüdische Geschäfte wurden geplündert, jüdische Einwohner gedemütigt und mißhandelt - eine Art Generalprobe für die Novemberpogrome in Deutschland. Jahrzehnte später verfaßten Tochter und Vater, Lilian und Desider Furst, eine "zweistimmige" Autobiographie. Im Mittelpunkt stehen die Flucht aus Wien und die Stationen auf dem verzweifelten Weg in eine neue Heimat in Manchester - geschildert zum einen, so Lilian Furst, aus der "historisch ausgerichteten Perspektive eines gebildeten Erwachsenen", zum anderen aus der "eines zwischen Furcht und Hoffnung hin- und hergerissenen Kindes".

Der Vater, Desider Furst, war 1919 aus Ungarn wegen des dortigen Numerus clausus für jüdische Studenten zum Medizinstudium nach Wien gekommen. Nach der Promotion durfte er nicht praktizieren, weil er durch das im Friedensvertrag von Versailles festgelegte Ende der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie in Österreich zum Ausländer geworden war. So schloß er ein Studium der Zahnmedizin an und bemühte sich um Einbürgerung. In der Zahnklinik lernte er die dort tätige Sarah Neufeld kennen. Ihre Familie war 1914 vor dem Einmarsch der russischen Armee aus Galizien nach Wien geflohen. Als polnische Staatsangehörige durfte auch sie nach einem glanzvoll abgeschlossenen Medizinstudium nicht als Ärztin praktizieren und hoffte, mit einem Zusatzstudium der Zahnmedizin weiterzukommen. 1928 heirateten die beiden, wurden sie österreichische Staatsbürger und eröffneten eine Zahnarzt-Doppelpraxis. Sie verhalf ihnen zu Wohlstand. Als 1931 die Tochter Lilian zur Welt kam, konnten die Eltern ohne weiteres ein Kindermädchen engagieren.

1938 dann der Bruch. Juden wurde der Besuch von Oper, Theater, Kaffeehaus, Museum usw. verboten. Die kleine Lilian durfte nicht mehr die Volksschule besuchen, sondern mußte in die weit entfernte jüdische Schule gehen. Mit dem Berufsverbot für Juden im September 1938 wurde den Fursts die materielle Lebensgrundlage entzogen. Der Versuch auszuwandern wurde auf vielfältige Weise torpediert. Um einen neuen Paß zu bekommen - der alte war durch den "Anschluß" ungültig geworden - mußten Nachweise vorgelegt werden, daß Miete, Gas, Steuern usw. bezahlt waren. Nach einem Monat waren die nur mühsam zu erlangenden Belege schon wieder ungültig. So sehr sich die Fursts auch bemühten, kein Land wollte sie aufnehmen. Inhaftierungen, Deportationen, Mißhandlungen, Selbsttötungen nahmen täglich zu. Als sie hörten, daß Großbritannien bereit war, vierzig Zahnärzte aufzunehmen, bewarben sie sich und verließen Wien zwei Tage vor Weihnachten.

Den drei Flüchtenden -Vater, Mutter und Tochter - stand eine leid- und entsagungsvolle Odyssee bevor. In Köln nahm sie kein Hotel auf. In Aachen war der einzige jüdische Gasthof überfüllt. Überall Strohsäcke und Menschen, die die Hoffnung nicht aufgaben, illegal über die Grenze zu entkommen. Wie alle folgten auch die Fursts jedem Tipp zur Flucht - oft von Betrügern genarrt. Schließlich fanden sie jemanden, der sie in einer eisigen Schneenacht durch die Eifel über die belgische Grenze, und einen weiteren, der sie nach Brüssel brachte. Dort blieben sie zwei Monate, hungernd, frierend, immer in der Angst, verhaftet zu werden. Bis sie die Nachricht erreichte, Desider Furst sei als Zahnarzt in England willkommen.

Glücklich in London angekommen, ergaben sich neue Hindernisse: Der ausgebildete Zahnarzt mußte ein weiteres halbjähriges Medizinstudium absolvieren. Von ihrem letzten Geld kauften die Eltern danach eine Zahnarztpraxis. Doch noch bevor Desider Furst mit der Arbeit beginnen konnte, wurde er mit 1200 anderen Emigranten auf der Insel Man interniert. Kaum war er wieder entlassen, begannen die deutschen Bombardements auf London. So unauslöschlich wie einst der Einmarsch deutscher Truppen in Wien gruben sich der zehnjährigen Lilian die Londoner Bombennächte von 1940/41 ins Gedächtnis: der Lärm der Flakgeschütze und Flugzeugmotoren, das Bild der in Luftschutzkellern und U-Bahn-Schächten dicht gedrängten Menschen, die sofort weiter zusammenrückten, wenn sie und ihre Eltern, aus brennenden Straßen fliehend, dazukamen.

Die Briten - Lilian und Desider Furst betonen es immer wieder - behandelten sie wie ihresgleichen. Trotz bitterer Armut im Land erhielten sie nach dem Krieg die gleichen Rationen an Lebensmitteln wie die Einheimischen. "Sie gaben uns Lebensmut und neue Heimat." Nach Österreich, wo sie "unvorstellbar gedemütigt", aller "Menschen- und Bürgerrechte beraubt und zu obdachlosem Abschaum erklärt worden waren", kehrten sie nie mehr zurück. Es gelang ihnen, in Manchester eine erfolgreiche Zahnarztpraxis aufzumachen.

Nach dem Tod der Mutter 1969 gingen Vater und Tochter in die USA. Lilian Furst, die in Manchester Literaturwissenschaft studiert und gelehrt hatte, war von mehreren Universitäten eingeladen worden, Komparatistik zu unterrichten. Nach dem Tod des Vaters 1985 kaufte sie sich ein kleines Haus in Chapel Hill in North Carolina. Verwurzelt aber fühle sie sich nirgendwo, beschließtVerbrechen von tausend Jahren sie das Buch. "Nur die Wurzeln, die das Brandmal des roten ,J´ getrieben hat, reichen tief in mein Sein." Es ist ein Sein, das auch dem, der Kenntnis von vielen "jüdischen Schicksalen" hat, ein weiteres Mal bewußt macht, daß zwölf Jahre des "tausendjährigen" Deutschen Reichs ausreichten, "die Verbrechen von tausend Jahren" (Alfred Kantorowicz) anzurichten.

Frankfurter Rundschau - 9.1.10