Das Deutsche Reich
Sprunghaftes industrielles Wachstum

Preußen erreicht Anfang 1871 mit dem Sieg über Frankreich einen Höhepunkt. Der Chronist hält dieses historische Ereignis mit „Allerhöchster Genehmigung Seiner Majestät des Kaisers und Königs Wilhelm II.' mit folgenden Worten fest: „Der lange gehegte Traum des deutschen Volkes war zur Wahrheit geworden, die Frucht war gereift, welche die unruhige Bewegung früherer Jahre vorzeitig zu pflücken versucht hatte. Am 18. Januar 1871 fand die feierliche Proklamierung des neuen Kaisers im Spiegelsaal des Schlosses zu Versailles statt, und somit war das deutsche Volk in eine neue Epoche seiner historischen Entwicklung getreten, die königlichen Hohenzollern hatten eine neue Aufgabe auf sich genommen, deren ganze Folgeweite sich damals noch nicht übersehen ließ..."

So war es.

Hochmut kommt vor dem Fall!


Im Spiegelsaal von Versailles wird am 18. Januar 1871 der Kaiser der Deutschen ausgerufen.

Die Gründung des Deutschen Reiches mit Kaiser Wilhelm I. als Repräsentanten bzw. Monarchen und Fürst Otto von Bismarck als Reichskanzler veränderte die nachfolgenden Jahre - sowohl wirtschaftlich als auch auf politischem Feld. Und auch unser Dorf gelangte in den Sog der allgemeinen Entwicklung. Hier nahm zunächst der „Drang" der Arbeit in den Fabriken zu.

Es gab nunmehr „allgemeine, gleiche und geheime Wahlen". Nur - Frauen erhielten kein Stimmrecht. Der Nimbus der Freiheitlichkeit litt an Einschränkungen. Denn der gewählte Reichstag besaß stark reduzierte Kompetenzen. Bismarck und sein staatlicher Apparat unterstanden direkt dem Kaiser.

Zunächst beschleunigte die Gründung des Deutschen Reiches die wirtschaftliche Entwicklung (Wegfall der vielen Schranken für Handel und Industrie, einheitliche Währung und Maße, fortschrittliche Gesetzgebung in der Wirtschaft u.a.m.). Es setzte ein sprunghafter Aufschwung der Wirtschaft ein. Er ging als „Gründerzeit" (1871 - 1873) in die Geschichte ein. Fabriken und andere industrielle Anlagen schossen wie Pilze aus dem Boden und auch das Eisenbahnnetz weitete sich aus. Banken sorgten für den Fluß des Kapitals. Nur wenige Zahlen sollen den Wachstumsprozeß verdeutlichen: 1885 gab es in Deutschland schon 252 Unternehmungen mit 448.731 Arbeitern. Das ist ein beachtlicher Sockel. Aber 1907 arbeiteten dann schon 954.654 Arbeiter in 506 Großbetrieben.

1871 lebten von den rd. 40,8 Millionen Einwohnern noch 63,9 Prozent auf dem Lande und nur 36,1 Prozent in der Stadt. 1910 ist das Verhältnis umgekehrt. Da wohnen nur noch 40 Prozent auf dem Land und 60 Prozent in der Stadt.

In unserem Dorf verändert sich die Bevölkerungsstruktur überdurchschnittlich. Im November 1875 sind von den 678 Steinbacher Einwohnern nur noch ein Drittel direkt in der Landwirtschaft tätig. Die anderen zwei Drittel teilten sich in Arbeiter bzw. Handwerker auf. Der wirtschaftliche Aufschwung schlug auch bei ihnen zu Buche. Harte Arbeit prägte aber nach wie vor das Leben der Steinbacher. Der Schankwirt vom Gasthaus „Zum Schwanen", Karl Höck, der zu dieser Zeit noch zusätzlich eine Specerei-Krämerei betrieb, machte abends nach Feierabend jedoch nicht selten gute Geschäfte.

1200 Jahre Steinbach: Maurerkolonne 1888

Steinbacher Maurerkolonnen. Dieses Bild entstand am 4. Juli 1888 bei einem Neubau in der Gartenstraße.

Und noch etwas ist in dieser Zeit bemerkenswert: ehemals kleine Betriebe entwickeln sich zu Monopolvereinigungen. Höchst, um im näheren Umfeld zu bleiben, wo auch Steinbacher Arbeit gefunden haben, „wurde aus der kleinen Fabrik", wie es stolz im „Blick auf Hoechst" hieß, „ein großes Unternehmen, das nicht nur im Inland expandierte, sondern auch die Märkte ferner Länder erschließt". Männer wie Krupp, Henkel, Hansemann u.a.m. sind die einflußreichen „Wirtschaftskapitäne".

Neu ist eine andere Tatsache: Nunmehr prägen Kapital und Arbeit als objektiver Gegensatz immer mehr Politik und Gesellschaft. Zusätzlich zu den vorhandenen kaisertreuen Verbänden und Parteien entstanden Organisationen der Arbeiterschaft - auch etwas später in unserem Dorf.Lang ist's her...

Die deutsche Sozialdemokratie bildete sich zum politischen Gegenpol des tonangebenden und führenden Bündnisses von Junkern (adlige Gutsbesitzer und Militärs) und reichem Bürgertum (Industrie und Banken) heraus. Nach anfänglicher Aufsplitterung in Lassallianer (ADAV) und Eisenacher (SDAP) gewann sie durch die Vereinigung dieser beiden Richtungen zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SDAP) 1875 an Schlagkraft.

Unter dem Sozialistengesetz

Bismarck verfolgte diese Entwicklung mißtrauisch und erließ dann im Oktober 1878 zur Einschränkung der Sozialdemokratie das „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie". Doch die Sozialdemokraten ließen sich nicht den Mund verbieten - auch nicht der Lehrer Ditter aus unserem Dorf. Er führte das Lehreramt nach dem Tode des Lehrers Heinrich Fischer im Jahre 1880 aus. Ditter machte aus seiner sozialdemokratischen Gesinnung keinen Hehl. Er unterstützte engagiert den Gastwirt und Spezereikrämer Franz Heck bei der Wahl zum Bürgermeister. Heck sympathisierte wiederum offen mit der Sozialdemokratie. Er findet zum anderen die Unterstützung eines am 9. April 1883 gegründeten „Wahlvereins" in Steinbach.

Die Rache folgte auf dem Fuße. Leonhard Ditter mußte 1884 das Dorf verlassen. Er verzog nach Siedelsbrunn im Odenwald. Der Bürgermeister aber blieb im Amt.

Natürlich erhitzte die Bismarck-Ära auch die Gemüter der Steinbacher am Stammtisch. Dafür sorgte schon bei selbstgebrautem Bier der Familie Bär ihr „eigener" Bismarck: nämlich Karl Wilhelm Beyer I. - seinerzeit stellvertretender Polizeidiener im Ort. Er war geradezu ein Bismarck-Fan. Und das „Eisener-Kanzler"-Wort: „Wir Deutschen fürchten Gott und sonst nichts auf der Erde!" klang in seinen Ohren wie Musik.

Klar - die Anhänger August Bebels huldigten trotz Sozialistengesetz ganz offen ihrem Vorbild. Denn Duckmäuser waren die Steinbacher zu keiner Zeit - auch wenn sie nicht immer ihre Meinung „offen zum Markt trugen". 1885 gründeten sie zunächst einmal den Turnverein „Vorwärts" - trotzig hieß ihr Motto: „Einigkeit macht stark!"

Am 14. November 1886 fand im Dorf sogar eine sozialdemokratische Versammlung statt. Das wird aus einem Brief des Polizeipräsidenten August von Hergenhahn an den „Großherzoglichen Kreisrat Herrn Dr. Braden in Friedberg" ersichtlich. Darin fordert er einen Bericht über eine sozialdemokratische Versammlung, die am Sonntag, dem 14. November, „in der zu Euer Hochwohlgeboren Verwaltungsbezirk gehörigen Ortschaft Steinbach" stattgefunden hat und in welcher der „bekannte sozialdemokratische Agitator Schankwirt Fleischmann als Redner aufgetreten sein soll".

Hoch schlugen die Wogen im Streit um das neue Krankenversicherungsgesetz - auch im Dorf - Mitte 1883. Vor allem die sozialdemokratisch ausgerichteten Arbeiter trauten Bismarck nicht über den Weg. Noch regierte er mit dem „Sozialistengesetz". Andererseits versprach das neue Gesetz eine gewisse soziale Verbesserung und Schutz im Krankheitsfall.

Klar - damit wollte Bismarck der jungen Sozialdemokratie den Wind aus den Segeln nehmen. Denn sie segelte trotz Verboten und Verfolgung im Aufwind - auch im Dorf. Frankfurt und Umgebung zeichnete sich durch eine gewisse sozialdemokratische Borstigkeit aus. Die Obrigkeit verhängte aus diesem Grund den „kleinen Belagerungszustand". Danach wurde „denjenigen Personen, welche ... auf Grund des § 28 des Gesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie vom 21. Oktober 1878 von dem Aufenthalt im Stadt- und Landkreis Frankfurt am Main, im Stadt- und Landkreis Hanau, im Kreise Höchst und im Obertaunus-Kreise ausgeschlossen waren, dieser Aufenthalt auch fernerhin bis zum 30. September versagt" werden - so eine Bekanntmachung des Königlichen Regierungspräsidenten von Wurm (Wiesbaden) im „Kreisblatt für den Obertaunus- Kreis". Der „kleine Belagerungszustand" endete erst Ende September 1890. Der „Taunusbote" vom 31. August 1890 berichtete: „Ausgewiesen wurden im Ganzen 21 Sozialdemokraten, von welchen sich eine ziemliche Anzahl in anderen Städten eine Existenz gründeten, einige suchten Amerika auf... Der kleine Belagerungszustand dauerte hier 4 Jahre".Wie die Zeiten sich ändern...

Die Anhänger der sozialdemokratischen Richtung durchlebten eine schlimme Zeit. Doch war der Vormarsch der neuen politischen Kraft nicht aufzuhalten. Die Polizei stellte in einem Bericht dazu nüchtern fest: „Die deutsche Sozialdemokratie schreitet fort und gewinnt nach den in den meisten Bezirken des Reichs gemachten Wahrnehmungen an Ausdehnung, ohne sich durch das Ausnahmegesetz aufhalten oder durch die bis jetzt in Angriff genommenen sozialpolitischen Reformen, deren Wohltaten in der kurzen Frist seit dem Bestehen des Kranken- und Unfallversicherungsgesetzes noch nicht Zeit gehabt haben, sich der großen Masse des Arbeiterstandes praktisch fühlbar zu machen, von ihren Zielen ablenken zu lassen".

Dieser Bericht widerspiegelte die politische Landschaft durchaus richtig. Das „Sozialistengesetz" wurde unter dem Druck der oppositionellen Kräfte und der Arbeiterschaft am 25. Januar 1890 aufgehoben. Nur einen Monat danach, nämlich am 20. Februar 1890, bewies die Sozialdemokratie bei den Wahlen zum Reichstag erneut ihre Kraft und Stärke. Sie erhielt 1.427.298 Stimmen. Das waren 19,7 Prozent der abgegebenen Stimmen. Dieser Tag war zugleich der Anfang vom Ende der Ära Bismarck. Der „Eiserne Kanzler" Fürst Otto von Bismarck stellte nach Querelen mit Wilhelm II. und hohen kaiserlichen Beamten sein Amt zur Verfügung. Der Vormarsch der Sozialdemokratie war nicht mehr zu stoppen. Die nachfolgende Tabelle gibt genauere Auskunft:

 

Wahltag

Zahl der

Sozialdemokratische Stimmen

 

Wähler in

 

 

 

1000

1000

Prozent

03.03.1871

3907

124,0

3,2

10.01.1874

5220

352,0

6,7

10.01.1877

5423

493,3

9,1

30.07.1878

5781

437,2

7,6

27.10.1881

5118

312,0

6,1

28.10.1884

5682

550,0

8,4

21.02.1887

7571

763,1

10,1

29.02.1890

7262

1427,3

19,7

15.06.1893

7702

1786,7

23,2

16.06.1898

7787

2107,1

27,1

16.06.1903

9534

3010,8

31,6

25.01.1907

11304

3259,0

28,8

12.01.1912

12261

4250,4

34,7

Den politischen Ton gaben aber die anderen Parteien an. Der Kurs in der großen Politik wurde durch das Bündnis von Hochadel/Industriellen/Bankiers bestimmt. Der Kaiser stand an der Spitze des Reiches. Doch besaß die SPD als stärkste Partei im Reich einen nicht unerheblichen Einfluß.

An der Schwelle des 20. Jahrhunderts

Das Leben im Dorf verlief in gewohnten Bahnen. Steinbach zählt im Dezember 1900 erst 749 Einwohner. Die soziale Struktur ist unverändert. Bürgermeister und zugleich Standesbeamter sowie Ortsgerichtsvorsteher war Carl Heinrich Heinrich. Seine Wohnung funktionierte je nach Bedarf als Wohnstube bzw. Amtsstube. Darin standen u.a. zwei große Aktenschränke und eine große eiserne Kiste mit Grundbüchern, Katasterauszügen, Personenstandsregistern usw.. Das Zimmer war mit Bildern der hessischen Großherzöge Ludwig und Ernst Ludwig geschmückt. Adolf Lorey erzählt über ihn: „Er war ein geistig sehr reger, kluger und viel belesener Mann und in seiner Grundeinstellung bäuerlich-konservativ. Seine Wahl wurde wohl von bäuerlichen Kreisen gestützt. Meines Wissens gehörte er keiner politischen Partei an und war Träger des Hessischen Kriegsverdienstkreuzes". Die Amtsstube befand sich immer noch in der Bornhohl 2.

Die Schule war ab 1. Mai 1881 zweiklassig. Der Unterricht fand in der Eschborner Straße 17 und im Rathaus statt. Lehrer waren zu dieser Zeit Krausmüller (1885 - 1919) und Christa Schäfer (1885 - 1919).

Damals, 1904, gab es als Lichtquelle nur die Petroleumslampe. Strom kam erst 1910 von den Mainkraftwerken in Höchst. Arzt und Apotheke befanden sich immer noch nur in Oberursel. Das Dorf besaß damals drei Bäcker - die Gebrüder Gissel - und den Krämerladen von Hill an der Ecke Marktplatz. Und nach wie vor sorgten im Dorf die Sportvereine „Vorwärts", der bald Mitglied im „Deutschen Arbeiter-Turnerbund" wurde, und die mehr bürgerlich-konservativ ausgerichtete „Turngesellschaft" für Abwechslung. Ende März 1901 feierte „Vorwärts" drei Tage lang sein Fahnenweihe- Fest. Noch immer prägte das Motto „Einigkeit macht stark!" das Vereinsleben und es prangte auch gestickt auf der Fahne. 972 Personen nahmen an diesem Fest teil. Das Motto „Einigkeit macht stark!" stand auch Pate bei der Verschmelzung der beiden Vereine zur „Freien Turnervereinigung Steinbach" im Gasthaus „Zum Darmstädter Hof.

1903

Lehrer Krausmüller 1903 im Hof des ersten Schulhauses. Ecke Eschborner Straße / Oberhöchstädter Straße. Es diente ihm gleichzeitig als Wohnung.

Sicherlich kam von hier die Anregung zur Gründung des Radfahrvereins „Wanderlust" am 18. Mai 1905 im Gasthaus „Zum Adler". Und auch die vier vorhandenen Männerchöre gaben sich eine organisatorische Grundlage im 1906 gegründeten „Sängerbund Teutonia".1200 Jahre Steinbach - Schulhaus

Aber nicht nur Sport und Geselligkeit waren Trumpf im Dorf. Nein - die generelle Aufbruchstimmung der Arbeiterbewegung im „Reich" schlug auch auf Steinbach durch und fand einen guten Resonanzboden. Damals, also um die Jahrhundertwende, verdienten sich nach wie vor gut zwei Drittel der Steinbacher ihr „Brot" als Arbeiter bzw. Handwerker - so gab es 1909 zum Beispiel im Dorf 60 gelernte Maurer und 47 Zimmerer. Die Bauarbeiter gründeten 1897 eine Zahlstelle zur besseren Durchsetzung ihrer Forderungen bzw. Interessen. Büro, Versammlungs- und Streiklokal war das „Cafe Heinrich" - heute Speiselokal „Stadt Steinbach" in der Bahnstraße.

Aber nicht nur die Bauarbeiter waren „organisiert". Auch die Metallarbeiter waren in ihrem Betrieb gewerkschaftlich verankert.

Zu dieser Zeit orientierten sich viele Steinbacher Bürger politisch an den Zielen der Sozialdemokratie - und das mehr oder weniger engagiert. Darum hatten manche Dorfbewohner auch einen besonderen Bezug zum 1. Mai „als Festtag der Arbeiter aller Länder". Am 3. Mai 1896 folgten zum Beispiel 600 Steinbacher dem Aufruf der sozialdemokratischen „Volksstimme" zur Teilnahme an einer Maikundgebung. Fortan fanden dann bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges 1914 regelmäßig als „Gründungsveranstaltungen getarnte Maifeiern" im Gasthaus „Zum Darmstädter Hof" statt. „Getarnte" darum - weil der Druck von „oben" bzw. der Polizei auch unter Kaiser Wilhelm II. besonders stark war. Dafür gab es zwei Gründe: nach dem Abgang von Bismarck als Reichskanzler orientierte sich die „große" Politik immer mehr an der Gesinnung „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen" bzw. „Deutschland braucht einen Platz an der Sonne". Es ging konkret um die vom Deutschen Reich geforderte Neuaufteilung der Welt. Notfalls auch durch Krieg. Der Kaiser Wilhelm II. hatte am 31. Dezember 1905 in einem Neujahrsschreiben an Reichskanzler Bernhard von Bülow diese Absicht folgendermaßen zum Ausdruck gebracht: „Erst die Sozialisten abschießen, köpfen und unschädlich machen - wenn nötig per Blutbad - und dann Krieg nach außen. Aber nicht vorher und nicht à tempo". Zweifelsohne starker Tobak - auch wenn es „nur" ein Bild ist. Zweitens - das wird ebenfalls aus dem Brief ersichtlich: stellen sich SPD und freie Gewerkschaften diesem Kurs entgegen. Die umfassende Aufrüstung, und hier in erster Linie der Bau einer Flotte mit teuren Schlachtschiffen, verschlingt sehr viel Geld. Natürlich tragen wieder einmal die unteren Schichten die Lasten. Den Gürtel enger schnallen ist die aktuelle Parole.

Die Kaisermanöver dieser Zeit in der Nähe von Bad Homburg weckten auch Neugier im Dorf. Eine noch größere Attraktion war die Luftschiff-Parade in Bad Homburg des Jahres 1910 bei Anwesenheit des Kaisers. Nur vier Tage zuvor, am 18. April 1910, hatten die Steinbacher ein eigenes Fest. Sie feierten das 25jährige Jubiläum des „Turnvereins Vorwärts". Rund 1500 Teilnehmer verdrängten für kurze Zeit ihre Sorgen und Nöte.

ca. 1900

Als erster Turnverein entstand in Steinbach 1885 der „Turnverein Vorwärts". Das um 1900 entstandene Foto stellt die damaligen aktiven Sportler dar, die 1907 mit der „Turngesellschaft" fusionierten.

Noch lange wurde über diesen Tag gesprochen - denn es war eines der letzten Feste dieser Art vor dem Ausbruch des Krieges.
Darmstädter Hof

1910 wurde zugleich das neue Schulhaus in der Gartenstraße bezogen. Die Schüler mit ihren Lehrern, Bürgermeister und andere „prominenten Gäste" gingen im Festzug vom „alten Schulhaus neben dem Pfarrhaus (heute: Jugendhaus) durch den Ort zur „neuen Schule". Die Kinder bekamen nach der Feier die so begehrten Brezeln.

Des Kaisers Geburtstag am 27. Januar wurde dagegen jedes Jahr gefeiert - vor allem in der Schule. Patriotismus war eines der wichtigsten Erziehungsziele der Kaiserzeit. Fröhlich und unbekümmert sangen die Schulkinder aus voller Kehle:

    „Der Kaiser ist ein lieber Mann,
    er wohnt in Berlin,
    und wäre es nicht so weit von hier,
    zög ich zu ihm noch heute hin.

Oder sie sagten feierlich folgendes Gedicht auf:

    Wenn größer ich und stärker bin,
    dann geh ich zu dem Kaiser hin.
    Und bitte ihn vom Herzen sehr,
    um einen Platz in seinem Heer -
    Dann krieg ich einen Waffenrock
    und ein Gewehr mit Ladestock.
    Auch wird ein Säbel mir geschenkt
    und an den weißen Gurt gehängt."

1910

1910 eingeweihte Schule

Der Soldat rückte immer mehr in den Mittelpunkt des öffentlichen Lebens. Paraden hoch zu Roß in bunten und glitzernden schmucken Uniformen brachten den Anspruch des Militärs, vor allem ihres adligen Führungskorps, auf den ersten Platz in der Gesellschaft immer wieder sichtbar zum Ausdruck.

1912 trauert die ganze Nation. Die Welt erlebt voller Spannung die größte Schiffskatastrophe bisheriger Zeit. Der Luxusdampfer „Titanic" fuhr auf einen Eisberg im Atlantik und ging in Windeseile unter.

Krieg und Revolution

Dunkle Wolken am politischen Horizont hatten sich schon einige Zeit abgezeichnet. Zwei Machtgruppierungen standen sich in Europa gegenüber: Die Triple-Entente (England, Frankreich und das zaristische Rußland) und der Dreibund (Deutschland, Österreich/Ungarn, Italien). Die Ermordung des Erzherzogs Franz Ferdinand in Sarajewo wirkte als zündender Funke am europäischen Pulverfaß. „Mord in Sarajewo! Der Kronprinz ist tot! Mobilmachung!" - diese Schlagzeilen eilten durch unser Dorf und sorgten für Aufregung. Gab es auch hier die allgemein festgestellte „patriotische Begeisterung"?

Fröhlich ist das.... - die künftigen Opfer.

Typische Feldpostkarte am Anfang des 1. Weltkrieges.

Zunächst schien es so. Der von „oben" erzeugte „Hurra-Patriotismus" steckte an. Der ehrenamtliche Bürgermeister Karl Heinrich Heinrich, bäuerlich-konservativer Gesinnung, hatte „sein Dorf" fest im Griff. Der Gemeinderat, er setzte sich zusammen zu je einem Drittel aus Vertretern der Bauernpartei, des Haus- und Grundbesitzvereins und Sozialdemokraten, zog mit. Die Sozialdemokraten waren allerdings uneins. Hier prallten die Meinungsgegensätze über die Frage der Bewilligung der Kriegskredite (August 1914) hart aufeinander. Die SPD-Reichstagsfraktion hatte dafür gestimmt. Doch viele SPD-Mitglieder an der Basis verstanden diese Haltung nicht.

Ausbildung  W. Hill1917 in russ. Gefangenschaft

Feldpostkarten von “Wilhelm Hill an seinen Onkel Franz Hill in Steinbach. Das linke Bild zeigt W. Hill während der Ausbildung als Soldat und das rechte Bild wurde in der russischen Gefangenschaft aufgenommen. Diese Feldpostkarte wurde am 20. Juli 1917 abgesandt und erreichte Steinbach am 14. August 1918.

Das Echo des Krieges!

Am 10. Juni 1923 wurde vor der evangelischen Kirche ein Denkmal zu Ehren der Gefallenen des 1. Weltkrieges enthüllt.

1918 - das letzte geschmückte Aufgebot.

Ein zeitgeschichtliches Dokument aus dem Jahr 1918: Es zeigt die letzten Steinbacher Rekruten des Geburtsjahrganges 1900, die noch am Ende des 1. Weltkrieges zum Militärdienst einberufen wurden.

Siegesmeldungen sorgten zunächst überall im Land für Stimmung. Feldgrau löste die bunten und glitzernden Farben der Uniformröcke ab. Das Militär bestimmte das öffentliche Leben noch stärker als früher - und auch Steinbacher „eilten zur Fahne".

Die Ernüchterung auf den anfänglichen Kriegstaumel folgte auf dem Fuße. Lebensmittelknappheit und Rationierung waren unvermeidliche Folgen. 184 Steinbacher wurden Soldaten und fehlten als Arbeitskräfte im Dorf. Da tat sich manche Lücke auf. Notdürftig wurden sie durch Kriegsgefangene gestopft. Das Rathaus beherbergte sieben Franzosen und einen Russen. Das so emsige Vereinsleben stagnierte. Die Männer waren ja an der Front. Auch der Fußballklub „Germania" hing die Schuhe an den berühmten Nagel. Die Metallbetriebe Frankfurts hatten auf Rüstungsproduktion umgestellt und ihre Arbeiter zu längerer Arbeit verpflichtet. Der Tag wurde dadurch für manchen Steinbacher noch länger. Schmalhans „regierte" mit der zunehmenden Länge des ersten Weltkrieges auch in so mancher Küche. Die Kohlrübe als Nahrungsmittel erlangte eine traurige Berühmtheit - selbst als Kaffee- Ersatz.

Die Siegesmeldungen wurden immer spärlicher. Kriegsmüdigkeit machte sich allmählich breit. Dazu trugen nicht wenig die hohen Verluste bei. 1914 „fiel" als Gardist der 4. Kompanie des Leibgarde-Infanterieregiments Nr. 115 Johann Friedrich Gissel in Belgien. Er eröffnete den Reigen weiterer sinnloser Opfer. Der Krieg war inzwischen überall gegenwärtig. Trauer zog in so manches Steinbacher Haus ein. Am Ende des ersten Weltkrieges ruhten 29 Steinbacher in fremder Erde. Der Krieg hatte ihr noch so junges Leben abrupt und viel zu früh beendet.

Doch zu lange, nämlich schon vier Jahre, dauerte der Krieg. Hunger grassierte. Der „Lebensmittelkalender" im „Taunusboten" vom 8. November 1918 verkündete damals offiziell: „Das Lebensmittelamt bringt zur Verteilung: 125 g frisches Fleisch und Wurst, 50 gr. Margarine, 21 bzw. 30 Pfund Kartoffeln, 125 gr. Kartoffelwalzmehl, außerdem Eipulver und Gemüsekonserven. Die Ausgabe von Brot- und Zuckerkarten erfolgt am Samstag".

Nur einen Tag später, nämlich am 9. November 1918, lesen wir wiederum im „Taunusboten" folgende aufregende Meldung: „Berlin, 9. November. Amtlich (W.T.B.) Der Kaiser und König hat sich entschlossen, dem Thron zu entsagen ..." Er war doch ausgezogen mit dem Lied auf den Lippen: „Siegreich wollen wir Frankreich schlagen..." Siegreich blieben die Franzosen und ihre Verbündeten aus der Triple- Entente. Die deutschen Heere an allen Fronten wankten und fluteten zurück. Die
Alles vorbei. Scheinbar...
Sommeroffensive 1918 war ein Schlag ins Wasser. Die Marine verweigerte die letzte - und sicherlich tödliche - Schlacht gegen die englische Flotte. Matrosen hißten die rote Fahne und lösten am 3. November 1918 die Revolution aus. Kiel war der Ausgangspunkt dieser Bewegung. Arbeiter- und Soldatenräte übernahmen die Macht im Lande. Die revolutionäre Welle erreicht auch unsere Gegend. Der „Taunusbote" vom 10. November 1918 berichtet: „Seit gestern weht hier (in Königstein) von den öffentlichen Gebäuden, dem Rathaus usw. die rote Flagge. Der Arbeiter- und Soldatenrat führt die Kontrolle der Geschäfte des Bürgermeisteramtes und übt die militärische Gewalt aus." Alle Macht den Räten! - so lautete in diesen November- Tagen die politische Losung.

Aus:1200 Jahre Steinbach - Das Buch.