Die Zeit, in der unsere Vorfahren lebten (3)
Von Dr. phil. Fritz Krause

Versuchungen ausgesetzt

Die Einflüsse von außerhalb hielten sich allerdings in Grenzen. Sie setzten mehr als heute unmittelbare Berührung mit der „Außenwelt" voraus. Es gab aber um 1800 „in der Taunusgegend wenige Zeitungen, wenige Hochstraßen, keine Telegraphen ... Die Nachrichten, die Briefe wurden damals nicht durch die Post, sie wurden durch Fuhrleute, Handwerksburschen, Metzger etc. befördert", wie der „Taunusbote" im Rückblick auf die Jahrhundertwende im Februar 1864 schrieb.

Um so nachhaltiger und manchmal auch einschneidender waren die Auswirkungen von Kriegen, die unser Dorf direkt einbezogen, so nach dem Dreißigjährigen Krieg auch die Napoleonischen Kriege kurz nach der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. 1802 stand Steinbach unter französischer Besetzung. Allein schon die Requirierung von Vieh und Fuhrwerken schwächte das Dorf. Der eingeschleppte Typhus geißelte die Taunusgegend und unser Dorf entsetzlich. Die damals im Volksmunde „Russenkrankheit" genannte Seuche bedrohte die Menschen im Taunus ernsthaft und löschte so manches Leben aus.

Doch stärker färbte das muntere Treiben Frankfurts auf die Verhältnisse Steinbachs ab. Elemente des städtischen Lebens fanden immer wieder Eingang ins dörfliche Leben. Da wurde auch nach getaner Arbeit in den Gasthäusern, nicht weit von der St. Georgskapelle entfernt, schon manchmal einen „über den Durst getrunken" oder wurden „freisinnige Reden gegen die Obrigkeit" gehalten. Der Pfarrer Giebelhausen schrieb in diesem Zusammenhang 1834 an seinen Vorgesetzten: „Für Steinbach ist ein (Pfarramts-)Kandidat erforderlich, der im Pfarramt schon ziemliche Gewandtheit besitzt und einen guten moralischen Lebenswandel führet, indem er daselbst manchen Versuchungen zum unmoralischen Wandel ausgesetzt ist".

Aber nicht nur der Pfarrer Giebelhausen registrierte ein „Verfall von Moral und der Sitten". Auch der „Taunuswächter" vom April 1851, die Zeitung für das Taunusgebiet, klagt über einen solchen Zustand. Da heißt es in einem Artikel: „Mit Recht bezeichnet man es als einen Krebsschaden der Zeit,... daß die Ehrfurcht vor den Eltern, die Achtung vor den Lehrern, der Respekt vor der Obrigkeit in tiefen Verfall geradten sind ... und daß der Glaube an das Göttliche mehr in eitler Ostentation besteht, als in opferfähiger Überzeugung".

Und in der Tat. Die Revolution von 1848 und ihre Begleiterscheinungen hatten die adlige Obrigkeitsherrschaft durchlöchert. Zwar hatten nicht die allgemeinen menschlichen Werte so sehr gelitten. Zweifelsohne gab es aber eine Aufweichung der bisherigen Vorstellungen über Zucht und Ordnung. Die „alte" Welt brach manchmal recht drastisch zusammen. Da wurden nach dem „Taunusboten" Schultheißen ,fortgejagt und neue Bürgermeister gewählt, Volksversammlungen wurden abgehalten und alles ging wie überall. Einige Jahre später, als die Reaktion wieder Füße im Steigbügel hatte, kam ein solcher neuer Bürgermeister zu einem ehrwürdigen Geistlichen des alten Systems ... Da fand folgende Unterhaltung statt: Der Pfarrer: ,Wie geht es Ihnen denn Herr Bürgermeister?' Der Bürgermeister antwortet: ,Was soll man sagen in einer Zeit, seit dem Jahr 1848 ist kein Respekt nirgends nicht mehr da. Man respektiert keinen Herzog nicht mehr, keinen Forstmeister nicht mehr, keinen Pfarrer nicht mehr, und keinen Bürgermeister nicht mehr ...!'

Die neue Zeit macht ums Dorf keinen Bogen

Der Bürgermeister drückt aus seiner Sicht wahrscheinlich zurecht seinen Unmut aus. Auch der hiesige Gemeinderat spürte den revolutionären Ruck der 48er Jahre. Neue Signale waren gesetzt. Der Einzug der Dampfmaschine in die Fabriken, rauchende hohe Schornsteine und wachsender Verkehr markierten auch in Deutschland die Anfänge eines neuen Zeitalters. 1835 rollte die erste Eisenbahn von Nürnberg nach Fürth. Hier, in unserer Gegend, wurde am 14. Oktober 1860 die Eisenbahnstrecke Frankfurt/Steinbach-Weißkirchen/Bad Homburg (im Volksmund „Taunusbahn") eingeweiht. Allein im Zeitraum 1848 bis 1858 - also nur in einem Jahrzehnt! - verdoppelte sich die industrielle Produktion. Deutschland verwandelte sich immer stärker von einem Agrar- zu einem Industrieland. Das Bürgertum forderte drängender die Beseitigung der feudalen Schranken. Noch gab es 36 selbständige deutsche Staaten mit eigenen Währungen, Zöllen, Maßen, Gewichten u.a.m. Dadurch wurde die Ausweitung des Handels stark gebremst. Auch die alten feudalen Gesetze und Rechte schränkten die industrielle Entwicklung ein. Die Zeit drängte zur Auflösung dieses Widerspruchs zwischen wachsender Wirtschaftsmacht des Bürgertums und feudaler Herrschaft.

Dieser Prozeß führte zugleich zu einem zahlenmäßigen Wachstum der Arbeiterschaft. Die Zahl der lohnabhängiger Arbeiter stieg z.B. in Preußen im Zeitraum von 1849 bis 1861 um 120 Prozent. Noch aber überwog die bäuerliche Bevölkerung und dominierten die feudalen Strukturen in Politik und Gesellschaft. Es herrschte noch immer ziemlich absolut der Hochadel.

Die Eisenbahn!

Wahrzeichen der industriellen Revolution:
Eisenbahn, Chaussee und Kanal.

Hier und da zog auch der Zeitgeist in unserem Dorf ein. Die städtischen Turbulenzen schlugen auch hier Wellen - wenn auch meistens nur als Gerücht und Kunde vom munteren Treiben in der Nationalversammlung in Frankfurt am Main. Da schwappte also zumindest „freiheitlicher Geist" herüber.

Nach wie vor aber sprudelte unaufhörlich das saubere Quellwasser aus dem Laufbrunnen. Und noch immer schlich der „Steinbach", wie seinerzeit im „Taunusboten" zu lesen ist, „über Schutt und Geröll dahin und während die Wagen durch das seichte Wasser fahren mußten, hatte man für Fußgänger mit platten Steinen einen Pfad gelegt." Das Dorf hat zu dieser Zeit ungefähr 600 Einwohner. Der schon oben erwähnte Pfarrer nennt in seinem Bericht „500 Seelen mit einer Schule, die gegen 100 Schüler zählt".

Um 1853

Historische Karte der Umgebung Frankfurts, um 1853 mit den frühen Eisenbahnlinien: Noch ist Steinbach nicht an das „Netz der neuen Zeit" angeschlossen.

Das Leben verläuft in ruhigen Bahnen. Da lädt Gastwirt Höck zum 12./13. Oktober 1850 zum Kirchweihfest ein. „Für gute Tanzmusik, Speisen und Getränke habe ich Sorge getragen. Da unsere großen Schoppen und Flaschen einladend sind, so ist eine weitere Empfehlung und Einladung überflüssig." Dieses Kirchweihfest hat seine Wurzel in der Einweihung der evangelischen St. Georgskapelle am zweiten Sonntag des Monats Oktober im Jahre 1537. Die „Kerweborsche" sehen in diesem Ereignis ihren Ursprung. Erstmals erhalten wir Auskunft über ihre Existenz im „Frankfurter Anzeiger" vom 10. Oktober 1878. Da laden sie in einer Anzeige zum „Kirchweihfest am 13./14. Oktober 1878 bei Karl Höck im Gasthaus ,Zum Schwanen' ein." Und auch in der 1869 eröffneten Gaststätte „Zum Taunus" - Bornhohl 7 - sowie im „Zum Goldenen Stern" - Bornhohl 2 - der ältesten Dorfschenke im Ort, geht es lustig zu.

Doch nochmals zurück zu den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Da ziehen nur einige wenige Tage nach der Kirchweih nachts Räuber durch Steinbach. Denn „in der Nacht vom 18. auf den 19. d.M. wurden mehreren Bürgern Steinbachs Hühner und Gänse gestohlen. Im Winter 1848 und 49 geschah dasselbe, ohne daß auch nur die geringste Spur von den Nachtwächtern, die mit 138 fl. jährlich bezahlt werden, bemerkt worden wäre. Es scheint, als bekämen diese Leute ihren Lohn für das Schlafen, aber nicht für das Wachen" - so ist im „Taunusboten" zu lesen.

Der Gemeinderat scheint sich in der Tat nicht auf den Nachtwächter verlassen zu können. Nur - er kann sich trösten. Denn gerade nach der Revolution nahmen die Diebstähle aufgrund einer schlechten Ernte und Ernährungslage überall zu.

Auch Klagen anderer Art sind Mitte 1851 laut und deutlich zu hören. So schreibt die Zeitung: „Seit einiger Zeit schlägt das Brod ganz unerwartet auf. Niemand weiß, woher das kommt. Die Frucht ist doch verhältnismäßig nicht so theuer und die nahe Ernte verspricht gesegnet zu sein. Man denkt dabei wieder an die Wucherer ... Doch dafür haben unsere Staatskünstler keine Augen; sie ,aßen ja ihr Brod nie mit Thränen' und auch die Polizei ist blind."

Wir sehen - unser Dorf fand nie so richtig Ruhe. Der Wandel vom Feudalismus zum Kapitalismus machte eben auch um Steinbach keinen Bogen - auch wenn die Wege und Straßen zu den Nachbarorten und zur Stadt zu manchen Jahreszeiten manchmal tiefe Schlaglöcher aufwiesen und bei Trockenheit in Staubwolken versanken.

Noch war weitgehend das Pferd der Motor von damals und die Kutsche (Kronberger Pferdebahn) das am meisten benutzte Verkehrsmittel für weitere Strecken. Die Konkurrenz dazu waren nach wie vor die eigenen Füße. Friedrich Stoltze hat dies in einem direkten Bezug zu unserem Dorf in seinem Gedicht „Der Schiffbruch des Raddampfers ,Freie Stadt Frankfurt' " nähergebracht. Darin ist die tragende Figur Johann Christian Diehl - seinerzeit wohnhaft in Steinbach und als Lehrer tätig an der Katharinenschule zu Frankfurt am Main. Da schreibt der Dichter:

    Am zweiten August 1827 war die Elf-Uhr-Meß, wann aach net im Kaiserdom zu Frankfort,
    doch ganz in der Neh vom Patorm, un zwar im „Gasthaus zum Rebstock" absonnerlich stark besucht, denn es hat sich um e Wallfahrt zu em Pfaff gehannelt, der in ein ganz besonnere Geruch gestanne hat, odder, um mich deitlicher auszudricke: die nächste Sonndag iwwer acht Dag war Königstaaner Kerb.

    Daß die besucht wem mißt, dadriwwer war die ganz aadächtig versammelt Gemaand in der Elf-Uhr-Meß dorchaus aanig, nor iwwer die Transportmittel gab sich e groß Verscheidenheit der Maanungen kund.

    Der Herr Diehl, von Staabach geberdig, un Lehrer an der Sankt Katherineschul in Frankfort, e großer starker Mann, der extra sein Unnerricht in der veerte Knaweklaß schont um dreivertel uff Elf beschlösse hatt, um der Besprechung im Rewstock von wege der Königstaaner Kerb rechtzeitig beiwohne zu könne, da ja ohnedaß in der nächste Woch die Hundsdagsferie begänne, erbst sich das Wort un sprach:

    „Mei aadächtige Zuhörer! - Ich bin for e Fußtour iwwer Bockenem, Rodelem, Eschborn, Niederhöckstadt un Kronberg. So e Fußtour im Gebirg, iwwer Derfer, an eme herrliche Sommermorjend — in der scheene, freie Natur, wo iwwerall unser Herrgott — die Wunner seiner Schöpfung ausbraat, ich bin von Staabach gebertig und kenn also die Gegend.'

Und Johann Christian Diehl hat den Weg von Steinbach nach Frankfurt am Main nicht nur einmal zu Fuß zurückgelegt. Dieser Marsch vom Wohnort zur Schule erfolgte regelmäßig. Dies wiederum war für gesunde Menschen nicht ungewöhnlich.

 

„...freier Geist" zieht in Steinbach ein

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts werden die Einflüsse der industriellen Revolution schon spürbarer. Philipp Eißler, ab 7. Juli 1867 in unserem Dorf Pfarrer, vermerkt in einem Bericht an die Kirchenverwaltung in Darmstadt folgendes: „Der Pfarrer steht in gutem Vernehmen mit der Gemeinde. Seinem Wirken bietet jedoch der in den gefüllten Wirtshäusern gepflegte freie Geist, der durch die Arbeitsleute aus der nahen Stadt Frankfurt hierher getragen wird, das hauptsächliche Hindernis. Von erfreulichen Früchten seiner Amtsführung kann er darum bis jetzt noch nicht reden.

Außer Bibel und Gesangbuch finden sich in der Gemeinde noch ... das Hanauer Gesangbuch vor.
Einzelne kirchlich indifferente Leute sind hier ... Daß sich diese nicht beim Sakrament des Altars einfinden ist natürlich.
Von ärgerlichen Streitigkeiten zwischen Ehegatten sowie Eltern und Kindern ist mir noch nichts bekanntgeworden.
Die Schulkinder nehmen nicht ohne elterliche Aufsicht an Tanzbelustigungen teil. Wilde Ehen sind einige aus alter Zeit vorhanden...

Die guten Eigenschaften der Gemeinde sind Arbeitsamkeit aller, für die ärmeren Klassen insbesondere des männlichen Geschlechts. Kirchlichkeit vorzugsweise zu finden in der ortsansässigen, ackerbautreibenden Bevölkerung. Dieses Lob verringert sich durch den starken Wirtshausbesuch von fast der ganzen Gemeinde, der neuerdings auch die alte, bis jetzt festgehaltene Sitte, mit Eintritt der Polizeistunden nach Hause zu gehen, zu durchbrechen droht...

Die ehelichen und unehelichen Geburten verhalten sich wie 6 zu 1. Von gemeinen Verbrechen ist mir nichts außergewöhnliches bekannt. Dagegen hat dieses Jahr auffallenderweise schon 2 Selbstmorde aufgewiesen!'1200 Jahre Steinbach

Pfarrer Eißler machte sich unnötige Sorgen. Warum sollte „freier Geist" ausgerechnet nicht in Steinbach einziehen? Das Dorf spürte allemal die Schranken des feudalen Systems - vor allem durch hohe Abgaben. Gerade nach der Revolution von 1848 zog der „gebeutelte" Staat die Schrauben fester an und herrschte strenger. Manche der erreichten Freiheiten des städtischen Bürgertums bleiben zum anderen den bäuerlichen Schichten noch verwehrt. Auch die medizinische Versorgung war auf dem Lande mehr als schlecht. Der Arzt war zu teuer und wohnte in Oberursel. Man behalf sich selbst mit vielen von Generationen überlieferten „Hausmitteln". Manchmal half auch der Schäfer - eine Art „Medizinmann" alter Zeiten.

Krankheit zählte so manches Mal als böser Schicksalsschlag - auch verbunden mit Armut. Das hereinbrechende Leid wurde durch den „Arbeiter-Krankenunterstützungs- Verein" - 1828 schon ins Leben gerufen - etwas gemildert. Geselligkeit und auch etwas Abwechslung gab es im Dorf durch den 1841 gegründeten „Steinbacher Sängerbund". Lehrer Kromm, am Bürgertum orientiert, wirkte als zentrale Figur.

Um 1890

Blick in eine Eisengießerei um 1890.

Es traf auf die Steinbacher schon damals zu, was Lehrer Pauli später in seinem Heimatbuch schrieb: „Die alteingesessene Steinbacher Bevölkerung ist arbeitsam, menschenfreundlich und selbstbewußt und, wie es die Nähe der größeren Städte bedingt, ist sie auch durchaus aufgeschlossen für jeglichen Fortschritt. Insbesondere hat sich gezeigt, daß Steinbacher Arbeitskräfte, die auswärts ihrem Broterwerb nachgehen, sich besonders anpassungsfähig und lebenstüchtig erweisen ..."

Auswärts - das hieß in unserem Fall in erster Linie in Frankfurt am Main, vor allem die Metallbetriebe in Bockenheim, Rödelheim und auch in Heddernheim. Hier waren moderne Fabriken entstanden, wie zum Beispiel die Maschinenfabrik Moenus AG, die Nähmaschinenfabrik Joseph Wertheim AG in Bornheim oder die Motorenfabrik Oberursel - um nur einige wenige anzuführen. Dort fanden Steinbacher Arbeit und Brot. Nur - das Brot war bei täglich langer Arbeitszeit und schlechten Arbeitsbedingungen sauer verdient.

Aus:
1200 Jahre Steinbach