Pro Kopf ein Ei oder einen Hering
Bad Homburg: Während Kaiser Wilhelm tafelte, litt das Volk unter großem Hunger

Von Klaus Nissen

Auch im Krieg gegen den „Erbfeind" labte sieh Kaiser Wilhelm im Homburger Schloß oft und gern an Champagner und französischen Spezialitäten. Jenseits der Löwengasse darbte derweil sein Volk: Schon bei Beginn des Ersten Weltkrieges wurden die Lebensmittel knapp, berichtete Wolfgang Bühnemann am Mittwoch im Gotischen Haus. Der gelernte Landwirt und Heimathistoriker hat im Stadtarchiv Informationen über die Lebensmittelknappheit der Jahre von 1915 bis 1924 zu Tage gefördert. Der Mangel zwang die Stadt sogar dazu, einen Selbstversorger-Bauernhof zu gründen.

Seit Januar 1915, fünf Monate nach Kriegsbeginn, mußten die Bad Homburger um Brot, Kartoffeln, Fleisch und Kohlen anstehen. Ab April verwaltete die „Reichskartoffelstelle" den Mangel, ab Herbst waren praktisch alle Lebensmittel bis in die zwanziger Jahre hinein rationiert. „Es gab kein Fett und fast kein Fleisch mehr", s so Bühnemann.

Über ein Engagement des in Homburg weilenden Kaisers zur besseren Versorgung der Bürger hatte Bühnemann nichts zu berichten. Anstelle des Kaisers organisierte der Vaterländische Frauenverein die Ernährung: Bis zu 380 Damen aus besser gestellten Kreisen richteten in der Kirdorfer Schulstraße eine Ausgabestelle ein, in der sie vor allem an Soldatenfrauen verbilligt 13.000 Pfund Haferflocken, 8.600 Pfund Reis, 1.864 Zentner Kohlen, außerdem Kaffee-Ersatz, Suppenwürfel und Trockenei-Pulver abgaben. Für die kämpfende Truppe nähten die Frauen 3.000 Hemden, 8.000 Unterhosen, strickten 200 Pulswärmer und 900 Leibbinden.
Pro Kopf

Der Vaterländische Frauenverein versorgte die darbenden Homburger.
STADTARCHIV BAD HOMBURG

Am meisten schmerzte der Mangel an Milch. Vor dem Krieg hatten die Homburger fast 6.000 Liter Milch pro Tag zur Verfügung, im „Steckrübenwinter" 1916/17 nur noch 2.200 Liter. Schuld waren Bürokraten: Der Regierungspräsident des Großherzogtums Hessen verbot den Bauern in Ober-Eschbach und Ober-Erlenbach, ihre Milch an die benachbarten, aber zu Preußen gehörenden Homburger zu verkaufen. Nur Mütter mit Babys durften einen Liter Milch pro Tag beziehen, Kinder bekamen je nach Alter einen halben Liter.

„Da meinte der Magistrat: Wir müssen etwas unternehmen", so Wolfgang Bühnemann. Die Stadtverwaltung pachtete einen alten Bauernhof an der Dietigheimer Straße 20, auf dem heutigen Festplatz nahe der Accadis-Grundschule. Oberbürgermeister Lübke schickte den Rentner August Schick und den Landwirt Fritz Schick nach Norddeutschland, um Kühe zu kaufen, außerdem Schweine und Hühner und zehn Pferde, die in fünf Gespannen acht Hektar Land beackern sollten. 20 Knechte und Mägde sollten die Ernährung der Bad Homburger sicherstellen.

Schwarzhandel mit Milch

Das gelang nur teilweise. Der Verwalter Nebe verkaufte heimlich die fette Milch und das beste Schlachtvieh auf eigene Rechnung, meldeten anonyme Denunzianten dem Oberbürgermeister. Er fand jedoch keine Beweise und hielt den Hof-Geschäftsführer im Amt.

Die Tiere hatten nicht genug Futter, berichtet Historiker Bühnemann, der Milchertrag war gering. Die Schweine wurden mit Abwaschwasser und Haushaltsabfällen gefüttert. Der Veterinär Luft schrieb allwöchentlich besorgte Berichte an den Magistrat: Ein Huhn sei verendet, eine Kuh Tuberkulose-verdächtig. Lufts Empfehlung: „Die Kuh zum Verkauf zu bringen, bevor Abmagerung entsteht."

Ende 1924 war der Magistrat die Bauerei leid - Kühe und Gäule wurden versteigert. Zumal sich die Ernährungslage ganz langsam besserte. Im Taunusboten annoncierte der Magistrat eine Lieferung von Heringen und Auslandseiern: „Da von beiden Waren nicht so viel vorhanden sind, wird ins Ermessen des Publikums gestellt, ob es sich für ein Ei oder einen Hering entscheiden will."

Frankfurter Rundschau – 5.2.10 - mit freundlicher Erlaubnis der FR