Die Briefe an den kleinen Paul
Neue Ausstellung im NS-Gedenkraum dokumentiert jüdische Schicksale

Von Michael Grabenströer

Ganz öffentlich werden sie verlesen, die Briefe von Vater, Mutter und Großmutter, die für Paul Kester ganz privat bestimmt waren. Als Wiesbadener Junge hieß er Paul Kleinstraß. Nun sitzt er in der ersten Reihe, hört zu -konzentriert, berührt, gefaßt. Er kennt die Briefe auswendig, hat sie immer und immer wieder gelesen. Es sind die letzten Dokumente seiner Angehörigen, mehr als nur Erinnerungstücke. Sie sind Familiengeschichte.

Die Briefe, die im Wiesbadener Rathausfoyer zur Eröffnung der Ausstellung „... dann waren sie weg" im neuen NS-Gedenkraum vorgetragen werden, sind aber auch ein Stück lebendige Stadtgeschichte. Von rund 3000 Wiesbadener Juden haben gerade einmal die Hälfte die Wiesbadener Nazi-Zeit überlebt. Daran soll der Gedenkraum erinnern, wohl der einzige Ort, der so in einem deutschen Rathaus geschaffen wurde - realisiert vom Aktiven Museum Spiegelgasse. Ab und an schmiegt sich bei der Verlesung der Privatpost, die zu Zeitdokumenten geworden ist, die Hand seiner Frau -zärtlich und Trost gebend - in die Hand des 84-jährigen Kester, mittlerweile in Los Angeles ansässig. Denn es sind die letzten Zeugnisse seiner nächsten Verwandten - vor bald 70 Jahren geschrieben. Die Briefe des jungen Pauls, die Gegenstücke, auf die sie sich beziehen, sind nicht mehr da, verloren auf dem Weg nach Theresienstadt und in die Vernichtung.

Die Briefe berichten aus der Schreckenswelt der Nazizeit, zeigen einen letzten trügerischen Streif von Hoffnung, an den sich die jüdischen Bürger klammerten, als sie schon längst den Stern trugen. Paul hatte es geschafft. Der Junge war nach Schweden geschickt worden - in einem Kinderkontingent. Schweden hatte sich bereit erklärt, jüdische Kinder aus Deutschland aufzunehmen.

Paul war in Sicherheit. Die Verwandten in Wiesbaden nicht. „Wir haben gepackt", hieß es im letzten Brief, in den wenigen Zeilen, die den Eltern im Herbst 1942 zugebilligt waren. Denn auch die Länge der Briefe war normiert und wurde kontrolliert. Dann ging es zum Sammlungsort Synagoge und auf den Transport.

Die Ausstellung thematisiert exemplarisch Schicksale. Hierlassen sich per Touchscreen biografische Erinnerungsblätter an die jüdischen Bürger Wiesbadens abrufen. Paul Hellenbart, Vorsitzender des Aktiven Museums Spiegelgasse, spricht von einem Ort, der dafür sorgen soll, daß die Menschen, „die einfach weg waren", bleiben werden. Für Kulturdezernentin Rita Thies (Grüne) ist der Gedenkort ein weiteres Stück der Wiesbadener Erinnerungsarbeit. „Erinnerung braucht Wissen", zitiert sie Walter Jens. Dieses Wissen wird nun täglich abrufbar sein. Wissen um das Schicksal der jüdischen Bürger in der Stadt. Wissen auch um Paul Kester, geboren am 14. Dezember 1925 als Paul Kleinstraß - ein Wiesbadener Jude.

Frankfurter Rundschau - 17.1.10 - mit freundlicher Erlaubnis der FR