Die Dinge stehen nicht fest
Aus einer Welt in Auflösung: Reinhard Kaiser stellt in Gelnhausen seine grandiose Übertragung des "Simplicissimus Deutsch" vor

Von Christian Thomas

Die Dinge fügen sich auf mancherlei Weise, und sie tun es diesmal in der Barbarossastadt Gelnhausen. Zu klein ist das Romanische Haus wegen der Leserscharen, umziehen muß man, um den Andrang zu beherrschen, ins Main-Kinzig-Forum. Und so läuft kein Mensch zwischen Rundbögen und unterm epochalen Gewölbe umher, sondern unter Mehrzweckhallenbedingungen dem Festsaal entgegen. Rechter Hand, wenn man genau hinhört, ächzt unterm Literaturdenkmal der Büchertisch (denn der Geist der Erzählung wartet darauf, daß er erweckt wird), und Liebe Literaturfreunde und Grimmelshausenfreunde, das sagt Herr Stolz, der Bürgermeister der Stadt.

Hunderte begrüßt er vor einer Aufsehen erregenden Panoramascheibe, die den Blick schweifen läßt ins Kinzigtal, das die Staufer kultivierten und der Dreißigjährige Krieg verheerte. Fahrplanmäßig ziehen zwischen Baumbestand die ICE ihre Bahn, steil überm Spessart Großraumflugzeuge ihre Warteschleifen. Denn die Dinge, heißt es schon im "Abenteuerlichen Simplicissimus Deutsch", fügen sich in vielerlei Gestalt.

Am Montagabend wurde im hessischen Gelnhausen eine Neuausgabe des Romans vorgestellt: die Buchpremiere der Übersetzung aus dem Deutschen des 17. Jahrhunderts in ein zeitgemäßes Deutsch durch Reinhard Kaiser. Und die Präsentation, die der Literaturvermittler Heiner Boehncke eine "Buchtaufe" nannte, fand in einer Stadt statt, die noch eine Altstadt hat, in der 1621 Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen geboren wurde, vielleicht auch 1622 (man weiß es nicht), und aus der der Junge als Zwölf- oder Dreizehnjähriger floh, Ende 1634 oder Anfang 1635. Im Roman, der 1668 herauskam, erreicht der halb verhungerte Simplicius, der bereits das eine oder andere Greuel überlebt hat, Gelnhausen, doch keine "zwei Steinwürfe weit" wagt er sich hinein in die Stadt, lagen doch "in den Straßen überall Tote, manche vollständig nackt, andere bis aufs Hemd entkleidet". So findet Kaiser für den "jammervollen Anblick", den die kaiserlichen Truppen durch Verwüstung und Plünderung hinterließen, neue Worte.Erstausgabe

Kaiser macht uns heutige Leser mit seiner deutsch-deutschen Übertragung zum Neuentdecker eines gewaltigen Buchs und Zeugen einer literarischen Provokation, die so monströs ist, daß lautes Lesen oder Vorlesen immer schon dabei halfen, durch den "Abenteuerlichen Simplicissimus" hindurchzufinden. Und so macht auch Kaiser sein Auditorium zum Ohrenzeugen seines Wagnisses, den Roman des Dreißigjährigen Kriegs, zugleich den bedeutendsten deutschen Roman des 17. Jahrhunderts, zu verdolmetschen, Wort für Wort, Satz für Satz.

Boehncke: Wie oft ist der Roman doch zugerichtet worden. Ja, sagt Kaiser: Schindluder ist mit ihm getrieben worden.

In der Tat, bös die zahllosen Bearbeitungen, mit denen gekürzt und geglättet, klassizistisch geschönt und jugendfrei gezähmt wurde, und das bei einem Roman, der von der ersten Auflage an ein Bestseller war, und dessen 2. Auflage bereits eine Übersetzung war, die in Konkurrenz zu Raubdrucken stand.

In Gelnhausen hocken Kaiser und der HR-Literaturredakteur und Eichbornlektor Boehncke vor der Panoramascheibe zusammen, Boehncke hat den siebzigfachen Übersetzer und vielfachen Originalautor zur Tat angestiftet. In einem fiktiven Werkstattgespräch mit Grimmelshausen, das die Eichborn-Ausgabe erst vollständig macht zusammen mit einem biografischen Abriß, Hinweisen zur Werkgeschichte, Anmerkungen und einem Register, meint der Nachdichter Kaiser aufgekratzt: Der Simplicissimus "ist keine altbackene, muffig und fast ungenießbar gewordene Scharteke". War er das jemals - altbacken, muffig? Die dreibändige Grimmelshausen-Ausgabe im Deutschen Klassiker-Verlag eine Scharteke zu nennen, das wäre wohl doch ein Mißverständnis, geschuldet einer Marketingmaßnahme. Nicht, daß das im Main-Kinzig-Forum auch so gesagt würde, steht doch stets der Gedanke von einem Volksbuch im Raum, einem Bestseller, der dem Volk jedoch durch eine abgelebte Sprache vorenthalten wird.

Tat und Untat wie ein einziger "Taumel" - Überlebenskampf als bestialisches Ritual

Halt durch einen "erratischen Block", so nannte das Werk in einem beherzten Bekenntnis einer der entscheidenden Finanziers dieses Übersetzungsunternehmens, Thomas Wurzel als Vertreter der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen. In diesem erratischen Block, der in Gelnhausen musikalisch gerahmt wurde von frühbarocken Lautenliedern, die das Ensemble Phoenix München sang und spielte, gehen fortwährend monströse Dinge vor sich, es zeigen sich Tat und Untat, Verbrechen und Vergeltung, Belagerung und Feldzug wie ein einziger "Taumel" - der Überlebenskampf als ein bestialisches Ritual. Mord ist dabei Kult. Die Lager wechseln, die Fronten, Freunde und Feinde geraten in eine tödliche Unordnung, Überzeugungen werden verschachert, der Glaube gewechselt wie die verlausten Hemden, das Glück wechselt, über Nacht ist das Gute das Böse, so wie das Richtige plötzlich nur noch falsch ist und die Wahrheit Betrug.

"Verkehrte Welt". Und da stehen für den Ich-Erzähler sogar die eigentlich fest stehenden Redewendungen auf dem Kopf, so daß "mir alle Berge zu Haar standen, denn einen solchen Rummel hatte ich noch nie erlebt". Die Dinge stehen nicht fest, alle Welt ist in Auflösung, durch die es den Simplicissimus treibt, in denen er sich mal zynisch, mal zerknirscht an vielerlei Verbrechen beteiligt, als Opportunist durchkommt, sogar als Opfer, wenn er nicht gerade Täter ist, wissend um alle Eitelkeit, die nichtig ist, und die er vor allem satirisch sieht.Simpl - Frontispiz der Erstausgabe 1669 - 180px-Simplicissimus_Cover_page1669

Zwischen Gottesfurcht und Abgötterei wird ein Kosmos aufgetan, vermessen wird die Landkarte des Dreißigjährigen Kriegs von Hanau über Magdeburg und Westfalen, im Elsaß und in Baden, zur geistigen Topographie gehören Abstecher nach Paris, Trips zwischen dem Schwarzwald und Moskau, und auf diesen Reisen, die Ausschweifung und Einkehr bedeuten, zeigt sich die barocke Mentalität, ein Bewußtsein, das in Antithesen dachte und fühlte, alle Hoffnungen fahren ließ, um sie im nächsten Moment wiederum in Gottes Namen zu beschwören. Denn so satirisch und dabei antiklerikal grundiert der Roman, so tiefreligiös war seine Sinnsuche - was die paradoxe Erzählhaltung erklärt. Verwirrend und verstörend die Modernität dieses Weltbuchs und Zeitbilds, und diese Modernität erklärt sich durch den prekären Status und die damit verbundenen Perspektivwechsel eines (sich sündig fühlenden) Erzählers.

Nichts von all dem hat Kaiser in einen modischen Jargon überführt, seine Wortwahl spekuliert nicht auf aktuelle Befindlichkeiten, zur Rekonstruktion gehört, daß die Mentalität dieser Neuübertragung weiterhin im 17. Jahrhundert wurzelt. Kaisers Bearbeitung beginnt mit der Einführung von Abschnitten in die Textmassen des Originals, setzt sich fort über eine Bearbeitung der barocken Syntax bis hin zur zeitgemäßen Eindeutschung der Wörter. "Saumsahl" als Saumseligkeit zu erkennen, mag noch angehen. Doch wenn er "Fuxschwantz" mit "Schmeichelei" übersetzt, leuchtet bisher Unverständliches unmittelbar ein. Vielerlei mutiert, "Lerna malorum" zum Sündenpfuhl, wie sich überhaupt lateinische oder französische Modewörter ausgemendelt haben: ansehnlich für visierlich. Und hätte "agieren" nicht in die Irre geführt, wenn es hier und heute nicht hieße, "wer hier wen zum Besten hat"? Gleich im ersten Kapitel, nach wenigen Zeilen heißt es: "mannhaft"; allein damit ist gemeint, "glücklich auf eigenen Beinen zu stehen".

Mannhaft steht auch diese Neuübersetzung da. Warum dagegen aus der "schlechten Rache" eine "einfache" wird, ist nicht recht einzusehen, herrlich dagegen, daß es weiterhin heißt, daß sich die Dinge "eher gebösert als gebessert" hätten. Erbaulich wäre es gewesen, wenn der in dem dramatisch-theatralischen Diskurs titulierte "Simpl." nicht schon zum Simplicius kultiviert worden wäre.

Irgendwann sagt Kaiser: Wenn Sie gestatten.

Und damit will er deutlich machen, daß er sich wegen der brüllenden Hitze seiner Jacke entledigen wolle, schon um freier formulieren zu können, so sagt er wörtlich, bevor er liest. Es ist die Szene vom "erschröcklich Spektacul" in Gelnhausen, wie es im "Barock-Grimmelshausen" hieß, und auch heute noch heißt in der Ausgabe des Deutschen Klassiker-Verlages. Anders als diese pflegt Kaiser in den herrlich hergestellten Bänden 296 und 297 der Anderen Bibliothek nicht die Tradition der Verständnisschwierigkeiten, mit ihren syntaktischen Absonderlichkeiten und lexikalischen Rätseln. Und doch läßt Kaisers Großtat, von der er überaus unbarock, also ungemein uneitel spricht (so unheroisch wie eine Hebamme von ihrer heroischen Geburtshilfe), an dieser Stelle seiner Neueindeutschung, bei der Begegnung des verstörten Jungen mit der verwüsteten Stadt, die Verstörung vermissen, lagen doch, wie es einst hieß, "die Gassen hin und her mit Todten überstreut". Kaisers Pragmatismus ("in den Straßen überall Tote") geht die Personalisierung des rituellen Städtemordens, der Frevel an den Gassen ebenso ab wie die Wahrnehmung des Wirrwarrs der hingemachten Leiber.

Die Welt läßt sich nicht festlegen, damit muß ihre Wahrnehmung sich abfinden

Dennoch, auch wenn wir etwas vermissen, wenn er aus Grimmelshausens philosophisch fundiertem "Universal-Frieden der ganzen Welt" einen politgemäßen "Weltfrieden" macht, so begibt man sich als heutiger Leser gern in die Obhut Kaisers. Denn was heißt das: "Er wolte mich/ da ich kein gut thun wolte/ mit einem Schelm wegschicken." Kaiser hilft uns zu verstehen: "Er wolle mich wegen meiner schlechten Führung ,mit Schimpf und Schande entlassen." Ein Schelm ist Kaiser dennoch, denn sonst würde er die ursprüngliche Anrede "Ach mein Hermaphrodit" nicht akustisch falsch verstehen: "Ach, mein lieber Herr Maprodit".

Damit wird frohgemut angeknüpft an die Lautmalereien ("Schergiant" für Sergeant und Scharge) des Originals, an die Dialekte und regionalen Klangfarben, aus denen das Barocke gesellschaftlich spricht, derb und obszön, in der Tradition der deutschen Volksbücher des 16. Jahrhunderts, ironisch nach den Vorbildern des romanischen Picaro-Romans, frivol nach den Leitlinien der erotischen Groteske, phantastisch, wenn es um Reisebericht und Robinsonade geht, nicht zuletzt zutiefst fromm, wenn er eine Utopie der Einsiedelei beschwört.

Ausdrücklich rumort in der simplicianischen Fülle dieses Romans ein "merkurischer Geist": dessen Wechselhaftigkeit und Veränderungswille, dessen Unbeständigkeit und Unruhe barockes Lebensprinzip war, ja das Weltprinzip schlechthin auszumachen schien. Grimmelshausen hat diesen Geist in "mancherlei Gestalt" allegorisiert, sich selbst als Autor so inszeniert, seinen Simplicius als eine derartige Gestalt ausgestattet, ausgesetzt den Wechselfällen des Lebens. Die Dinge stehen nicht fest, und so steht der "Abenteuerliche Simplicissimus" am Anfang moderner Unruhe und Ungewißheit. Die Welt läßt sich nicht festlegen, damit muß auch ihre Wahrnehmung sich abfinden.

Für den "Barock-Grimmelshausen" von 1668 galt: "Ich weiß zwar wol/daß auff diese Stund Leut seyn/die mir dieses nicht glauben/". Wort für Wort heißt das bei Reinhard Kaiser: "Aber ob Sie´s glauben oder nicht - wahr bleibt es trotzdem."

Das Buch

Hans Jacob Christoffel Grimmelshausen:
Der abenteuerliche Simplicissimus Deutsch. Aus dem Deutschen des 17. Jahrhunderts und mit einem Nachwort von Reinhard Kaiser. Die Andere Bibliothek Bd. 296 u. 297, Eichborn Verlag 2009, 764 S., Zwei Bände im Schuber, 69 Euro.
Vorzugsausgabe in einem Band 49,95 Euro.

Frankfurter Rundschau - 19.8.09 - mit freundlicher Erlaubnis der FR

Wo ansetzen bei diesem großartigen Werk der Neu-Übersetzung durch Reinhard Kaiser?
Bei den Informationen über den Simplicius Simplicissimus? Fesselnd, einzutauchen in die Geschichte: Roman, Tatsachenbericht, Schelmenroman.
Das Original online nachschlagen, Kapitel für Kapitel? Kein Problem!
Oder wollen Sie gleich zu Reinhard Kaiser übergehen, dem Frankfurter Autor und Fotografen?
Der hat einen prächtigen Illustrierten Sonderprospekt” erstellt, den zu studieren allein schon ein großes Vergnügen ist. Sie finden sich wieder in der damaligen Welt, begleiten den Autor auf den Wegen seiner Übersetzung, und werden Zeuge eines Gespräches zwischen den beiden Autoren (dem von “damals” und dem von heute)... Und schon sind Sie mitten im Thema drin.

Fast überflüssig, es zu sagen: das ist ein in jeder Weise gewichtiges  Geschenk für den Gabentisch: Ehre für den Schenkenden, Vergnügen - ein lehrreiches! - für den Beschenkten.

Lernen Sie diesen vielseitigen Autor besser kennen durch das Gespräch, das Jürgen Lentes mit ihm führte.