Dorfgeschichten, Weltgeschichte
Realschüler arbeiten filmisch die lokalen Ereignisse der letzten Kriegstage auf, entdecken Schuld und Zivilcourage
Von Iris Hilberth (Rothenburg)

Der Film ist schwarz-weiß. Weil schwarz-weiß versachlicht. Es geht um ein Dorf und um die Menschen, die dort leben und lebten. Ein normales Dorf mit normalen Menschen, wie es sie überall in Deutschland gibt. Aber das ist die ganz individuelle Geschichte von Brettheim, zwölf Kilometer südwestlich von Rothenburg ob der Tauber. Schülerinnen und Schüler haben sich auf Spurensuche begeben und fügen seit 18 Jahren die Ereignisse und Nazi-Verbrechen der letzten Kriegstage in diesem Dorf zu einem Bild zusammen. Ein Langzeitprojekt, das inzwischen weltweit Beachtung findet und die Diskussion anregt. Im Vorspann heißt es: „Dieser Film konnte nur entstehen, weil das Dorf sich seiner Vergangenheit stellte."

Alles begann 1982 auf dem Pausenhof der Oskar-von-Miller-Realschule in Rothenburg. „Weißt Du eigentlich, dass sie den Großvater des Schülers dort drüben damals in den letzten Kriegstagen im Dorf aufgehängt haben?", hatte eine Kollegin den Deutsch- und Geschichtslehrer Thilo Pohle gefragt. Nein, er hatte es nicht gewusst. Doch fand er, man sollte mehr darüber wissen. So schlug er der damals gerade gegründeten Filmgruppe vor, die Hintergründe dieser Geschehnisse zu recherchieren und einen kleinen Film darüber zu drehen.

„Wir waren sehr naiv und dachten, das geht alles so einfach", sagt Pohle heute. Doch mittlerweile weiß er, wie viel Zeit die Aufarbeitung einer solchen Geschichte bedarf. Viele Augenzeugen seien tot, und man finde auch nicht gleich jemanden, der bereit sei zu sprechen. Das ergebe sich nach und nach. Der ehemalige Ortsvorsteher Friedrich Braun hätte sehr viel für sie getan, viele Türen geöffnet. Es wurde immer wichtiger, Dokumente zu finden, in Archiven in Bayern und Baden-Württemberg, im DDR-Militärarchiv und sogar in Washington zu suchen. „Die Dorfgeschichte verästelt sich immer weiter, und am Schluss endet alles wieder im eigenen Dorf."

Der erste Film wurde 1988 fertig gestellt. In „... und man wollte doch Unheil vermeiden!" ist dokumentarisch aufgearbeitet, wie im April 1945 vier Hitlerjungen mit Panzerfäusten in das Dorf Brettheim kommen, um es gegen die heranrückenden US-amerikanischen Truppen zu verteidigen. Einige Bewohner wollen vermeiden, dass ihr Dorf im sinnlosen Kampf zerstört wird und fordern die Hitlerjungen zur Umkehr auf. Als die sich weigern, nehmen die Bewohner ihnen die Waffen ab, werfen diese in den Teich, die Hitlerjungen fliehen zu ihrer Einheit zurück. Daraufhin rückt die SS in Brettheim ein und verurteilt noch am selben Abend Bauer Friedrich Hanselmann, der sich freiwillig stellt, zum Tode. Das gleiche Schicksal ereilt Bürgermeister Leonhard Gackstatter und Ortsgruppenleiter Leonhard Wolfmeyer, weil beide sich weigern, das Todesurteil von Hanselmann zu unterschreiben. Alle drei Männer werden am 10. April 1945 an den Friedhofslinden am Ortsrand von Brettheim aufgehängt.

Nüchtern erzählen Schülerinnen die Fakten. Es ist fast wie ein Hörspiel. Nichts, was vom Gesagten ablenkt. Zwischendurch Dokumente und Interviews von Zeitzeugen. Die Tochter des Bürgermeisters erinnert sich im Film: „Ich habe im Nebenraum gesessen, als sie die Verhandlung durchführten." Ihr Vater, lieber wollte er unschuldig sterben, als dass sie ihm sein Gewissen nehmen. „Die Leute im Dorf würden das niemals als Widerstand bezeichnen", sagt Pohle, „es ist ein Beispiel von Zivilcourage, diese Menschen wussten in dem Moment, dass sie so handeln müssen."

Die Geschichte von Brettheim war mit diesem ersten Film noch lange nicht zu Ende erzählt. Inzwischen arbeitet die fünfte Schülergeneration daran, und im Mai dieses Jahres konnte „Als der Friede schon so nah war" erstmals gezeigt werden. Der Landkreis hatte 40.000 Mark locker gemacht und die Fertigstellung mit der Anschaffung neuer Schneidegeräte ermöglicht. Der Film ist nun 95 Minuten lang, die erste Version wurde ergänzt durch die Aufarbeitung der Folgetage der Hinrichtung. Die SS hatte sich eingerichtet, das Dorf zu verteidigen und eine kampflose Übergabe zu verhindern. Brettheim wurde daraufhin einen Tag lang mit Artillerie, Kampfpanzern und Jagdbombern der Amerikaner beschossen. Die Zerstörung war enorm, das Leid groß. Eine Frau erzählt: „Wer nicht den Tod eines einzelnen Kindes begreift, der begreift nie, was Krieg bedeutet."

Nicole Leca war eine der ersten Schülerinnen, die am Projekt mitgearbeitet haben. Mittlerweile ist sie 28, als „Ehemalige" aber noch immer dabei. „Es ist etwas ganz Besonderes, wenn Augenzeugen mit einem über so ein Thema sprechen", sagt sie. Am Anfang hätten sie nicht gewusst, was da auf sie zukomme. Sie waren zwölf Jahre alt, begeistert, in der Gruppe zu arbeiten. Jetzt, Jahre später, sagt sie: „Es hat mein Leben geprägt, es ist so ein Erlebnis, in so einem Alter solche Begegnungen zu haben, Einzelschicksale erzählt zu bekommen." So etwas könne man nicht aus einem Sachbuch lernen. Man nehme es einfach vom Herzen her wahr, was die Menschen eigentlich ertragen mussten.

Der erste Film wurde seit 1988 bereits 250mal vor insgesamt etwa 40.000 Zuschauern gezeigt. Nur auf Einladung. In Schulen, Jugend- oder Gemeindezentren, Stiftungen und Akademien. Die Schüler zeigen ihren Film selbst. Er wird weder kopiert noch verliehen. Und im Anschluss steht immer eine Diskussion. „Jedes Mal ist es anders, aber jedes Mal ist es wie eine Therapie", sagt Pohle, „der Film wirkt wie ein Katalysator." Oft werden sie eingeladen, wenn in einem Dorf besonders viele die rechtsradikalen Republikaner gewählt hätten. Oder wo rechtsextreme Aufmärsche stattfänden. Die Gespräche mit Dorfbewohnern über drei Generationen hinweg, häufig in überfüllten Gasträumen, zählten zu den interessantesten und bewegendsten. „Häufig kehren wir mit einer neuen Filmgeschichte heim."

Sie wollten erleben, wie die Menschen mit dem Film umgehen, und haben daher auch immer ein Gästebuch dabei. „Eines der wertvollsten Dinge, die es in dem Projekt gibt." Ein Besucher in Bonn schrieb: „Der Film zeigt, wie ganz durchschnittliche Menschen wie wir in die Schrecken des Krieges verwickelt wurden, zeigt Leid und Schuld. Versuchen wir alle, daraus zu lernen, so schwierig es oft auch ist." Doch erinnert sich Fohle auch an einen Abend, der so ganz anders verlief. Sie zeigten den Film einer Gruppe alter Männer, die sich, wie sich hinterher herausstellte, wohl einen schönen Film über die SS erhofft hatten. „Die anschließende Diskussion wurde abgewürgt", erzählt Pohle. Aber es sei mucksmäuschenstill gewesen im Saal, „und keiner ist aufgestanden und hat gesagt, das war alles nicht so". Der Pädagoge aus Rothenburg will einen Beitrag zur politischer Bildung leisten, wo sie hingehöre, in der Schule und in Jugendzentren, wo eben alle Jugendlichen anwesend seien, auch die, die sich zu den Rechten zählen. Er beobachte das jedes Mal sehr genau, wie sich manche von ihnen vor Filmbeginn verhielten, wie sie sich mit Sprüchen hervortäten, wie sie sich kleideten. Vorgefallen sei aber noch nie etwas. Im Gegenteil. „Die merken, das ist ja so, wie wenn meine Oma erzählt. Man kann sich nicht mehr davon distanzieren."

Den ersten Film gibt es mittlerweile in einer russischen und US-amerikanischen Fassung. Schüler dieser beiden Länder haben daran mitgearbeitet. Das Goethe-Institut hat eine begleitende Ausstellung verwirklicht, und auch auf die Unterstützung des Auswärtigen Amts und des Bundespresseamts kann die Projektgruppe inzwischen setzen. Doch hofft Pohle, dass sich noch mehr Geldgeber finden; denn das Projekt soll in Zukunft eine neue Dimension bekommen. Dorfgeschichten von Schauplätzen im Ausland sollen in den kommenden Jahren mit Hilfe noch lebender Augenzeugen recherchiert und vor dem Vergessen bewahrt werden.

Im Film heißt es: „Durch ihre Hilfe ist uns bewusst geworden, dass Brettheim ein Teil unserer Heimat geblieben ist. Die Brettheimer haben bewiesen, dass auch ältere Menschen für die junge Generation ein Zeichen neuer Hoffnung sein können."

Frankfurter Rundschau - 21.8.2000 - mit freundlicher Erlaubnis der FR
23.6.05