In höchster Not
Die verzweifelte Situation des Wiesbadener Ehepaares Grünbaum in der Frankfurter Liebigstraße

Von Claudia Michels

Eine der letzten Postkarten, die das Ehepaar Grünbaum in der Liebigstraße erreichte, kam im Juni 1942 von der „treuen Erna" aus Köln. „Schwere Tage liegen hinter uns", schreibt die 62-Jährige an ihre Freundin Elise Grünbaum, „und nun findet heute der Abtransport statt nach Theresienstadt in der Tschechei. Seit 4 Uhr auf den Beinen, mein Bruder ist mit dabei. Addio meine Liebe..."

Die Verzweiflung der beiden Alten in dem Untermiete-Zimmer im ersten Stock muß zu der Zeit furchtbar gewesen sein. Das aus Wiesbaden stammende jüdische Paar hatte schon dort viele Jahre der Ausgrenzung hinter sich, hatte Gold und Silber verpfändet, hatte hinnehmen müssen, daß es ihm als Juden bei Strafe verboten war, etwa nach 9 Uhr mit der Reichsbrotkarte Brot einzukaufen oder Fleisch außerhalb der Zeit von 14.30 bis 16 Uhr.

„Ich bin ja so unglücklich."

Die Schikanen lassen sich aus dem Fund unter dem Fensterbrett anhand von Pfandscheinen, einer Mitteilung der Israelitischen Kultusgemeinde und einem Schreiben des Wiesbadener Oberbürgermeisters, Abteilung Wirtschafts- und Ernährungsamt, nachvollziehen. Und zwischen den amtlichen Schreiben tauchen dauernd diese krakeligen Hilferufe auf. „Leute, ich bin ja zu unglücklich. Ich bin ja zu unglücklich", hat der 80 Jahre alte Grünbaum, Bankangestellter im Ruhestand, auf alle möglichen Papierfetzen gemalt - „Ja Ihr Leute, ich bin der größte Pechvogel."

Daß der letzte Gruß von Freundin Erna aus Köln die Grünbaums in höchster Not antraf, läßt sich aus einem anderen Schriftstück schließen. An die „Sehr geehrte Frau Grünbaum" war am 20. Mai 1942 eine Karte von Familie Wolf aus dem Frankfurter Baumweg abgegangen: „Bedaure Ihnen mitteilen zu müssen," steht da, „daß ich Ihnen kein Essen mehr geben kann, da wir von hier wegmüssen." Auch für Familie Wolf konnte das nur das Eine bedeuten. Am 24. Mai 1942 ging wieder ein Transport aus Frankfurt ab - in das Durchgangslager Izbica, südöstlich von Lublin.

Dabei waren die Grünbaums, nachdem sie jahrelang vergeblich in ganz Deutschland einen Platz in einem jüdischen Altenheim gesucht hatten, mit Hoffnungen in das Zimmer in der Liebigstraße 27b eingezogen. Sie wollten sich „das schwere Leben erleichtern", läßt sich dem einzigen Schreiben von Elise Grünbaum entnehmen. Der Brief vom September 1941 ist an ihre Vermieterin auf derselben Etage, Frau Nußbaum, gerichtet. Es gab Streit, Frau Nußbaum hatte „Ihre Zahlungsweise" beklagt.

„Sie wissen ganz genau," schreibt ihr Elise Grünbaum zurück, „daß die zu unserem Leidwesen eingetretene Verzögerung der Zahlung nicht unsere Schuld, sondern eine traurige Erscheinung der heutigen Zeit ist." Dann läßt die alte Dame ihre Enttäuschung erkennen: „Sie haben uns durch Versprechungen aller Art hereingelockt mit der immer u. immer wiederholten Versicherung, daß wir alten Leute es gut bei Ihnen haben sollten", schreibt sie - „daß wir uns bei Ihnen wohlfühlen würden u. endlich satt werden würden." Sie klagt die Vermieterin an, die wohl die Lebensmittelmarken der beiden Alten in Verwaltung hatte: „Sie haben nicht einmal den bescheidenen Wunsch des 80-jährigen Mannes erfüllt, ihm am Freitagabend ein bißchen warme Suppe zu verabreichen..."

Deportation am 18. August 1942

Wie in einem Film läuft im Hintergrund dieser armseligen Existenz das Ringen der Verwandtschaft um ein Entkommen ab. Aus Briefen konnten Grünbaums noch miterleben, wie etwa Adolf und Amalie, wohl Geschwisterkinder, die Flucht planen. „Herzlichste Grüße und Küsse, auf Wiedersehen in den USA", schreibt Amalie, als das Schiff ab Cadiz nach Übersee in Sicht ist.

Dann, am 20. Juli 1941, sagt sie mit Bleistift auf einer Postkarte von unterwegs der „lieben Tante" und dem „lieben Onkel nochmals Lebewohl: Bleibet gesund und empfanget herzlichste Grüße und Küsse". Zur gleichen Zeit ist Brief-Schreiber Max schon in New York, „es ist so fürchterlich heiß." Er berichtet den beiden Alten: „Wir hatten beabsichtigt, die Ausreise für Euch, meinen Schwiegervater und Tante Erna, wie bei V., über Kuba einzuleiten, aber leider ist vorerst Kuba geschlossen." Max schreibt noch oft: „Man wird das Leben nicht froh, wenn man so hilflos dasteht und nicht helfen kann."

Daß beide Grünbaums am 18. August 1942 nach Theresienstadt deportiert worden sind, ist den Deportationslisten im Frankfurter Jüdischen Museum zu entnehmen. Elise hat das Lager einen Monat überlebt, Meier nicht mal drei Wochen. Wenn am Dienstag gegen 15.45 Uhr vor der Liebigstraße 27b neun Stolpersteine verlegt werden, ist für sie aber keiner dabei. Der richtige Ort, an Grünbaums zu erinnern, sei der Bismarckring 27 in Wiesbaden. Dort waren sie zu Hause.

Frankfurter Rundschau - 3.11.07 - mit freundlicher Erlaubnis der FR