Eine, die kein Bohei macht
Inge Geiler geht den Lebenszeichen der Familie Grünbaum nach, die einst in ihrem (heutigen) Wohnzimmer lebte

Von Claudia Michels

Es gibt sie noch, die bürgerlich-gediegenen Westend-Wohnungen mit dem knarzenden Parkett und den hohen Flügeltüren. Man kann dort eine Welt entdecken, in der die Wohnkultur von vorgestern nach wie vor lebendig ist. Auch das Ehepaar Inge und Peter Geiler, das das Gebäude Liebigstraße 27b in Frankfurt im Jahr 1982 kaufte, hat sich mehr und mehr mit den schönen Dingen des Lebens umgeben.

In diese geordnete Welt ist der Dokumentenfund hinter der Wandverkleidung, dieses Konvolut von Zetteln, Briefen und Bescheiden, diesen Hilfeschreien aus einer erbärmlichen Zeit, wie ein Blitz eingeschlagen. „Ich hab keine Luft mehr gekriegt", schildert Inge Geiler ihr Befinden, als per Zufall ans Licht kam, daß 1941/42 zwei Verfolgte über ein Jahr lang in ihrem stilvollen Wohnzimmer gelebt haben: Elise und Meier Grünbaum, zugezogen aus Wiesbaden.

Ein altes, entkräftetes jüdisches Ehepaar, das seine Vermieterin um „ein bißchen warme Suppe" anbetteln mußte. Frau Geiler erkannte gleichwohl, daß diese Leute ebenso kultiviert waren, wie sie selber.

Im Kulturdenkmal

Sie und ihr Mann, der unten im Erdgeschoß als Zahnarzt praktizierte, wohnen seit mehr als vier Jahrzehnten in dem denkmalgeschützten Haus in der Liebigstraße, ein paar Schritte nur von der Synagoge entfernt. Man habe es damals von „einer Schweizer Lebensversicherungs- und Rentenanstalt" gekauft. Inzwischen ist das Kulturdenkmal, vor dem am kommenden Dienstag neun Stolpersteine als Erinnerung an ermordete jüdische Bewohner verlegt werden, in Eigentumswohnungen aufgeteilt. Geilers gehört die Beletage. Sie erwähnt, wie sehr sie sich freue, daß wieder ein jüdisches Paar im Erdgeschoß wohnt. Wer Inge Geiler kennt, sagt von ihr, sie sei „authentisch". Will heißen: Die ist echt. Eine, die kein Bohei macht. Als ihr die Geschichte der Grünbaums bei der Sanierung vor die Füße fiel, hat sie in ihrem Schreck alles „nur überflogen". Sie habe „gemerkt, daß es mich zu sehr packt". Darauf kamen die Papiere in einen blauen Sack und sie hat sie in den Keller gebracht. So ist es über 20 Jahre her, seit Inge Geiler die Lebenszeichen der Familie Grünbaum wahrgenommen hat. Als sich im Sommer dieses Jahres die „Initiative Stolpersteine" an die Hausbewohner wandte, rückte sie raus damit: „Ich hab' da was im Keller."

Zerbröselnde Fotos

Dann ist passiert, was sie befürchtete: Es hat sie gepackt. Dutzende verfallender Seiten Papier, zerbröselnde Fotos, hat sie mit einem Pinsel entstaubt, hat die Dokumente studiert, sortiert, gestapelt. Dann hat sie alles wieder aufs Neue ausgelegt, um die Beziehungen der Briefeschreiber zueinander zu verstehen. Sie hat sich ein Lesegerät gekauft, um die fein ziselierten Handschriften zu erfassen. Viel gebracht hat es allerdings nicht, zu oft lassen sich heutzutage nur noch Wortfetzen der Sütterlinschrift auf dem strapazierten Papier entschlüsseln.

Inge Geiler überlegt oft, „warum die nicht ausgewandert sind". Sie frage sich dann, „ob ich weggegangen wäre". Ihre Ahnung ist: „Man konnte wohl einfach nicht glauben, was kommt."

Frankfurter Rundschau - 3.11.07 - mit freundlicher Erlaubnis der FR