Zwei „unbesungene Helden" aus Bockenheim
Das Frankfurter Ehepaar Fritz und Margarete Kahl gehört seit 2006 in die Reihe der „Gerechten unter den Völkern" der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem. Zuhause dagegen scheinen die Bockenheimer vergessen.

VON CLAUDIA MICHELS (FRANKFURT)

Fritz Kahl war als Pfarrerssohn in Bockenheim groß geworden. Er hatte im Lessing- Gymnasium Abitur gemacht, den Ersten Weltkrieg als Soldat erlebt, in Marburg Medizin studiert und sich dann in Frankfurt als praktischer Arzt niedergelassen, ab 1938 in der Bockenheimer Blanchardstraße 22.

Dort, unter dem hohen Walmdach eines Wohnhausblocks im Villenviertel des Arbeiterstadtteils, hielten Fritz Kahl und seine Frau Margarete im Winter 1943 einen jüdischen Lager-Flüchtling vor der Gestapo versteckt - vier Wochen lang, in einem Verschlag. Der junge Mann hieß Robert Eisenstädt, stammte aus Hanau und war nach Jahren der Haft, Zwangsarbeit und schließlich der Flucht aus dem Konzentrationslager mit 24 Jahren ein gebrochener Mann. Die Kahls haben ihn gerettet. Und einige vor ihm; der junge Eisenstädt war nicht der erste.

Fritz Kahl war nach den Recherchen der Berliner Antisemitismus-Forscherin Beate Kosmala „einer von drei Ärzten in Frankfurt, von denen bekannt war, dass sie auch Juden behandelten". Trotz Boykotts und Ausgrenzung, die schon im Frühjahr 1933 begannen. So hat es der Sohn Eugen Kahl der Forscherin berichtet.

Eugen Kahl, Arzt wie sein Vater, hat am 21. August dieses Jahres in der Berliner Israelischen Botschaft für seine Eltern Ehrenurkunde und Plakette aus Israel entgegen genommen. Die Namen von Fritz und Margarete Kahl dürften inzwischen auch an der Mauer der Gerechten der Jerusalemer Gedenkstätte angebracht sein, wie es Yad Vashem im Frühjahr den beiden noch lebenden Söhnen in einem Schreiben angekündigt hat.

In Frankfurt dagegen, jedenfalls am heute denkmalgeschützten Bockenheimer Haus Blanchardstraße 22, fehlt ein solches Erinnerungszeichen an die mutigen Leute. 41 Jahre lang hatte Fritz Kahl im Stadtteil praktiziert - die längste Zeit in dem bürgerlich-gediegenen Gebäude Blanchardstraße 38, wo die vielen Messing-Klingelschilder heute keine Namen mehr, nur noch Abkürzungen tragen.

Moskauer Rundfunk in der Praxis

Die gepflegte Adresse, berichtet die Frankfurter Historikerin Barbara Bromberger, war in der Zeit der Diktatur nicht nur Zufluchtsort, sondern auch konspirativer Treffpunkt: Frankfurter Widerstandskämpfer, „die an ihrem Arbeitsplatz und in ihren Wohnungen polizeilich überwacht wurden, erhielten von ihrem Hausarzt Dr. Kahl das Angebot, in seiner Praxis in Bockenheim den Moskauer Rundfunk abzuhören". „Unbesungene Helden" nennt Widerstands-Forscher Arno Lustiger das Ehepaar Kahl, „Menschen, die in der großen Massenhysterie der damaligen Zeit ihre humane Gesinnung nicht verloren haben". In höchster Gefahr: Menschlichkeit gegenüber Ausgegrenzten konnte mit der Höchststrafe, nämlich dem Todesurteil, geahndet werden.

Der Bockenheimer Arzt wußte, dass der nationalsozialistische Staat seinen jüdischen Patienten nach dem Leben trachtete. „Ich habe zum ersten Mal im Jahr 1942 geheim aufgenommene Aufnahmen gesehen von Massenexekutionen", berichtet Fritz Kahl in den Sechzigern, zwei Jahrzehnte nach Kriegsende, in einem Interview. Er habe damals auch „mehrere Leute gesprochen, die in Konzentrationslagern gewesen sind". So füllt sich die Familienwohnung in der Blanchardstraße. Die ersten Zuzügler sind zwei Schwestern mit Namen Müller, die nach Erhalt des Nazi-Befehls zur „Evakuierung nach dem Osten" um Hilfe bitten und aufgenommen werden. Die eine, Eva Müller, ist die Verlobte des jungen Eisenstädt, den Familie Kahl später im Dach einquartiert.

Wie die beiden Verfolgten aus Nazi-Deutschland und über die Schweizer Grenze geschleust werden, das ist der Stoff für einen Roman. Die Lage des Robert Eisenstädt spitzt sich zu, als einer der Kahl-Söhne, der 16-jährige Luftwaffenhelfer Eugen, ihn in seinem Verschlag entdeckt. Ohnehin wächst bei Großmutter und Tante im Stockwerk untendrunter die „große Angst vor der Entdeckung", referiert Beate Kosmala.

In die Geschichte treten nun zwei Pfarrer und ein Polizist ein, die eingeweiht werden, weil sie Kontakte zu Fluchthelfern haben. Der Polizist besorgt den falschen Paß für den jungen Mann, Fritz Kahl bringt mit Hilfe des Beamten auf illegalem Weg den Paß einer Arbeitsdienstführerin an sich, um auch Eva Müller außer Landes zu bringen. Zum Schluß übernimmt Margarete Kahl, die ihr Sohn Eugen heute als „eher ängstlich" beschreibt, die Hauptrolle: Sie fährt mit dem jungen Paar per Bahn ins Bodenseegebiet, Richtung Schweizer Grenze. Sie läuft mit Robert Eisenstädt, der so schwach ist, dass er am Stock gehen muß, und seiner schwangeren Verlobten so lange, bis sie eine Stelle finden, wo man über ein Drahtverhau in die Schweiz klettern kann. Am 21. Februar 1943 ist das Paar in Sicherheit. Im Juli 1943 wird in Basel die Tochter geboren.

1947 ist die Familie Eisenstädt, die ihr Leben dem Bockenheimer Ehepaar Kahl verdankt, in die USA ausgewandert. Margarete Kahl und ihr Mann Fritz sind hier geblieben, sie ist 1957 gestorben, ihr Mann 1973. „Ihre mutige Hilfe", referierte Beate Kosmala bei der posthumen Ehrung in Berlin, „blieb in Frankfurt unbeachtet". So ist es heute. 1945 hatten die US-Truppen den Arzt zum „City Health Director" gemacht, was laut FAZ von 1966 so viel war, wie „ein Bürgermeister, dem das Gesundheitswesen untersteht".

Frankfurter Rundschau – 8.11.06 - mit freundlicher Erlaubnis der FR