Frankfurter Rundschau, Samstag, 1. Oktober 2005
Ein Land wird 60 -
Die Frankfurter Rundschau schaut zurück. Oft war Hessen beispielgebend, etwa als es um die Modernisierung des Staatswesens, die Infrastruktur und die Wirtschaftsentwicklung ging. Wie ist es um das Land bestellt, dessen Grenzen die US- Militärregierung gezogen hat?

60 JAHRE HESSEN
 

Hessen hat Geburtstag

Das Land von Lottoziehung und Startbahn West, von Schulkampf und Wetterkarte feiert heute die Gründung vor 60 Jahren.
VON MICHAEL GRABENSTROER

Die Überväter Hessens heißen Dwight D. Eisenhower und Georg August Zinn, will man die Geschichte auf Persönlichkeiten verengen. Der Siegergeneral unterzeichnete 1945 die Proklamation Nummer 2, die Geburtsurkunde des Landes „Groß Hessen". Der SPD-Politiker Zinn prägte das Land wie kein zweiter. Zinn führte von 1950 an fast zwei Jahrzehnte lang zusammen, was damals und manchmal auch heute noch nicht zusammengehört, schmiedete ein Hessen aus dem nördlichen Landesanteil und der Südregion, aus dem Zonengrenzland an der Rhön und dem Rheingau, stärkte das Wir-Gefühl auch für hundertausende heimatlose Flüchtlinge mit seinen Hessentagen und Dorfgemeinschaftshäusern.

„Groß-Hessen" - dieser Begriff wurde schnell gestrichen. Es blieb „Hessen vorn" übrig, das Durchgangsland in der Mitte Deutschlands, das viele Entwicklungen wie in einem Brennglas vorwegnahm, „Große Hessenpläne" und viele „Rahmenrichtlinien" im hessischen Schulkampf vorlegte. Richtungsweisend aus der Mitte.

Natürlich lassen sich 60 Jahre nicht auf die höchsten Hochhäuser, die RAF-Attentate und Terroristen-Verhaftungen, Buchmessen oder Politiker- und Weltmeisternamen zusammenschmelzen. Hessen-Geschichte schrieb auch Holger Börner in den hektischen Flughafenausbautagen. Aber nicht nur die Wolkenkratzer in Frankfurt hoben Hessen über das Mittelmaß anderer Bundesländer hinaus. Es waren da Politiker wie Joschka Fischer, der erste grüne Minister.

Und auch der amtierende Ministerpräsident Roland Koch hat seinen Eintrag im hessischen Historienkalender sicher - als erster Christdemokrat, der in diesem Land die absolute Mehrheit, jedenfalls der Sitze, holte. Hessen hat bislang alle Image-Dellen überstanden - die Schlachten im Häuserkampf um Frankfurt, als die Main-Metropole bundesweit als „Krankfurt" verunglimpft wurde, ebenso wie den Kampf um die Startbahn West. Hessen prägte bundesweite politische Diskussionen, etwa um die Integrations- und Schulpolitik, hatte den ersten Datenschutzbeauftragten und exerzierte bei den Hanauer Nuklearbetrieben als erstes einen Teilausstieg aus der Atomindustrie vor.

Das Land ist ein amorphes Gebilde

Hessen, das war die Geburtsstunde von Rot-Grün und Sprungbrett für den Aufstieg eines Joschka Fischer vom Taxi-Fahrer zum Bundesaußenminister, eine Art Tellerwäscher-Karriere in hessischer Ausformung. Hessen blieb trotzdem aus bundesweiter Sicht ein amorphes Gebilde. Ein Land, in dem die wichtigste Stadt nicht die Landeshauptstadt ist, lässt am Sitz der Landesregierung in Wiesbaden immer ein wenig Bonn-Gefühle aufkommen. Von außen betrachtet, also schon von Mainz, ist Frankfurt das Kernland, um das sich Hessen gruppiert, der Brennpunkt, auf den sich Hessen konzentriert. Frankfurt ist aber nicht Hessen.

Täglich Hessen gab es mit der Einführung der Tagesschau für die Fernsehzuschauer. Die Wetterkarte kam aus Offenbach. Einmal wöchentlich werden die Zahlen-Zocker bedient und in der Regel enttäuscht - von der

Lottofee des Hessischen Rundfunks, der selbst mangels hessenweiter Identifikationsfigur einen „Onkel Otto" zur Werbefigur erhob. Hessen ist das Land, das Millionäre macht, jedenfalls werden dort die Zahlenkombinationen bekannt gegeben - im Lotto-Studio ebenso wie an der Börse. Seit Shareholder Value die Republik stärker umtreibt als die Entwicklung der Arbeitslosenzahlen, zählt die Börse mit ihren täglichen „Ups and Downs" zum Dauernachrichten-Muss auf allen Kanälen. „Wir schalten nun zur Börse nach Frankfurt." Werbung für Hessen.

60 Jahre Hessen, das sind für die Republik auch 60 Jahre Wahrnehmungen aus der Mitte Deutschlands. Gewiss, die Mitte hat sich ein wenig nach Osten verschoben. Hessen ist in der Wahrnehmung aber immer noch stark präsent, egal ob es um den Flughafen-Ausbau, den Ausbau der Verkehrsachsen in Ost-West-Richtung, die Sicherung des Bankenplatzes Frankfurt geht. Im Transitland Hessen werden seit sechs Jahrzehnten Weichen gestellt und ist das Frankfurter Kreuz ein Knotenpunkt nicht nur für die Verkehrsströme.

Wer die Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland fundiert wahrnehmen will, der muss einfach nach Hessen schauen. Denn in der Landeshauptstadt Wiesbaden, einer Stadt im Glanz des Historismus, der zur richtigen Landeshauptstadt aber der Klammerring der Verbände und dauerpräsenten Lobby-Gruppierungen fehlt, laufen alle Daten zusammen - im Statistischen Bundesamt in Wiesbaden. Wer sich zur Entwicklung in Deutschland äußern will, der findet in Hessen nicht nur ein Land mit mehr oder weniger Vorbildcharakter, sondern auch das aufbereitete Datenmaterial. Hessen ist ein Bundesland, in dem die Kurse und Entwicklungen eben nicht nur an der Börse bestimmt, sondern beispielsweise alle vier Jahre auf der Documenta in Kassel vorgegeben werden. Da ist das Land dann wirklich international wegweisend modern und nicht nur Abflugs- oder Ankunftsort - ein Hingucker für die ganze Welt der Kunst. Und die hessische Weltstadt heißt dann für einige Monate Kassel.

Frankfurter Rundschau - 1.10.2005