Was heute in Deutschland wieder sein Haupt erhebt, die Mächte der Vergangenheit und der Gegenrevolution, wäre längst nicht mehr vorhanden, es wäre ausgetilgt worden, wenn nicht die deutsche Revolution von einer Gutmütigkeit gewesen wäre, die echt deutsch war und die wir nicht tadeln, sondern bewundern wollen. Aber die deutsche Republik muß den Glauben an ihre Kraft und ihr Recht lernen; sie soll wissen, wie stark sie im Grunde ist und welche unerschütterten moralischen und geistigen Kräfte ihr auch heute zur Seite stehen, wo scheinbar das Feindliche triumphiert.

Thomas Mann 1932

VIII. Die Nazis gewinnen an Boden

Die NSDAP war nicht nur für die Landbevölkerung attraktiv. Ihre Programmatik wandte sich auch an die vielen von jüdischer Konkurrenz bedrängten Mittelständler. Hitler versprach, die jüdischen Warenhäuser und die gewerkschaftlichen Konsumvereine zu bekämpfen. Ihnen wurde vorgeworfen, sie ruinierten den 'ehrbaren deutschen Kaufmann' mittels riesiger Umsätze. Davon konnte allerdings keine Rede sein: Der Warenhausumsatz belief sich auf nur vier Prozent des Gesamtumsatzes im Einzelhandel, die Konsumvereine kamen nicht über fünf Prozent hinaus.

Dennoch wirkte diese Propaganda auf das Volk der Heringsbändiger. Die Reichstagswahlen ab 1930 zeigen, daß die Nationalsozialisten in Gelnhausen hohe Stimmengewinne erzielen konnten, ab 1932 sogar Stimmengewinne, die weit über dem Reichsdurchschnitt lagen.

Die wirtschaftliche Situation nach der Weltwirtschaftskrise 1929 hatte sich überall verschärft. Wie immer in Überproduktionskrisen war die Warenproduktion unaufhörlich gesteigert worden. Dieser Entwicklung stand jedoch keine entsprechende Kaufkraft gegenüber. Im Gegenteil: Verschärfte Ausbeutung der Ware Arbeitskraft ließ die Geldeinkommen der breiten Massen - im Vergleich zur Produktion - sogar sinken. Zwangsläufig wurde weltweit ein großer Teil der Produktion stillgelegt, was zur Folge hatte, daß die Zahl der Erwerbslosen und Kurzarbeiter unaufhörlich anstieg. Die Marktwirtschaft forderte ihren Tribut. In Deutschland wurde diese Entwicklung noch verstärkt durch die zu leistenden hohen Reparationszahlungen des verlorenen Ersten Weltkrieges. Der sozialdemokratische Traum von einer krisenfreien Entwicklung des Kapitalismus durch eine antizyklische Wirtschaftspolitik war damit zu Ende geträumt.

Waren die Arbeitslosenzahlen schon während der gesamten zwanziger Jahre bedrückend hoch, so wuchsen sie jetzt ins Unerträgliche. Im Kreis Gelnhausen wurde die Zahl der Arbeitsplätze im gewerblichen Bereich zwischen 1927 und 1932 um 23 Prozent reduziert, im Kreis Hanau sogar um 33 Prozent.

Die Menschen haben das Gefühl, daß es so nicht weitergehen kann. Sie suchen nach Alternativen. Das zeigt sich deutlich im Anstieg der Wählerstimmen für Nationalsozialisten und Kommunisten. Im Gegensatz zur heutigen Zeit ist die Wahlbeteiligung in diesen letzten Jahren der Weimarer Republik ausgesprochen hoch; sie liegt kontinuierlich bei über 80 Prozent.

Die Wirtschaftskrise im Kreis Gelnhausen:
Zahl der gewerblichen Arbeitnehmer/innen

Jahr:

1927

1932

Steine - Erden

1324

876

Papierindustrie

403

247

Kautschuk - Asbest

424

461

Holz - Schnitzstoff

284

226

Nahrungsmittel

1657

1228

Bekleidung

167

26

Gesundheitswesen

44

145

Sonstige Gewerbe

298

330

Summe

4601

3539

Den Nazis gelingt es auch, die Frauen für sich einzunehmen. Freilich hatten auch andere Fraktionen vom rechten Rand schon im Trüben zu fischen versucht: die DNVP will ebenfalls die deutsche Frau in die nationale Kampffront eingliedern. Im Februar 1932 berichtet das Gelnhäuser Tageblatt über eine Veranstaltung deutschnationaler Frauen im Schloß in Meerholz. Sie propagieren die 'Kulturabgabe' der Frau - wie könnte es anders sein - in Kirche, Schule und Familie. Noch marschieren sie getrennt von der NSDAP; diese ist allerdings viel erfolgreicher im Entdecken der Frau als Wählerin. Kurz nach der Zusammenkunft in Meerholz rufen die Nazis zu einer Kundgebung für die Frauen im Saal der Gaststätte 'Hoffnung' in Gelnhausen auf. Nahezu 50 Frauen hätten sich an diesem Abend bereiterklärt, in die NS- Frauenschaft einzutreten, berichtet Ortsgruppenleiter Heinrich Kreuter im Gelnhäuser Tageblatt stolz.

Einige Monate später werben die Nationalsozialisten nochmals in der 'Hoffnung'. Wiederum ist der Saal überfüllt und Kreisleiter Wilhelm Kausemann kann am Schluß resümieren, daß fast hundert Frauen in Frauenschaft und BdM eingetreten sind.

Im Jahr 1932 zeichnet sich der Untergang der Weimarer Republik bereits ab. Der 85-jährige Reichspräsident Hindenburg wird im Frühjahr des Jahres erneut als Staatsoberhaupt bestätigt. Anders als 1925 wird der ehemalige kaiserliche Feldmarschall diesmal sogar mithilfe der SPD ins höchste Amt der Republik gewählt, in der naiven Annahme, er sei ein verfassungstreuer Republikaner und damit das kleinere Übel gegenüber den anderen Kandidaten - Thälmann von der KPD und Hitler von der NSDAP.

„Wählt Hindenburg, damit Hitler nicht an die Macht kommt!", war die Parole der Sozialdemokraten. Wie der Verlauf der Geschichte zeigt, war dies ein verhängnisvoller Irrtum; denn es bestätigte sich im nächsten Jahrzehnt, was die Kommunisten bei dieser Wahl prophezeit hatten: „Wer Hindenburg wählt, wählt Hitler, wer Hitler wählt, wählt den Krieg."

Wenn es nach den Gelnhäusern gegangen wäre, dann wäre nicht Hindenburg, sondern Hitler 1932 Reichspräsident geworden; denn er bekam in Gelnhausen bereits bei dieser Wahl fast 50 Prozent. Auch in den meisten Ortschaften des Kreises hatte Hitler eine satte Mehrheit.
Die Nazis umwerben die Frauen...

Die Nazis umwarben auch die Frauen. Hier eine Veranstaltung in Gelnhausen, Gelnhäuser Tageblatt vom 18. Februar 1932
Die deutsch-nationalen Frauen

Im Schloß in Meerholz trafen sich die Deutschnationalen gern. Das Aquarell des Schlosses stammt von Graf Gustav zu Ysenburg und Büdingen. Im Dunstkreis der stramm rechts stehenden Gräfin Thekla, seiner Frau, organisierten sich die deutschnationalen Frauen der Region.
 

Die rechten Regierungen 1930 bis 1932 unter Heinrich Brüning und Franz von Papen - beide Männer des katholischen Zentrums, letzterer wird allerdings 1932 von seiner Partei ausgeschlossen - herrschen mit Notverordnungen, weitgehend unabhängig vom Reichstag. Sie bescheren den Unternehmern großzügige Steuererleichterungen, den Arbeitern Herabsetzung der Löhne und den Arbeitslosen immer wieder Kürzungen der Sozialleistungen - Maßnahmen, die als Politik der 'Hunger-Notverordnungen' in die Geschichte eingingen. Von Papen besitzt aufgrund des Artikels 48 der Weimarer Verfassung diktatorische Vollmachten, er entläßt demokratisch gesinnte Verwaltungs- und Polizeibeamte und läßt erstmals auch sozialdemokratische Tageszeitungen für mehrere Tage verbieten. Er leistet mit seinem 'Kabinett der Barone' bei der Knebelung der Linken nützliche Vorarbeit für den Faschismus.

Reichspräsidentenwahl 10. April 1932 (2. Wahlgang)

 

Hindenburg

Hitler

Thälmann

Stadt Gelnhausen

38,0%

49,9%

12,1%

Kreis Gelnhausen

48,4%

39,7%

11,9%

(ohne Stadt Gelnhausen)

 

 

 

Deutsches Reich

53,0%

36,8%

10,2%



Reichstagswahl am 31. Juli 1932
in der Stadt Gelnhausen, im Kreis Gelnhausen und im Deutschen Reich, Prozentualer Anteil der abgegebenen gültigen Stimmen

 

NSDAP          

SPD

Zentrum

DDP

DNVP

DVP

KPD

sonst.

Stadt Gelnhausen

52,6%

14,0%

9,0%

0,7%

6,6%

3,5%

12,7%

0,9%

Kreis Gelnhausen(ohne Stadt Gelnhausen)

40,0%

16,4%

25,4%

0,4%

3,0%

0,5%

13,3%

1,0%

Deutsches Reich

37,4%

21,6%

12,5%

1,0%

5,9%

1,2%

14,3%

6,1%



Reichstagswahl am 6. November 1932
in der Stadt Gelnhausen, im Kreis Gelnhausen und im Deutschen Reich, Prozentualer Anteil der abgegebenen gültigen Stimmen

 

NSDAP

SPD

Zentrum

DDP

DNVP

DVP

KPD

sonst.

Stadt Gelnhausen

47,8%

12,6%

7,7%

0,6%

10,0%

4,7%

15,6%

1,0%

Kreis Gelnhausen(ohne Stadt Gelnhausen)

39,4%

15,2%

25,5%

0,3%

3,0%

0,7%

15,2%

0,7%

Deutsches Reich

33,1%

20,4%

11,9%

1,0%

8,9%

1,9%

16,9%

5,9%



Die Sozialdemokratie hätte vielleicht im Bündnis mit den Kommunisten der rechtsradikalen Staatsmacht unter Papen und ein halbes Jahr später unter Hitler Einhalt gebieten können. Sie tat es nicht. Sie ahnte vermutlich, daß das ihren Tod bedeuten könnte, zugunsten einer kommunistischen Republik. Also verharrte sie in Untätigkeit und rief die Massen zur Disziplin auf. Das sozialdemokratisch ausgerichtete Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold war einst als Wehrverband gegründet worden, um die Republik zu verteidigen. Nun, im Sommer 1932, war diese in äußerster Gefahr: Reichskanzler von Papen hatte durch einen kalten Staatsstreich die sozialdemokratische preußische Landesregierung abgesetzt. Viele Reichsbanner-Ortsgruppen warteten jetzt auf den Einsatzbefehl zur Verteidigung der Republik - der aber nicht kam. Die Republik wurde nicht verteidigt. Sie fiel den Faschisten ein halbes Jahr später wie eine reife Frucht in den Schoß. Hitler ergriff nicht die Macht, weder mit parlamentarischer Mehrheit, die er nicht hatte, noch mit revolutionärer Gewalt. Er wurde durch den Reichspräsidenten von Hindenburg ernannt, und diese Ernennung vollzog sich gemäß den Regeln der Verfassung und unter den Bedingungen der Weimarer Republik.

In Gelnhausen allerdings hatte Hitler schon vorher gesiegt - nicht nur bei der Wahl des Reichspräsidenten, sondern auch bei den Reichstagswahlen im Juli und November 1932.

Die Diktatur von rechts beginnt also hier bereits ein halbes Jahr bevor Hitler von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt wurde. Kein Wunder, daß die SA schon 1932  selbstbewußt in den Straßen Gelnhausens auftreten kann.

Aus:
Schleichend - und dann immer offener!