Ganze Literaturen
In erlesenen Ausdrücken verfaßt
Werden durchsucht werden nach Anzeichen
Daß da auch Aufrührer gelebt haben,
wo Unterdrückung war.

Bert Brecht

III.  Wirtschaftliche Misere

Der verlorene Erste Weltkrieg hatte eine wirtschaftliche Misere ohnegleichen hinterlassen. Die neuen Freiheiten, die die Weimarer Republik gewährte, waren überschattet von wirtschaftlicher Not: Nahrungsmittelknappheit, Wohnungsnot und Arbeitslosigkeit bestimmten den Alltag der breiten Bevölkerungsschichten. Die Geldentwertung hatte schon während des Krieges eingesetzt. Es nützte nichts, daß die Regierung gewaltige Mengen von Banknoten drucken ließ, denn bei gleichzeitig verringertem Warenangebot bewirkte das nur eine unerhörte Entwertung der Mark. 1923 erreichte die Inflation ihren Höhepunkt. Die Löhne blieben bei der raschen Entwicklung immer weiter hinter den emporschnellenden Preisen zurück.

Erst im Dezember 1923 sinken die Preise. Die Rentenmark wird eingeführt und die Währung erlangt wieder Stabilität. Für die Masse des Volkes hatte die Inflation Entbehrung und Elend gebracht. Auch die Mittelschichten verarmten.

Bitterste Not veranlaßte die Bewohner vieler Dörfer im Altkreis zur Wilddieberei. „Die Armut zwang die Menschen nicht nur in Wittgenborn, sondern im ganzen Büdinger Land, dem illegalen Waidwerk nachzugehen. Zeitweilig bekriegten sich die Förster und Wilddiebe regelrecht. Die Not war ...so groß, daß man die Kinder zum Betteln ausschickte ...," so heißt es in einem Bericht über die Ortschaften um Wächtersbach. Auch in den Dörfern des Spessarts ist die Wilderei verbreitet. Im südöstlichen Teil des Altkreises kommt der 'Wilddieb' Heinz Fischer aus Kempfenbrunn dabei auf tragische Weise ums Leben. Er wird am 25. September 1919 vom Förster Baust aus Lohrhaupten erschossen.

Der Pfarrer von Kempfenbrunn berichtet, daß in dieser Zeit „offen und ohne Scheu " Wild geschossen und Holz gestohlen wurde, und hält das nicht etwa für eine Folge des Krieges und der drückenden Armut, sondern für eine Folge der Revolutionszeit. Bezeichnenderweise nannte man das gestohlene Holz 'Spartakus-Holz', erinnernd also an den Kampf gegen die Sklaverei in der Antike und den gerade entstandenen Spartakusbund, dem Vorläufer der Kommunistischen Partei.

Wie Heinz Fischer zu Tode kam, ist leider nur von der Obrigkeit schriftlich überliefert, nicht von der wildernden Bevölkerung. Der Bürgermeister von Kempfenbrunn, Karl Henß, berichtet, daß der Wilddieb dem Förster „ins Messer gelaufen" sei: „Baust rief halt, Heinz legte an, aber Baust war schneller und schoß ihn tot."

Nun - es war niemand dabei. Dies ist die Version des Försters Baust. Ob er wirklich in Notwehr handelte, ist fraglich. Denn bemerkenswert ist, daß es danach fast zu einem Aufstand in Kempfenbrunn kommt: In Windeseile hatte sich die Nachricht vom Tod des Heinz Fischer herumgesprochen. Am nächsten Morgen zieht eine mit Knüppeln und Stöcken bewaffnete Menge zur Oberförsterei nach Flörsbach.
Kaisertreu - die Büttel ihres Herrn

Die Forstbeamten waren gewichtige Amtspersonen, die die Interessen der Obrigkeit vertraten. Hier ein Gruppenbild von Förstern 1910 im Fischbachtal.

Oberförster Fuchs hatte seinem Untergebenen Baust geraten, das Weite zu suchen, weil er um sein Leben fürchten mußte.

Die Menge fordert: „Heute nacht ist der Heinz Fischer aus Kempfenbrunn draußen in der Haurainspitze an der bayerischen Grenze erschossen worden und wir verlangen, daß die Förster von Lohrhaupten um zehn Uhr an der Ziegelhütte erscheinen und den Toten suchen helfen."

Für die Förster wurde es bedrohlich. Das Gelnhäuser Tageblatt berichtet darüber: „Am Freitag holten Bewaffnete den Forstmeister aus seinem Haus und nahmen ihn unter Todesdrohung mit nach dem Tatplatze und mißhandelten ihn schwer. Es waren 40 bis 60 Bewaffnete, die sich dabei einfanden. Der Mißhandelte mußte weggetragen werden."

Wie verhaßt die Förster und Hegemeister als Repräsentanten der Obrigkeit gewesen sein müssen, läßt sich denken. Einer nahm den Hegemeister Voss beim Kragen und sagte: „Mein Freund, heute gehst Du mit! Ob Du nochmals zurückkommst, wissen wir nicht."

Der Haufen erzwingt die Begleitung sämtlicher Förster zum Tatort. Auch Bürgermeister Henß geht mit. Nach seiner Einschätzung ging es nicht darum, den Toten zu suchen: „Ich war den Förstern ihr Glück, denn sie hätten Voss im Walde totgeschlagen ... Sie wollen die Förster im Walde haben, wo es keiner gesehen hätte und da war ich ihnen im Wege und das war für die Herren ein Glück."

Es gibt keine weiteren Toten. Nachmittags rückt die Reichswehr in Kempfenbrunn ein, die Häuser werden nach Waffen durchsucht - allerdings ohne Erfolg - und die Staatsmacht stellt Ruhe und Ordnung wieder her. Einige Tage später wird Heinz Fischer begraben. „Das Dorf war durch zwei Kompanien Reichswehr abgesperrt und besetzt. Hinaus kam man nur mit Ausweis... Beim Begräbnis stand ein Maschinengewehr schußfertig auf dem Friedhof ...," so berichtet es der Pfarrer.

Not und Erniedrigung bringen früher oder später Aufbegehren und Empörung hervor, in welchen verfremdeten Formen auch immer. Eruptiv bricht der Zorn hervor, wenig zielstrebig, wenig organisiert und dennoch gegen Verhältnisse gerichtet, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes und verächtliches Wesen ist.

Im Mai 1923 berichten die Quellen noch von einem anderen Aufbegehren, einem Streik bei der Aktiengesellschaft Gebrüder Adt in Wächtersbach. Firmenchef Hans Adt teilt dem Wächtersbacher Bürgermeister mit, daß die gesamte Arbeiterschaft seines Betriebes, 340 Personen, streikt. Seiner Meinung nach war niemand zur Arbeitsniederlegung berechtigt. Mitte Mai 1923 gab es bei Lohn Verhandlungen zwischen Unternehmer und Arbeitern keine Einigung. Der nun folgende Schiedsspruch des Schlichtungsausschusses wurde von den Arbeitern offensichtlich nicht akzeptiert. Jedenfalls versuchen die Betriebsräte einige Tage später eine Betriebsversammlung während der Arbeitszeit einzuberufen, was von Herrn Adt jedoch abgelehnt wird. Die Folge: Gegen elf Uhr verläßt die Mehrheit ihre Arbeitsplätze und hält ohne Zustimmung vom Chef eine Versammlung ab: Der Schiedsspruch wird nun mit 286 Stimmen abgelehnt. Auch neue Verhandlungen zwischen der Gewerkschaft und der Firma Adt bleiben erfolglos. Schließlich kommt es zu Kampfmaßnahmen seitens der Arbeiter, also zum Streik. Leider muß unklar bleiben, wie die Sache ausging, denn das Gelnhäuser Tageblatt berichtet darüber nichts.

Das gleiche gilt für einen Streik zwei Jahre später bei der Gummifabrik Veritas in Gelnhausen, der sich offenbar über Wochen hinzog. Die Veritas bezahlte ihre Arbeiter mit einem Hungerlohn weit unter Tarif: 34 bis 37 Pfennig die Stunde für männliche Arbeiter. Wieviel niedriger die Frauenlöhne waren, ist leider nicht überliefert. Der Arbeitgeberverband, dem die Firmenleitung angehörte, hatte den Tarif auf 46 bis 50 Pfennig festgesetzt. Aber „Herr Poppe findet es nicht ... nötig, daß er den Anordnungen seines Verbandes Folge leistet," empören sich die Gummiarbeiter. In der Tages-Zeitung für den Kreis Gelnhausen veröffentlicht die Belegschaft der Veritas einen Aufruf an die Bevölkerung, ihren Streik zu unterstützen: „Wir sind in den Streik getreten und kämpfen um unser gutes Recht ... Wir haben doch als Arbeiter ein gewisses Recht, unsere Familien anständig durch das Leben zu führen. Wir rufen Euch, werte Mitbürger zu, helft in unserem gerechten Kampf gegen diese brutale Gewalt, denn unsere Forderungen sind gerecht."

Über ein Jahr entlohnte die Firma Veritas weit unter Tarif, immer mit dem Hinweis auf die schlechte Auftragslage. In einem Flugblatt rechneten die Arbeiter den Herren Poppe und Hannemann von der Direktion vor, daß jede Familie im Jahre 1924 etwa 350 Mark mehr gehabt hätte, wenn man sich an die tariflichen Vereinbarungen gehalten hätte. „ ... manche Not und Entbehrung [hätte] gelindert, manches Hemd, manches Paar Schuhe [hätte] gekauft und auch die Kolonialwaren brauchten nicht viertelpfundweise, sondern pfundweise geholt werden können."

Nachdem der Tarif zum 1. Februar 1925 auf 55 Pfennig pro Stunde festgesetzt wurde, die Firma aber weiterhin bei ihrer Unterbezahlung blieb, „kam das Pulverfaß am 7. Februar zur Explosion. Wie ein Mann stand die ganze Belegschaft einig da, vom ältesten bis zum jüngsten, mit Ausnahme von drei Personen, die im Betrieb verblieben und noch weiter das soziale Empfinden der Firma erwarten. "

Nun macht die Gegenseite Angebote, die den Arbeitern jedoch allzu dürftig erscheinen. In einer Streikversammlung werden sie einstimmig abgelehnt. Ein Flugblatt des Verbandes der Fabrikarbeiter Deutschlands berichtet von der Taktik der Firmenleitung: „Nun versucht man durch schöne Komplimente, Versprechungen und sogar durch Schnaps (Junkerfusel) einzelne Leute zur Aufnahme der Arbeit zu bewegen, ja, es sollen sogar die Arbeitslosen am Orte angehalten worden sein, um Streikarbeit zu verrichten. Ist es diesen Arbeitslosen bekannt, daß die Direktion der Gummifabrik versuchte, die Unterstützungssätze für Gelnhausen zu ermäßigen, damit dieselben nicht an die Löhne der Gummiarbeiter heran reichen? Wir warnen Euch vor diesem Verrat an den Streikenden. Noch nie war ein Streik berechtigter wie dieser ..."
 

Was hier als Vermutung geäußert wird, daß nämlich die Werksleitung nach Streikbrechern sucht, bestätigt ein Blick in die Gelnhäuser Zeitungen. Da werden wochenlang „Jugendliche Arbeiter und Arbeiterinnen" für die Veritas gesucht.

Offensichtlich hatte der Arbeitskampf in der Gummifabrik auch Auswirkungen auf die anderen Betriebe in der Region. „So hat die Firma Keßler den Lohn auf 42 Pfennig, die Firma Ullrich auf 45 Pfennig und die Klinkerwerke Meerholz auf 51 Pfennig erhöht. Gleichzeitig wollen wir aber auch feststellen, daß in anderen Bezirken die Ziegelindustrie für die äußerst schwere Arbeit schon 70 Pfennig bezahlt, deshalb ihr Arbeiter von Gelnhausen und Umgegend, die Augen auf und erkämpft Euch dieselben Lohnsätze, damit uns bei den Verhandlungen nicht wieder die niedrigen Lohnsätze und die Schmutzkonkurrenz Eurer Firmen entgegen gehalten wird. Seid einig wie die Belegschaft der Gummiwerke und verlangt den im Tarif festgelegten Lohn."

Ob es den Arbeitern schließlich gelang, den Tariflohn durchzusetzen, muß vorläufig unbekannt bleiben. Bisher fanden wir keinen Hinweis darauf, wie das Ende des Konflikts aussah. Einen Monat nach Streikbeginn erklärt die Firmenleitung der Veritas in einer großen Anzeige im Gelnhäuser Tageblatt, daß der Streik beendet sei - eine einfache Lösung: Die alte Belegschaft wurde komplett entlassen. Die streikenden Arbeiter widersprechen dieser Sichtweise: Der Streik ist nicht beendet und Streikbrecher werden gewarnt.
Streikbrecher an die Front!

Die Firma Veritas suchte im Frühjahr 1925 Streikbrecher, Tages-Zeitung für den Kreis Gelnhausen vom 20. April 1925
Die Arbeitgeber "klären auf"!

Im Gelnhäuser Tageblatt vom 7. März 1925 inserieren Arbeitgeber und Arbeitnehmer für und gegen den Streik.


In den krisengeschüttelten zwanziger Jahren gab es sicher viele Arbeitskämpfe in der Region. Wenig, allzu wenig ist davon dokumentiert. Die traditionellen Geschichtsvereine machen um diese Thematik einen großen Bogen und in Jubiläumsschriften der Unternehmen wird dieses Kapitel meist peinlich verschwiegen.

Es gab aber wohl auch Betriebe, in denen trotz bitterster Armut nicht aufgemuckt wurde. Dazu gehörte die Wächtersbacher Steingutfabrik, die zum Besitz der Fürsten zu Ysenburg gehörte. Hier erlitten die Arbeiter beim großen Streik von 1903/1904 eine so überwältigende Niederlage, daß der Betrieb lange Jahre 'befriedet' war.

Dieser große Streik ist in die Geschichte eingegangen - nicht nur, weil er über acht Monate gedauert hatte, sondern auch, weil er die Arbeiter das Fürchten gelehrt hatte: Viele verloren ihre Existenz, bekamen in der Region keine Arbeit mehr, mußten auswandern.

Die Arbeiter und Arbeiterinnen hatten sich damals gegen Lohnreduzierungen zur Wehr gesetzt und kämpften gegen einen tyrannischen Fabrikdirektor namens Dr. Ehrlich. Sie forderten auch den Acht-Stunden-Tag und die Koalitionsfreiheit, also das Recht, sich zu einer Gewerkschaft zusammenschließen zu dürfen. Daß sie den Kampf verloren, lag zum einen daran, daß die Werksleitung genügend Streikbrecher herankarren konnte, zum anderen an der Bodenständigkeit der arbeitenden Bevölkerung. Die Menschen klebten an ihrer Scholle und diese mangelnde Mobilität nahm ihnen jeden Spielraum.

Die Lebensverhältnisse des größten Teils der Bevölkerung im Altkreis Gelnhausen waren landwirtschaftlich geprägt. Selbst im Städtchen Wächtersbach muß der Bürgermeister regelmäßig darauf hinweisen, daß das Vieh nicht unbeaufsichtigt auf den Straßen herumlaufen darf: Wer seine Schweine, Ziegen, Schafe, Gänse, Enten oder Hühner frei herumlaufen ließ, wurde mit einer Geldstrafe bis zu 150 Mark bestraft.

Berufszählung 1928 Kreis und Stadt Gelnhausen

Arbeiterbevölkerung

18.650

landwirtschaftliche Bevölkerung

14.500

Angestellten- und Beamtenschaft

4.500

mithelfende Familienangehörige

9.950

Hausangestellte

600

Berufslose

3.000

Die Berufszählung macht deutlich, daß ein großer Teil der Bevölkerung des Altkreises der Landwirtschaft zuzuordnen ist, wobei zu berücksichtigen ist, daß auch der größte Teil der 'mithelfenden Familienangehörigen' zur landwirtschaftlichen Bevölkerung zählt. Gelnhäuser Tageblatt vom 25. Juli 1928

Wie schwierig die Verkehrsverhältnisse in dieser Zeit waren, zeigt ein anschaulicher Bericht über eine Autofahrt im Winter:

     „Ein hiesiger Geschäftsmann war dieser Tage per Auto in Begleitung seines Chauffeurs auf einer Geschäftsreise im hohen Vogelsberg... Nach vollendeter Tagesarbeit wollte man durch das Brachttal die Heimreise antreten und hatte Fischborn um halbneun Uhr abends glücklich passiert, als der Wagen ca. achthundert Meter südlich Fischborn in einer quer über die Straße liegenden Schneeverwehung trotz vorzüglich arbeitendem Motor einfach stecken blieb. Also blieb nichts anderes übrig, als vor das 6-PS-Modell einen 1-PS zu spannen, um fortzukommen. Zurück im Laufschritt nach Fischborn und ein Pferd geholt; ja Pferd holen - wenn alles auf dem Maskenball ist - aber wo ein Wille ist, da ist auch ein Gaul zu bekommen und so kam man mit Hilfe des Pferdes noch gegen zehn Uhr vom Fleck. Zwei Kilometer ging es ganz gut: dann kam wieder eine Verwehung, und zwar noch eine schlimmere. Man versuchte es mit Schieben, aber vier Arme sind doch zu wenig! Also bei zwanzig Grad Kälte und Sturm nach Birstein und Pferde gesucht. Nach langem Suchen fand man auch hilfsbereite Kräfte, die um zwölf Uhr noch Pferde anschirrten und den völlig im Schnee steckenden Wagen wieder flott machten und nach Birstein zogen. Denn nun war der Wagen richtig eingefroren; des Chauffeurs Lötlampe machte dann den Motor wieder arbeitsfähig und des Gastwirtes heißer Grog weckte den Nachtreisenden wieder die erstarrten Lebensgeister. Um zwei Uhr landete man beim häuslichen Herd, wo sich die Angehörigen schon allerhand Gedanken gemacht hatten ..."

Der Altkreis Gelnhausen hat Mitte der zwanziger Jahre gut 50.000 Einwohner. Davon entfallen etwa 40 Prozent auf die Landwirtschaft und etwa 36 Prozent auf Industrie und Handwerk. Besonders im nördlichen Teil des Kreises leben die Menschen überwiegend von Land- und Forstwirtschaft; die kleinbäuerliche Struktur herrscht vor. Der südliche Teil des Altkreises ist durch die Nachbarschaft zu Frankfurt und Hanau Arbeiterwohngebiet für Pendler. Im Freigerichter Bezirk um Somborn bestimmt die Zigarrenindustrie das gewerbliche Leben, in der Umgebung von Gelnhausen und Gründau gibt es Baustoffindustrie, mehrere Betriebe der Gummiindustrie, der Elektrochemie und des Ledergewerbes. Im Wächtersbacher Raum sind Hartsteinindustrie, Holzverarbeitungsbetriebe sowie eine Steingut- und eine Kartonagenfabrik angesiedelt. Der größte Teil der Bevölkerung des Altkreises Gelnhausen wohnt in Gemeinden mit weniger als 2000 Einwohnern. Nur die beiden Städte Gelnhausen und Bad Orb haben jeweils knapp 5000 Einwohner, während die dritte Stadt, Wächtersbach, lediglich 1500 Einwohner aufweist.

Reichstagswahl am 4. Mai 1924
in der Stadt Gelnhausen, im Kreis Gelnhausen und im Deutschen Reich

Prozentualer Anteil der abgegebenen

gültigen Stimmen

 

 

 

 

SPD

Zentrum

DDP

DNVP

USPD

DVP

KPD

sonst.

Stadt Gelnhausen

6,3%

7,6%

11,1%

26,6%

0,3%

15,4%

19,9%

12,8%

Kreis Gelnhausen   (ohne Stadt Gelnhausen)      

13,9%

29,4%

3,7%

22,8%

0,7%

6,9%

17,6%

4,8%

Deutsches Reich

20,5%

13,4%

5,7%

19,5%

0,8%

9,2%

12,6%

18,3%



Die Lebensverhältnisse sind kleinbürgerlich, kleinbäuerlich, provinziell. Man hängt am Althergebrachten, schätzt die ländliche Gemächlichkeit und achtet penibel auf die Einhaltung der sozialen Hierarchien. Daran hatte keine Revolution etwas geändert.

Die Söhne des Kleinbürgertums aus Gewerbe und Beamtenschaft sowie der mittleren Bauernschaft besuchen die Realschule, die Mitte der zwanziger Jahre etwa 160 Schüler hatte. Sie sind unschwer an ihren mit Stolz getragenen Schülermützen zu erkennen und als 'Kappebuwe' bekannt. Die Kinder der Arbeiter- und kleinbäuerlichen Bevölkerung besuchen die Bürgerschule, also die Volksschule. Neben den Klassenschranken gibt es auch ein beträchtliches Schulgeld, das die ärmeren Schichten davon abhält, ihre Kinder auf höhere Schulen zu schicken. Im Gelnhäuser Tageblatt führt das Lehrerkollegium der Bürgerschule erbitterte Klage über die ewig benachteiligte Volksschule, die sich damals am Obermarkt befand. Man kritisiert ständige Unterrichtskürzungen und die Verwahrlosung des Schulgebäudes.

„Als damals die Realschule ins Leben gerufen wurde [1909], war man in Volksschulkreisen beunruhigt nach der Hinsicht, daß nun zum Teil auf Kosten der Volksschule die neue Anstalt ausgebaut würde. Diese Befürchtung war nicht unbegründet. Real- und Mittelschule wurden aufgebaut und die Volksschule baute man ab." Das Lehrerkollegium schließt seinen Leserbrief mit dem Wunsch, daß „in nicht allzuferner Zeit das Ideal aller Volkserziehung - die Einheitsschule - hier in Gelnhausen verwirklicht" wird.

Weit gefehlt! Das Lehrerkollegium der Bürgerschule täuschte sich. Aber 1919, als diese Hoffnung formuliert wurde, glaubten viele noch an bevorstehende revolutionäre Veränderungen. Das dreigliedrige Schulsystem - die Volksschule für das Proletariat und andere Unterschichten, die Mittel- oder Realschule fürs Kleinbürgertum und das Gymnasium für Bourgeoisie und Adel - sollte jedoch noch Jahrzehnte überleben und sogar nach dem Zweiten Weltkrieg fröhliche Urständ feiern.

Eines hatte die abgewürgte Revolution aber doch zustandegebracht: Den Zwang zum gemeinsamen Schulbesuch der Kinder aller Volksschichten in den ersten vier Grundschuljahren durch das 1920 erlassene Reichsgrundschulgesetz. Nun saßen erstmals Arbeiterkind und Millionärssproß nebeneinander auf der Schulbank.

Zuschüsse für die Gelnhäuser Schulen 1928
(Beschluß der Stadtverordnetenversammlung)

Schule

Zuschuß

Schülerinnen-Zahl

Ausgaben pro Schülerin

Realschule

41.100 RM

166 Schülerinnen

247 RM

Mittelschule

18.580 RM

56 Schülerinnen

332 RM

Ev. Volksschule

37.900 RM

380 Schülerinnen

100 RM

Kath. Volksschule

4.700 RM

102 Schülerinnen

46 RM

Berufsschule

3.600 RM

302 Schülerinnen

12 RM



Die Benachteiligung der Volksschulen wird anschaulich durch die Zuschüsse verdeutlicht, die die Stadt Gelnhausen den verschiedenen Schulen zukommen läßt, Gelnhäuser Nachrichten vom 20. Juni 1928.

Das war einige Jahre zuvor noch unvorstellbar gewesen und widersprach den Standesinteressen großbürgerlicher und feudaler Kreise zutiefst. Gern hätten sie festgehalten an der bis dahin üblichen 'Vorschule', die von Anbeginn eine säuberliche Trennung der armen und reichen Kinder ermöglichte und so unverhüllter Ausdruck des alten Ständestaates war.

Für Töchter war Bildung selten vorgesehen. 1921 kommt das erste Mädchen an die Gelnhäuser Realschule. Zehn Jahre später sind es dann immerhin über sechzig Schülerinnen. Als ziemlich konstant erweist sich dagegen der Anteil der Frauen an der erwerbstätigen Bevölkerung: Gut ein Drittel aller Erwerbstätigen sind Frauen -in Gelnhausen und anderswo. Dieses eine Drittel ist resistent gegenüber der in den frühen dreißiger Jahren einsetzenden Haus- und Herd-Propaganda, die die Frauen zurück in die Küche schicken will. Es ist aber auch resistent gegenüber dem zunehmenden Arbeitskräftebedarf der späten dreißiger Jahre, wo die weiblichen Arbeitskräfte zunehmend für die Kriegsproduktion gebraucht wurden. Schnell wurde dann die Propaganda den Notwendigkeiten der faschistischen Tagespolitik angepaßt: Unser Heim und Herd ist Deutschland, wo immer es uns braucht, hieß es erneut mit Blick auf den nächsten Krieg. Aber zurück zu den zwanziger Jahren.
Schöne, kleine Stadt!

So sah es in Gelnhausen um 1921 aus:
Die Bahnhofstraße und im Hintergrund das Hotel Deutsches Haus. Das 'erste Haus am Platz' warb damit, daß es über Zentralheizung und elektrisches Licht verfügte.

Aus:
Von nix kommt nix!