Ein lebendiger Ort der Mahnung
Feierstunde an der ehemaligen Rampe des Schlachthofs, Platz der Juden-Deportation

Von Michael Grabenströer

Der Mauerrest neben den Gleisen, kurz vor der Einfahrt zum Hauptbahnhof Wiesbaden, sieht aus wie neu - kalkweiß, frisch getüncht, ein Kontrast zu den lebensfroh farbigen Graffiti an den Wänden des Schlachthofes. Doch schon bald wird auch die weiße Wand, ein Stück der ehemaligen Firma Fauth, unter einem Graffiti verschwunden sein. „Yorkar7", Wiesbadener Sprühkünstler, wird wieder ein Bild der Deportation Wiesbadener Juden vom 1. September 1942 auf die Wand sprayen - ein Motiv aus den vor bald siebzig Jahren aufgenommenen Fotos eines Polizeibeamten, fotorealistisch: Die Wiesbadener Juden stehen zur Deportation an. Eine Öffnung in der Wand, wie eine Tür, führt mitten in den Deportationszug...

Zitate aus den Briefen

Noch ist das Motiv nicht auf die Wand gesprüht, das Bild, das den Gedenkort Schlachthoframpe erst zu einem Ort des Gedenkens und aktiven Erinnerns macht. Noch hält sich die Baumreihe aus Eßkastanien respektvoll zurück. Denn der Sprayer braucht den Platz, um mit einem Beamer das Bild an die Wand zu werfen und nachzusprühen. Doch sieben Bäume stehen schon, die Sockel mit dem Graffiti-Beton-Mauerwerk sind eingelassen. Auch die Kastanienreihe ist ein Stück Erinnerung an die Zeit, als es Juden verboten war, sich auf Bänke zu setzen und im Schatten von Bäumen der Kurstadt auszuruhen. Die Graffiti auf den Sockeln: Zitatfragmente aus Briefen Wiesbadener Juden.

Die Schlachthoframpe entwickelt sich zu einem Ort des Gedenkens. Zur Zwischenfertigstellung ruft Kulturdezernentin Rita Thies (Grüne) am Dienstag noch einmal die Geschichte der Verladerampe in die Gegenwart, erinnert an den Platz, von dem aus die Wiesbadener Juden in den Tod abtransportiert worden sind.

Thies vergißt aber auch nicht, an das Ringen um die Authentizität des Platzes zu erinnern. Es gab Kritik, weil das Rampengelände hinter dem Schlachthof gestaltet und nicht nur erhalten wurde. Zur Teilfertigstellung hat Thies einen Verwaltungsbericht aus dem Jahr 1953 mitgebracht. Darin ist festgehalten, daß damals der erste Abschnitt der Erneuerung der Bahnrampe durchgeführt wurde. Es könne also nicht mehr der alte Ausbau gewesen sein, meint Thies; man habe nicht das Original der Rampe beseitigt, die das Leid der deportierten Juden authentisch in Stein festhielt.

Gekommen ist auch der Künstler Vollrad Kutscher, der den Gedenkort gestaltete, die Schriften des Schlachthofes aufnahm und sie mit Jugendlichen in die Umrandungen der Kastanien übertrug. Eine Kooperation, so die Hoffnung, die das Mahnmal zu einem Ort auch für die Jugendlichen macht. Denn die Rampe ist kein isolierter Gedenkort: Hier treffen sich die Jugendlichen rund um den Schlachthof, hier soll ein Garten der erneuerbaren Energien entstehen. Hier herrscht Leben im Freizeit- und Kulturpark. Und mittendrin die Rampe des Gedenkens an den Holocaust in der Stadt.

Daß die Rampe Anstoß sein kann, verrät auch die 11-jährige Isabel Schunder. Als sie von dem Projekt hörte, bot sie spontan zwei selbstgezogene Kastanienbäumchen an. Zu kleine Pflänzchen, um sich durchzusetzen, meinte die Dezernentin. So wurde die Schülerin zur Baumpatin und war Ehrengast bei der kleinen Feierstunde am Dienstag.

Ein lebendiger Ort der Mahnung

Die Sockel sind da, die Bäume noch nicht alle.
 

"GEDENKORT"

Die ehemalige Rampe des Schlachthofs soll zum Mahn- und Gedenkort werden und an das Leid der Wiesbadener Juden in der Zeit des Nationalsozialismus erinnern.

In der Nazizeit wurde das jüdische Leben in Wiesbaden fast vollständig ausgelöscht. Die Deportationen hatten schon früh begonnen. Bereits Ende 1938 waren etwa 80 Wiesbadener Juden verschleppt worden. Danach gab es etliche weitere Deportationen, etwa im Juni 1942 mit mehr als 370 Menschen. Sie mußten sich in der Nacht zuvor vor der zerstörten Synagoge in Wiesbaden einfinden. Die letzte Deportation war am 14. Februar 1945 nach Theresienstadt.

Vor dem Jahr 1933 lebten rund 3000 Juden in Wiesbaden. Mitte 1945 kehrten die wenigen übriggebliebenen Wiesbadener mit amerikanischer Hilfe zurück in die Stadt. Die Gemeinde gründete sich zum Canukka-Fest im Jahr 1946 neu. rmu

Frankfurter Rundschau - 14.4.10 - mit freundlicher Erlaubnis der FR