„An einem Tag ist eine ganze Welt zusammengestürzt"
Der Jude Max Mader kam 67 Jahre nach der Vertreibung in seine Heimatstadt zurück und erzählte Schülern der Musterschule von seinem Schicksal
VON ANDREAS KRAFT

Er geht durch die Tür. Die kleine Kerze hat er schon in der Hand. Sein Sohn Adam hilft ihm, den Briefkasten frei zu räumen. Max holt einen Zettel aus der Tasche, sein anderer Sohn Gershon gibt ihm einen Streifen Tesafilm. Der Zettel erinnert an die Großmutter. Max geht noch einmal vor die Tür. Er hebt eine kleine Holzscheibe auf, geht zurück in den Hausflur und legt sie auf den Briefkasten, um den vor der Hitze der Kerze zu schützen. Gershon und Max holen die Kipas aus ihren Taschen und setzen sich die kleinen Kappen auf. Adam trägt schon eine Baseballkappe. Max nimmt ein Streichholz aus der Schachtel und zündet die Kerze an. Dann spricht er die Gebete.

67 Jahre zuvor war Max Mader zum letzen mal in Deutschland. Er wollte nicht mehr zurück. Keinen Fuß in das Land setzen, dass seine Familie auseinander riss. Einmal fuhr er mit dem Zug von Österreich nach Holland. Es wäre kein Problem gewesen in Frankfurt Station zu machen. Aber Max wollte nicht. Er blieb die ganze Fahrt im Zug. Auch, als vor etwa einem halben Jahr die Einladung der Stadt kam, zögerte er: „Was soll ich da? Was habe ich in Frankfurt verloren?" Nun erzählt er den Zwölftklässlern der Musterschule von seinen Zweifeln. Anderthalb Stunden sollte er sprechen. Er bleibt drei. Bis vor drei Jahren war Max selbst Lehrer. Sein Fach: Musik. Die Frankfurter Schüler sind still, hören zu. Stellen ab und zu eine Frage. Er will nicht, dass man ihn mit seinem Nachnamen anspricht: „Meine Schüler haben mich auch immer Max genannt." Man glaubt Max, wenn er sagt, er habe ein glückliches Leben geführt und kann sich vorstellen, mit wie viel Liebe er seinen Schülern Bach oder Mendelssohn nahe gebracht hat. Aber man sieht auch die Narben.

Max ist eins der etwa 10.000 jüdischen Kinder, die mit den Kindertransporten Deutschland verlassen. Am Donnerstag, dem 10. November 1938, dem Morgen nach der Reichspogromnacht, steht die Synagoge an der Friedberger Anlage in Flammen. Die Mutter von Max ist an der Arbeit. Im Waisenhaus am Röderberg. Sein Vater hat Geburtstag. Er und Max sind bei der Großtante. Es klingelt. Vier Männer stehen vor der Tür. Sie nehmen den Vater mit. Max schaut aus dem Fenster und sieht entlang der Hanauer Landstraße eine lange Reihe jüdischer Männer. Die Gestapo hat sie verhaftet und wird sie nach Buchenwald bringen. In der Nacht steht Max am Bahnhof. Es ist dunkel. Er allein. Der Zug bringt ihn in eine andere Richtung, nach Holland. Und von dort wenige Wochen später nach England. 18 Monate lang sieht er seinen Vater, seiner Mutter und seine Schwester nicht. Und seine Großmutter und seine Großtante sieht er nie wieder. Sie werden 1942 nach Theresienstadt deportiert und sterben dort. „Mein Vater war damals gerade sechs Jahre alt", sagt Gershon. „Und an einem Tag ist seine ganze Welt zusammengestürzt. All seine Erinnerungen wurden ausgelöscht. Wenn ich mir vorstelle, dass würde meinem Sohn passieren..." Max selbst kann sich an die Nacht kaum noch erinnern und auch nur wenig an die Zeit danach. „Ich weiß nicht mal mehr, ob jemand am Bahnsteig stand", sagt der 73-Jährige. „Ich habe keine Erinnerung an die Gefühle aus dieser Zeit. Da ist nur Leere." 20 Jahre lebte er in England. 1958 ging er nach Israel. Dort studierte er in Tel Aviv Musik. Später zog er in ein Kibbuz. Er sagt, die Gedanken an den Holocaust würden in ständig begleiten. „Wenn ich zum Beispiel morgens in den Spiegel schaue, ist es da." Sich selbst sieht er nicht als Opfer: „Allen passieren traurige Dinge. Niemand wächst ohne Narben auf. Ich war nie in den Vernichtungslagern. Ich bin entkommen. Die Shoa ist an mir vorüber gegangen. Sie ist das, was mir hätte passieren können." Vielleicht wollte er deshalb nicht nach Frankfurt zurück kommen. Jetzt gefällt ihm die Stadt. Das viele Grün. Der Main. Und natürlich die Oper. Zweimal in einer Woche waren Max und Gershon schon da. „Was mich überrascht hat", sagt Max, „ist die Ungezwungenheit. Die Leute kleiden sich ganz normal, wenn sie in die Oper gehen und es sind auch viele junge Leute da." Max lacht: „Und keiner schlägt die Hacken zusammen und drückt das Rückgrat durch."

Zeitzeuge Max Mader in der Musterschule: Vor 67 Jahren wurde der Jude vertrieben.

    BESUCHSPROGRAMM

    Seit 25 Jahren lädt die Stadt Frankfurter Juden ein, die vor den Nationalsozialisten fliehen mussten oder in Konzentrationslager deportiert wurden. Die Stadt übernimmt die Kosten für den zweiwöchigen Aufenthalt,  Unterkunft, Flug und ein Rahmenprogramm. Die ehemaligen Frankfurter, die heute alle schon älter sind, dürfen eine Begleitperson mitbringen. In diesem Jahr waren es 53 Besucher. Die Projektgruppe Jüdisches Leben in Frankfurt organisiert die Begegnungen der Besucher mit Schülern. In diesem Jahr beteiligten sich etwa 20 Schulen aus Frankfurt und der näheren Umgebung an dem Programm.

Wurzeln in Frankfurt
Er sei nicht mit Ablehnung gekommen. Es scheint, seine Offenheit macht sich bezahlt. „Ich bin ein Frankfurter", sagt er zu den Schülern. Er habe erkannt, dass wahr ist, wogegen er sich immer gewehrt hat: Seine Wurzeln liegen in Frankfurt. Zum Andenken an seine Großtante und seine Großmutter zündet er bei ihren früheren Wohnungen im Ostend Kerzen an und betet für sie. „Ich bin nicht religiös", sagt er. „Aber ich weiß, sie würde es freuen."

Max hat gerade das Gebet beendet. Die Wohnungstür, eine halbe Treppe über dem Briefkasten, öffnet sich. Eine Frau kommt in den Hausflur. „Was machen Sie denn da?" fragt sie. Max und seine Söhne erklären kurz ihr Gedenken. „Ja, da waren schon mal welche da. In dem Haus hier haben früher viele Juden gelebt. Jemand hat mir auch mal erzählt, die Kastanie vor dem Haus sei über 100 Jahre alt." Adam und Max bleiben vor der Kastanie stehen. Gershon macht ein Foto. Er sagt: „Der Baum, der alles gesehen hat."

Frankfurter Rundschau - 28.7.05 – Bild: Petra Welzel