Marburger Wissenschaftler streiten über die Morde von Mechterstädt
Der Historiker Holger Zinn bezeichnet die fast 90 Jahre zurückliegenden Taten als „ungeklärte Todesfälle" - seine Kritiker werfen ihm „Umdeutung der Geschichte" vor.
von Gesa Coordes

Die Morde von Mechterstädt trugen Marburg einst den Ruf ein, „eine der Brutstätten der Reaktion" zu sein. 86 Jahre nach der Erschießung der thüringischen Arbeiter durch Mitglieder des Marburger Studentenkorps ist über den Fall ein Streit entbrannt.

Marburg - Erschossen fand man die 15 Arbeiter an einer einsamen Landstraße bei Mechterstädt. Mitglieder des Studentenkorps hatten sie als angebliche Rädelsführer der Roten Armee festgenommen und „auf der Flucht" umgebracht. Bereits der damalige Kultusminister Konrad Haenisch (SPD) bezeichnete die Tat als „feigen Meuchelmord der Marburger Buben".

Am vergangenen Samstag hat sich der Mord von Mechterstädt zum 86. Mal gejährt. Eine Gedenkveranstaltung gab es nicht. Doch der Verein für hessische Geschichte und Landeskunde (Kassel) hat eine Publikation über „Die Philipps-Universität zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus" herausgegeben, die zeitgleich für Wirbel sorgt.

Stein des Anstoßes ist der Beitrag des Historikers Holger Zinn, der das Studentenleben der Weimarer Republik beleuchtet. Darin schreibt der Wissenschaftler: „Zweifelhaften Ruhm erlangte das Studentenkorps Marburg erst nach dem Kapp-Putsch, als es .... am 20. März 1920 zur ,Rettung des Vaterlandes' nach Thüringen zog und dort unter zweifelhaften Umständen fünfzehn Arbeiter zu Tode kamen."

„Eine skandalöse Umdeutung der Geschichte", nennt diese Darstellung der Marburger Asta, der eine Richtigstellung der Tatsachen von Geschichtsverein und Hochschule fordert - die Uni hatte den Druck des Buches unterstützt. Die Arbeiter seien nicht „wie von Geisterhand unter zweifelhaften Umständen ums Leben gekommen, sondern von Marburger Studenten ermordet worden, die den Kapp-Putsch unterstützten". Der Landtagsabgeordnete Thomas Spies (SPD) nimmt die „unerträgliche Verharmlosung" des Falles zum Anlaß, eine Anfrage im Landtag zu stellen. Und der Politikwissenschaftler Georg Fülberth kritisiert: „So zart kann man Mord beschreiben."Mechterstädt-Morde

Präsidium der Philipps-Uni greift Herausgeber an

Dagegen sagt Zinn, der in Marburg studiert und promoviert hat: „Ich wußte, daß der Beitrag in Marburg Ärger machen wird, weil bestimmte Kreise das Thema für sich gepachtet haben." Von Morden habe er bewußt nicht geschrieben, weil die angeklagten Korpsstudenten freigesprochen wurden. Da die Quellen noch nicht ausreichend bearbeitet seien, handele es sich für ihn um „ungeklärte Todesfälle" Daß er selbst Verbindungsstudent ist, spiele bei seiner Beurteilung keine Rolle, versichert der Historiker, der sich zurzeit in Frankfurt habilitiert.

Der Freispruch der Korpsstudenten zähle jedoch zu den großen Justizskandalen der Weimarer Republik, erklärt Fülberth. Obwohl schwerwiegende Umstände gegen sie sprachen, wurden die angeklagten 14 Studenten freigesprochen. So blieb beispielsweise ungeklärt, warum die Arbeiter fast alle bei dichtem Nebel mit Kopfschüssen aus nächster Nähe getötet wurden und nicht etwa durch Schüsse ins Bein am Flüchten gehindert wurden. Ein angeblich Fliehender wurde sogar von vorne getroffen.

Der Vizepräsident der Marburger Universität Herbert Claas kritisiert daher die „verharmlosende Beiläufigkeit" der Passage. Der „dumme Beitrag" falle aus der Qualität der anderen 14 Texte in dem Buch heraus. Die Herausgeber hätten Qualitätskontrolle vermissen lassen.

Das sieht der Vorsitzende des Geschichtsvereins, der Archivoberrat Aloys Schwersmann, anders: „Wenn Herr Zinn meint, Mechterstädt so einschätzen zu müssen, muß das in der Wissenschaft möglich sein." Auch wenn er die Auffassung Zinns persönlich nicht teile, sehe er seine Aufgabe nicht darin, als Zensor aufzutreten. Die aktuelle Kritik bezeichnet Schwersmann als „völlig überzogen".

Das Studentenkorps nimmt Arbeiter fest. Um das Schicksal der Gefangenen ist ein Streit entbrannt. Das Bild stammt aus der Zeitschrift „Forum Wissenschaft" (Januar 1999).

Frankfurter Rundschau - 29.3.06 - mit freundlicher Erlaubnis der FR

Geschichtsklitterung unglaublichen Ausmaßes - können prä-faschistische Verbrechen immer noch nicht als vorsätzliche Morde aus niederen Motiven bezeichnet werden?
Die damaligen Herren Studenten waren nicht einmal Vertreter der Staatsmacht, sie haben selbstherrlich Arbeiter ermordet.

Ein Wunder, daß ein heutiger Korps- Student das anders sieht?