Schüler arbeiten NS-Geschichte auf
Nationalsozialistisches Lager Rollwald kein „weißer Fleck" mehr / Jugendliche präsentieren Projekt heute bei Köhler

Von Matthias Thiele
Schüler und lokale NS-Geschichte, die verdrängt und vergessen war.

Der Gedenkstein in Nieder-Roden erinnert an den Friedhof des früheren NS-Lagers Rollwald. Die Schüler Johann Herold, Eva Berg, Sebastian Steinmeier, Michele White und David Grimm haben die lokale Terror-Geschichte aufgearbeitet.

Fünf Schüler aus Seligenstadt haben die Geschichte des NS-Lagers Rollwald in Nieder-Roden aufgearbeitet. Sie bilden eines von 15 Teams beim deutsch- polnischen Projekt „Weiße Flecken" der Jugendinitiative Step 21. Heute stellen sie dem Bundespräsidenten Horst Köhler ihre Ergebnisse vor.

Seligenstadt / Rodgau  „Am meisten hat mich das Leid der Gefangenen bewegt", sagt David Grimm und schiebt seine Baseballkappe hoch. „Heute leben die Leute auf einem Friedhof, und wissen es nicht, weil das Lager fast vergessen ist", ergänzt Mitschülerin Eva Berg.

Zusammen mit Johannes Herold, Sebastian Steinmeier und Michele White belegen sie den Leistungskurs Geschichte am Einhard-Gymnasium in Seligenstadt (Kreis Offenbach). Die fünf Schüler, alle um die 19 Jahre, haben beim deutsch-polnischen Erinnerungsprojekt „Weiße Flecken" mitgearbeitet. Sie wollten herausfinden, wie die Menschen in der Nachkriegszeit mit ihrer Vergangenheit umgegangen sind; am Beispiel des NS-Lagers Rollwald im Rodgauer Stadtteil Nieder-Roden.
 

DAS LAGER ROLLWALD
Rollwald wurde 1938 als Außenlager der Justizstrafanstalt Dieburg errichtet.
Das Lager Rollwald war für 1500 [Häftlinge] ausgerichtet. Insgesamt Tausende dürften dort inhaftiert gewesen sein.
Gut 200 Menschen starben, meist an Unterernährung und Krankheiten.
Unter den Gefangenen waren viele Unschuldige, meist politische Häftlinge, Homosexuelle und Zwangsarbeiter.
Die Nationalsozialisten wollten im Rodgau durch Waldrodung neuen Lebensraum schaffen. Insgesamt eine Fläche von 16.000 Hektar - viermal so groß wie Offenbach.
Abwässer aus Frankfurt sollten umgeleitet werden und die Felder düngen.
Nach dem Krieg wurden die Baracken von der US-Armee als Kriegsgefangenenlager genutzt.
In den 50er Jahren wurden sie abgerissen und Häuser gebaut. MTH

Auf den ersten Blick ist Rollwald heute eine ganz gewöhnliche Wohnsiedlung. Die Carports sind braun gebeizt, die Straßen verkehrsberuhigt: Tempo 30. An die Grausamkeiten vor mehr als 60 Jahren erinnert nur noch ein Gedenkstein, ganz am Ende der Rhönstraße, wo der Asphalt endet und die Felder beginnen.

Dort, wo heute der Kindergarten steht, betraten Tausende das NS-Gefangenenlager Rollwald. Für mehr als 200 Menschen war es der Weg in den Tod.

„Wir sind erst durch unsere Arbeit darauf gekommen, dass es hier ein nationalsozialistisches Gefangenenlager gab", sagt Sebastian Steinmeier. „Dabei liegt es fast vor der Haustüre, und in unserer Schulbibliothek steht auch ein Buch darüber." Im vergangenen Frühjahr begannen die fünf mit ihrer Recherche. Bei einem gemeinsamen Treffen in Hamburg fassten die 15 Teams des Jugendprojekts ihre Forschungen in einer Zeitung zusammen. Die stellen die Gruppen aus Dresden, Lublin, Lüneburg und Seligenstadt heute in Berlin dem Bundespräsidenten Horst Köhler vor.

„In der Lokalpresse gab es nach dem Krieg kaum Berichte über das Lager", fasst Johannes Herold die Ergebnisse seiner Gruppe zusammen. 1953 forderte der Bürgermeister von Nieder-Roden Geld vom Land - aber nicht für die Opfer der Nationalsozialisten, sondern für die Gemeinde. „Die wollten eine Entschädigung für die abgeholzten Bäume", sagt der Schüler. 1955 erinnerte die Lokalzeitung unter dem Titel „Vergessene Tote zwischen Grün und Gestrüpp" an das Lager. Danach wurde es nicht mehr wahrgenommen - zumindest in der Presse; das haben die Schüler in ihrer Arbeit herausgefunden.

Erst in den 80er Jahren flammte eine Diskussion auf: Ein Überlebender schaltete sich in die Debatte ein, ob Rollwald ein KZ oder ein Straflager sei und warf den örtlichen Politikern „Wortklauberei" vor. 1993 gründete sich ein Verein, der die Geschichte des Lagers historisch aufgearbeitet hat.

„Wir wollen nicht, dass die Menschen vergessen, was hier vor über 60 Jahren passiert ist", sagt David Grimm und packt eine Bibel aus der Tasche. Er blättert Psalm 88 auf und liest: „Werden deine Wunder in der Finsternis bekannt, deine Gerechtigkeit im Land des Vergessens?" Dann stockt er kurz und sagt: „Letztendlich wollen wir den Menschen, die hier gestorben sind, die letzte Ehre erweisen."

Frankfurter Rundschau - 23.1.06 - mit freundlicher Erlaubnis der FR