Wissenschaft im Stechschritt
Die Technische Universität Darmstadt will umfassend ihre NS-Geschichte erforschen

Von Astrid Ludwig

Christof Dipper, emeritierter Professor am Institut für Geschichte, geht mit seiner Technischen Universität hart ins Gericht. „Hochschulen und Wissenschaftler, auch aus Darmstadt, waren an der Expansions- und Aggressionspolitik der Nationalsozialisten beteiligt. Sie waren ein konstruktiver Teil des Regimes." Welcher Art diese Verstrickungen waren, welche Rolle die damalige Technische Hochschule in der NS-Zeit spielte, wie sie mit ihren jüdischen Mitgliedern umging, all diese Fragen will die Universität jetzt genau unter die Lupe nehmen. Das Präsidium der TU Darmstadt hat unter der Leitung von Christof Dipper ein Forschungsprojekt ins Leben gerufen, das die Jahre unterm Hakenkreuz aufarbeiten soll.

Zwei junge Historikerinnen der TUD, Melanie Horn und Isabel Schmidt, werden zwei Jahre lang eine Gesamtdarstellung erarbeiten, die in Form zweier Bücher auch öffentlich gemacht werden soll. Das Forschungsvorhaben wird dabei nicht nur die Zeit an der Hochschule zwischen 1930 und 1945 beleuchten. „Wir machen keine Zäsur. Es gab keine Stunde Null. Auch vor und nach dem 8. Mai 1945 waren die Akteure dieselben", betont Dipper.

Das Schweigen danach

Der Ansatz der Darmstädter führt durch die Nachkriegszeit bis 1960. Welche Professoren mit NS-Vergangenheit kehrten in den Lehrdienst zurück? Wie ging die TUD mit der Vergangenheit um? „Es herrschte eine Atmosphäre des Verschweigens", sagt die Doktorandin Isabel Schmidt. Interne Widerstände in der Hochschule gegen eine Aufklärung gab es bis in die 80er Jahre. Ein Grund vielleicht, sagt Dipper, daß die Technische Universität erst jetzt das Forschungsvorhaben angeht.

Die Initiative dazu ging vom „neuen" TUD-Präsidenten, Hans Jürgen Prömel, aus. Die NS-Geschichte sei wesentlicher Bestandteil der Historie und spiegele sich in den Biographien und auch der Architektur der Uni wider, sagt Prömel. Die Aufarbeitung erachtet er als eine „Mahnung zur Verantwortung für die Freiheit von Lehre und Forschung".

Bisher hat die Technische Universität ihre nationalsozialistische Geschichte nur in Teilaspekten dargestellt. 1998 kam ein sechsteiliger Band zur Gesamthistorie heraus, es gab mehrfach Ringvorlesungen, in denen auch die braune Epoche zur Sprache kam. Dipper und zahlreiche andere Mitglieder der TUD haben jüngst zum Thema „Die Selbstmobilisierung der Wissenschaft an Technischen Hochschulen" einen Sammelband herausgegeben. Das war, sagt Dipper, „eine Art Impuls" für das jetzt gestartete Forschungsvorhaben.

Rund 90 000 Euro für Sachkosten sowie die Bezahlung der zwei Doktorandinnen stellt die Universität für die nächsten zwei Jahre zur Verfügung. Sollte das Projekt länger dauern, werde es auch dafür Geld geben, sichert Prömel zu. Geplant sind auch Vorträge und Ausstellungen zum Thema.

Die TUD ist die zweite Technische Universität in Deutschland, die ihre Geschichte derart umfangreich aufarbeiten will. Ein ähnliches Vorhaben wurde bisher nur an der RWTH Aachen verwirklicht. Gerade jedoch die Technischen Hochschulen seien wichtiger Bestandteil des NS-Systems gewesen. „Sie lieferten den militärisch-technischen Untergrund für den Staat", so Dipper. Das Regime habe unglaublich viel Geld in die Hochschulen investiert. Der militärisch-wissenschaftlich-industrielle Komplex soll daher eine wichtige Rolle bei der Aufarbeitung der Darmstädter Historie spielen. „Die Wissenschaftler mußten keineswegs zur Mitarbeit gezwungen werden."

Beteiligung an V2-Forschung

Die Hochschule habe sich sehr bemüht, Eingang in die NS-Förderpolitik zu finden. Beteiligt waren ihre Wissenschaftler etwa an der Forschung zur V2-Rakete in Peenemünde. Fast ein Drittel der Ingenieure dort waren Darmstädter. Dipper: „Bei der Aufarbeitung geht es uns nicht um Enthüllungen, sondern um das historische Verstehen. Wir wollen erklären, wie das geschehen konnte." Rk

Wissenschaft im Stechschritt

100-Jahr-Feier der TH Darmstadt 1936:
In der ersten Reihe sitzt Prorektor Karl Lieser in Uniform.

ZEITZEUGEN

Die Historikerinnen Melanie Horn und Isabel Schmidt erforschen die NS-Zeit und Nachkriegsgeschichte. Es geht um Studenten, Professoren mit NSDAP-Mitgliedschaft, Hochschulpolitik, Entlassung jüdischer Dozenten, die Forschung für NS-Ziele und die Erinnerungspolitik nach 1945.

Archivmaterial wurde teilweise bei den Bombenangriffen 1944 zerstört, aber es existieren Personalakten und Unterlagen etwa aus Bundesarchiven.

Zeitzeugen werden gesucht. Wer an der TH damals studiert oder gelehrt hat, Erlebnisse beitragen kann, kann sich unter Telefon 06151/16 45 38 melden. Alu

ZEITTAFEL

Die Technische Hochschule Darmstadt in der NS-Zeit

1931 Im Wintersemester sind 2822 Studenten eingeschrieben. Bei Asta-Wahlen wird der NS- Studentenbund stärkste Kraft.

1933 Aufgrund des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" werden zehn Professoren entlassen. Karl Emil Lieser, Assistent an der Fakultät für Architektur, beschwert sich beim Rektor über die „geistige Verjudung" der Fakultät. Seine darauf folgende Entlassung führt zu Tumulten der NS-Studentenschaft. Lieser wird von Reichsstatthalter Jakob Sprenger wiedereingesetzt.

1935 Lieser wird Prorektor.

1936 Die THD wird 100 Jahre alt.

1937 Lieser wird Rektor.

1939 Aufbau der AG „Vorhaben Peenemünde". Eingliederung der Technischen Hochschulen in die Organisation der Raketenentwicklung (V2) durch das Heereswaffenamt. Die TH Darmstadt wird größter Partner mit 92 Mitarbeitern, besonders involviert sind das Institut für Anorganische und Physikalische Chemie (Leitung Carl Wilhelm Wagner) sowie das Institut für Praktische Mathematik (IPM mit Alwin Walther).

1944 Auf Befehl Heinrich Himmlers richtet die „Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe" Forschungsstätten in Konzentrationslagern ein. In Zusammenarbeit mit dem IPM Darmstadt sollen jüdische Wissenschaftler im KZ Sachsenhausen mathematische Formeln ausrechnen.

1945 Im März erreichen die Amerikaner Darmstadt. 10 Professoren, die an den V2-Forschungen beteiligt waren, werden verhaftet. Die Entnazifizierung beginnt. Lieser wird von der THD entfernt.

1946 Wiedereröffnung der THD. Vom Entnazifizierungsgesetz sind etwa 42 Lehrende betroffen. Bis auf den Ex-Rektor Lieser und Professor Friedrich List werden 1951 alle betroffenen Lehrende wieder in den Dienst der Hochschule genommen. alu

Frankfurter Rundschau - 29.1.10 - mit freundlicher Erlaubnis der FR

Neu-Anfang!
Es ist ja erfreulich, daß sich 65 Jahre nach dem Ende der Nazi-Barbarei immerhin Kräfte und Instanzen gefunden haben, das NS-Unrecht an der TU Darmstadt transparent zu machen. Opfer und - vor allem! - die Täter sind tot. Niemand mußte sich rechtferigen.
 Wichtiger ist aber die Dokumentierung, daß das vorgeblich neue Deutschland (BRD von 1949 ff) nur die Fortsetzung des alten war.
Doch auch bei der Uni Frankfurt war das nicht anders...
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