Frankfurt liest ein Buch - Sengers Werk animiert eine ganze Stadt, sich mit Zeitgeschichte und Zivilcourage zu befassen.

Ein außergewöhnlicher Mensch

FR-Gastbeitrag: Arno Lustiger erzählt von seiner Zeit und tiefen Freundschaft mit Valentin Senger

Im September 1997, vor knapp 13 Jahren, habe ich einen Freund verloren, der für mich wie ein älterer Bruder war. Als ich ihn vor 32 Jahren kennenlernte, ahnte ich nicht, daß er mein bester Freund werden würde. Dabei lebten wir bis dahin 23 Jahre lang in derselben Stadt, ohne uns zu kennen.

Am Tage des Erscheinens der „Kaiserhofstraße 12" im Jahre 1978 las ich das Buch die ganze Nacht hindurch, wie in Trance. Am nächsten Morgen hatte ich den dringenden Wunsch, den Autor kennenzulernen, um ihn als Lügner und Angeber zu entlarven.

Am gleichen Tage fand die erste Lesung in den Ratsstuben im Römer statt. Ich setzte mich neben Valis Schwester Paula, um sie auszuhorchen. Zu meiner größten Verblüffung erkannte ich, daß alles, worüber Vali berichtet der Wahrheit entspricht: über sich und seinen Bruder Alex, der als 22-jähriger Wehrmachtssoldat 1944 in Rußland fiel, über den mutigen Retter Polizeimeister Kaspar vom 4. Revier und über das unglaubliche Überleben einer jüdischen Familie mitten in Frankfurt.

Seit damals waren wir in enger Freundschaft verbunden. Ich konnte im Laufe der Jahre die Rückkehr Valis zu den geistigen Quellen seiner jüdischen Familie, von Mojssej und Olga Rabissanowitsch, beobachten und ihn ein Stück dieses Weges auch begleiten. Vali hat die verschütteten und ihm noch nicht bekannten jüdischen Wurzeln ausgegraben. Er hat die gewonnenen Kenntnisse durch weitere Forschungen stark vertieft, sie in seinen literarischen Arbeiten umgesetzt und das Leben der armen, rechtlosen Juden, die in die Rebellion gegen die Obrigkeit und die bürgerliche Gesellschaft getrieben wurden, eindrucksvoll geschildert.

Obwohl die Sengers am Opernplatz wohnten, waren die Menschen des Ostends ihr eigentliches Milieu. Hier lebten neben den frommen Ostjuden die meisten säkularen jüdischen Handwerker und Arbeiter, die ein dichtes Netz von politischen, kulturellen und Sportvereinen und Institutionen schufen. (...)

Ein Thema, das lange Jahre das Leben Valis und der ganzen Familie Senger bestimmte, war ihr Engagement als Kommunisten. Paula, Alex und Vali hatten als Kinder jüdisch-russischer Revolutionäre gute Gründe, sich für eine Partei zu engagieren, die das verhaßte zaristische Regime umstürzte und die Gleichberechtigung für die Juden verwirklichte.

Selten haben wir uns über ideologische Fragen unterhalten oder diskutiert, weil ich die Wunde, die Valis Wirken für den Kommunismus verursachte, nicht aufreißen wollte. Idealisten wie Vali, die jederzeit zu jedem Opfer für die Sache des Kommunismus bereit waren, wurden schmählich verraten, als Stalin nach dem gewonnenen Kriege die Juden verfolgte. (...) Mit Vali teilte ich den Schmerz über den Weggang und die Ermordung vieler Freunde und Kameraden. Dieser Überlebens-Schuldkomplex, der in der Frage begründet ist, warum gerade wir und nicht andere überlebt haben, hat uns stets begleitet und schwer belastet. Vielleicht brachte uns die Arbeit an der jüdischen Thematik zeitweilig etwas Entlastung. Unser Problem war auch, daß jahrzehntelang niemand etwas von dem wissen wollte, was wir erlebt und wie wir überlebt hatten. Außerdem hatte ich, was diese Zeit betrifft, einen mentalen Block. Ich konnte und wollte über meine Erlebnisse weder sprechen noch schreiben. Valis Schreibund Redeblock endete mit der Veröffentlichung seines Buches „Kaiserhofstraße 12".

Vali hat mich davon überzeugt, daß ich das Schweigen über meine Erfahrungen während der Nazizeit beenden muß. Zusammen mit seinem Buch „Kaiserhofstraße 12" schenkte er mir die Gedichte-Sammlung von Hans Sahl „Wir sind die Letzten" Dazu schrieb er die folgende Widmung: „Auch wir, lieber Arno, Du und ich, gehören zu denen, die Hans Sahl meint, und das hat uns letztlich zusammengebracht. Hoffen wir, daß man uns noch lange befragen kann und auch befragen wird."

Im Oktober 1984 erschien Valis zweites Buch, „Kurzer Frühling", in dem er über seine Erfahrungen mit den kommunistischen Genossen berichtete. In das erste Exemplar schrieb Vali folgende Widmung: „Ein druckfrisches Exemplar für meinen Freund Arno. Du hast mir in meiner jüdischen und politischen Neuorientierung ein ganzes Stück weitergeholfen."

Vali hat die jüdischen Friedhöfe in Frankfurt erforscht und sie in seinem 1985 erschienenen Buch zusammen mit dem Fotografen Klaus Mayer-Uhde geschildert. Vali vertiefte sich auch in die Geschichte unserer Region und schilderte in „Die Buchsweilers" das Leben und den Tod jüdischer Räuberbanden. Es folgten jüdische Geschichten in „Das Frauenbad in Friedberg" mit ausführlichem Glossar jüdischer Ausdrücke und 1995 eine Studie über die Nachkriegszeit, „Die Heimkehrer". Sein letztes Werk 1997 sind Fahnengeschichten: „Die rote Turnhose". Ich hoffe und wünsche mir, daß viele Frankfurter das reiche Veranstaltungsangebot mit Lesungen und Informationen wahrnehmen werden und dadurch Vali, diesen außergewöhnlichen Menschen, in ihrem Gedächtnis und in ihren Herzen behalten werden.

Frankfurter Rundschau - 23.4.10

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