Im Zug von Hanau nach Auschwitz
In den 20er Jahren lebten in Hessen-Nassau etwa 600 bis 1000 Sinti und Roma. Von 1933 an verschlechterte sich ihre Lage rapide. Die Historikerin Christine Wittrock beschreibt deren Verfolgung in der Zeit des Nationalsozialismus - auch in der Region.
VON CHRISTINE WITTROCK

Im Kriminalbezirk Kassel, Teilbezirk der Leitstelle Frankfurt am Main, werden im Sommer 1938 181 männliche „Zigeuner" zwischen 17 und 67 Jahren verhaftet. Ihre nächste Station ist das Zigeunerinternierungslager Frankfurt am Main, danach folgt meist der Transport ins Konzentrationslager. Im Frühjahr 1940 werden aus verschiedenen Teilen des Deutschen Reiches die ersten 2.500 bis 2.800 Roma und Sinti nach Polen deportiert. Am 23. März 1943 rollt der Zug der Reichsbahn mit Sinti und Roma aus Hanau, Marburg, Hersfeld, Fulda und Kassel nach Auschwitz.

Zu denen, die nicht in die Ordnungsvorstellungen des faschistischen Staates paßten, gehörten auch die „Zigeuner". Die bürgerliche Gesellschaft romantisierte einerseits das Zigeunerleben, andererseits duldete sie jedoch keine Gruppen, die sich dem Arbeitsethos des industriellen Zeitalters nicht unterwerfen wollten.

Der Begriff „Zigeuner" ist eine Fremdbezeichnung, zum Teil Schimpfwort und deswegen problematisch. Die Volksgruppen selbst bezeichnen sich als Sinti, Roma oder mit anderen Namen. Ihre Diskriminierung weist eine lange Kontinuität auf, die mit der Weimarer Republik nicht zu Ende war.
Sinti und Roma

Im Reichsgesundheitsamt in Berlin wurden Modelle von „Zigeuner"-Köpfen gesammelt.

Mit „Arbeitshäusern" und verschärften Maßnahmen gegen „Landstreicherei" hatte bereits das Kaiserreich versucht, der so genannten Zigeunerplage entgegenzusteuern. Eine in München eingerichtete „Zigeuner-Zentrale" hatte in den 20er Jahren für das gesamte Deutsche Reich rund 14.000 Personen mit Lebensdaten, Lichtbildern und Fingerabdrücken ohne Rechtsgrundlage erkennungsdienstlich erfaßt. Und diese verfassungswidrige Datensammlung löste nicht einmal Widerstand aus; nur die KPD protestierte damals.

Der Nationalsozialismus aber ging weiter: Er bestritt das Existenzrecht der „Zigeuner". Und er setzte seine Vernichtungspläne gewissenhaft in die Tat um. Rassistisches Gedankengut war bereits vor 1933 in Gesetze und Verordnungen eingeflossen. Nach 1933 aber wurde ganz offiziell von „Untermenschen" gesprochen, wozu die nationalsozialistische Ideologie Juden, „Zigeuner", Slawen und die dunkelhäutigen Nachkommen schwarzafrikanischer Besatzungssoldaten zählten. Sie wurden als „fremdblütig" definiert. Für sie sollte es keinen Platz in der künftigen „Volksgemeinschaft" geben.

Vorhandene Vorurteile verstärkt

Nach Schätzungen dürfte es in Hessen-Nassau in den 20er Jahren etwa 600 bis 1000 „Zigeuner" gegeben haben. Ihre Lage verschlechterte sich ab 1933 rapide. Eine Pressekampagne in den gleichgeschalteten Medien sorgte ab 1935 dafür, daß der weltanschauliche Boden für die Vernichtung vorbereitet wurde: Bei jeder Straftat, die ein Jude oder „Zigeuner" beging, mußte die ethnische Zugehörigkeit mitgenannt werden. Das bestimmte der faschistische Staat per Erlaß. Schon vorhandene Vorurteile sollten so verstärkt und weitere Verschärfungen akzeptabel gemacht werden. Ein weiterer Erlaß von 1936 war darauf gerichtet, „Zigeuner" an einem bestimmten Ort seßhaft zu machen, um ihre polizeiliche Überwachung zu erleichtern.
Hans Bonarewitz auf seinem letzten Weg.

KZ-Häftling Hans Bonarewitz (links) auf dem Weg zu seiner Hinrichtung am 30. Juli 1942 im deutschen Konzentrationslager Mauthausen in Oberösterreich. Bonarewitz ist einer von etwa 500.000 von den Nationalsozialisten ermordeten Sinti und Roma.

Gleichzeitig begannen so genannte Rassenforscher mit großer Unterstützung des Staates mit ihren menschenverachtenden Untersuchungen. 1936 wurde beim Reichsgesundheitsamt in Berlin eine so genannte Rassenhygienische Forschungsstelle unter Leitung von Dr. Robert Ritter eingerichtet. Er und seine Mitarbeiterin Dr. Eva Justin vertraten die „rassisch bedingte Minderwertigkeit" ihrer Untersuchungsobjekte und machten sich auch Gedanken darüber, wie der Staat mit diesen Menschen umgehen sollte: „Auf welche Weise läßt sich dieses fahrende Volk am besten zum Verschwinden bringen?" fragt Ritter unverblümt und betrachtet die Zigeunerfrage dann als gelöst, „wenn die Mehrheit der asozialen und nutzlosen Zigeunermischlinge in großen Arbeitslagern untergebracht worden ist und der Fortpflanzung dieser Mischlingsbevölkerung ein Ende bereitet ist. Nur dann werden die zukünftigen Generationen des deutschen Volkes von dieser Last befreit sein".

In der „Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens" in Berlin wurden alle Daten zusammengetragen, derer man habhaft werden konnte. Dabei arbeiteten Polizei, Wissenschaft und Sozialfürsorge eng zusammen. 1938 kam es zu den ersten groß angelegten Razzien. 1939 organisierte man spezielle „Fahndungstage" für die Erfassung und Zählung der „Zigeuner", womit Polizei und Gendarmerie beauftragt wurden.

Es ging freilich nicht nur um das fahrende Volk, sondern auch um diejenigen, die sich in die Gesellschaft integriert hatten. Nach Ritters Darstellung bestritten viele ihre „rassische Herkunft", legten Bescheinigungen vor wie zum Beispiel die Mitgliedschaft in der Reichsmusikkammer oder Taufurkunden ihrer Eltern als Nachweis der Religionszugehörigkeit. Andere seien in die NSDAP eingetreten, hätten als Kaufleute Arbeit gefunden oder lebten in der Stadt. Dagegen bot Ritter seine genealogischen Tabellen an. Mit ihnen konnte er sie ausfindig machen und zur Strecke bringen. Seine Mitarbeiter trugen Meßergebnisse über Nasenlänge, Ohrengröße und ähnliches zusammen. Noch wichtiger aber als diese anthropologischen Daten waren die angelegten genealogischen Tabellen, also filigrane Angaben über Verwandtschaftsverhältnisse. Sie ermöglichten eine fast lückenlose Erfassung der Sinti- und Roma-Bevölkerung.

 

Auf Gedenktafel auch Täter genannt

Zufrieden vermerkt der Reichsarbeitsminister im März 1942: „Im Reich gibt es etwa 35.000 bis 40.000 Personen, die als zigeunerisch anzusehen sind. Etwa 13.000 Personen sind bereits untersucht. Die Untersuchung und die Begutachtung der übrigen Zigeuner und Zigeunermischlinge ist im Gange. Mit einer restlosen Begutachtung ist in etwa einem Jahr zu rechnen."

Von den insgesamt etwa 25.000 deutschen Sinti und Roma haben etwa 4000 bis 5000 die Vernichtungs- und Arbeitslager überlebt. Die Wegbereiter der Vernichtung Robert Ritter und Eva Justin wurden nie von einem Gericht verurteilt. Ritter starb 1948 unbehelligt, Justins Verfahren wurde mangels Beweisen eingestellt.

Nach langen Auseinandersetzungen mit der Stadt Frankfurt am Main gelang es 2000 endlich, am Gebäude des Frankfurter Stadtgesundheitsamtes eine Gedenktafel anzubringen, die auf die Morde an Sinti und Roma hinweist. Wohl einmalig in der Gedenk-Kultur ist, daß auch zwei Täter namentlich genannt werden, wo man sich sonst gern darum herumdrückt und anonym von „Opfern der Gewaltherrschaft" spricht; mit solchen Verklausulierungen können sich dann auch die Täter als Opfer verstehen.
Gedenktafel Frankfurt am Main

Eine Tafel am Frankfurter Stadtgesundheitsamt gedenkt der Ermordung der Sinti und Roma.

 

DIE AUTORIN

- Christine Wittrock, Jahrgang 1948, studierte Geschichte, Germanistik und Philosophie an der Frankfurter Goethe-Universität und promovierte im Jahr 1982 Als freie Autorin hat sie Bücher zur Geschichte der Frauenbewegung und zur Faschismusgeschichte veröffentlicht. Sie lebt in Spanien.

- Zitate und Zahlenangaben im Artikel: Udo Engbring-Romang „Die Verfolgung der Sinti und Roma m Hessen zwischen 1870 und 1950". Frankfurt am Main 2001.

Udo Engbring Romang „Hanau, Auschwitz. Zur Verfolgung der Sinti in Hanau und Umgebung." Frankfurt am Main 2002.
Donald Kenrick und Grattan Puxon: „Sinti und Roma - die Vernichtung eines Volkes im NS-Staat", Göttingen 1981.

- Im November 2006 erscheint Christine Wittrocks neues Buch „Kaisertreu und führergläubig. Impressionen aus dem Altkreis Gelnhausen 1918 bis 1950“, in dem diese Thematik behandelt wird.

Frankfurter Rundschau – 27.5.06 - mit freundlicher Erlaubnis der FR