Interview mit Wilhelm von Sternburg
"Die BRD war eine kranke Gesellschaft"

Autor Wilhelm von Sternburg über seine frühen Jahre und die der BRD, den Triumph der Demokratie, Politiker und andere Seelenverkäufer.

Worüber sollen wir sprechen?

Sechzig Jahre Bundesrepublik, siebzig Jahre Wilhelm von Sternburg, zehn Jahre Ihr Buch "Deutsche Republiken - Scheitern und Triumph der Demokratie".

Wissen Sie, als junger Mensch habe ich mir keine Gedanken gemacht. Ich war sehr einverstanden mit der Adenauerrepublik. Sie erschien mir als die beste aller möglichen Welten. Nicht, daß ich das besonders tiefsinnig politisch reflektiert hätte. Ich lebte einfach in diesem Gefühl. Ich war aufgewachsen in der Vorstellung, die Dinge zu akzeptieren, so wie sie sind. Kritik, Skepsis, eigenständiges Denken - das begann bei mir erst spät. Es wurde angestoßen durch die Revolte von 1968. Ich weiß noch, wie ich nach dem Tod von Benno Ohnesorg im Juni 1967 Die Welt und Die Zeit las und mir plötzlich klar wurde, wie unterschiedlich das gleiche Ereignis gesehen und beschrieben wurde. Natürlich hatte ich vorher gelernt, daß man unterschiedliche Ansichten haben kann. Aber erst damals erfuhr ich das, was man Medienmanipulation nennt. Man durfte nicht einfach automatisch übernehmen, was man las. Um entscheiden zu können, mußte man unterscheiden. So erwachte ganz allmählich mein etwas kritischeres Denken.

Davor waren Sie nichts als das Produkt der Verhältnisse, in die Sie geboren wurden?

Nicht ganz und gar, aber doch ein gut Stück. Ich bin von Haus aus kein Rebell. Aber es gab immer wieder Erfahrungen, von denen ich angestoßen wurde. Zum Beispiel beim Wehrdienst. Der war sehr wichtig für mich. Ich war bei der Marine, und als ich auf dem Nachttisch meines Vorgesetzten ein Foto des Großadmirals Karl Dönitz, den Hitler selbst zu seinem Nachfolger ernannt hatte, entdeckte, war ich doch einigermaßen entsetzt. 1959 hatte Bernhard Wickis Film "Die Brücke" mich tief beeindruckt. Nicht zur Freude meiner Familie. Ich stamme von preußisch-sächsischen Junkern ab, die dem Vaterland auch als Offiziere dienten. Natürlich haben die Frankfurter Auschwitzprozesse mich stark geprägt. Sie begannen 1963 und rückten achtzehn Jahre nach Kriegsende erstmals die systematische Ermordung der europäischen Juden ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit. Das erschütterte mich. Aber das Selberdenken kam erst mit '68.

Woran lag das?

Das kann ich Ihnen nicht sagen. Man darf nicht vergessen: Die Bundesrepublik war eine kranke Gesellschaft. Sie wurde ja großteils geprägt von denen, die während des Dritten Reiches aktiv gewesen waren. Es herrschte eine Generation, deren an sich schon immer sehr zweifelhafte Ideale blutig gescheitert waren. Das deutsche Bürgertum hatte sich für etwas ganz Besonderes, es hatte sich für auserwählt gehalten. Aus dieser Höhe war es tief, sehr tief gefallen. So etwas geht nicht ohne Beschädigungen. Nach 1945 lebte in Deutschland eine Erwachsenengeneration, die erlebte, wie sie prosperierte, indem sie sich dem verachteten Feind anpaßte. Dazu mußte sie sich selbst verachten. Um so leben zu können, mußte viel, viel zu viel verdrängt werden. Ein wenig davon erleben jetzt auch die Bürger der ehemaligen DDR. Sie stehen jetzt auf der Seite des ehemaligen Klassenfeindes. Sie glaubten, das bessere Deutschland zu sein. Das müssen sie jetzt vergessen, um in der Bundesrepublik zufrieden leben zu können. Manche kommen damit nicht klar. Sie schaffen den Absprung nicht. 1998 erschien meine Biographie über Arnold Zweig - "Um Deutschland geht es uns" - im Aufbau-Verlag. Es gab Lesungen überall in Deutschland. In den Städten der ehemaligen DDR las ich gerne die den realexistierenden Sozialismus kritisierenden Passagen des Buches. In Ostberlin stand nach der Lesung ein Mann auf und erklärte: "Von Ihnen lasse ich mir meinen Stalin nicht kaputt machen." Er ertrug es nicht, daß er sich so geirrt haben konnte. Genauso, nur noch viel schlimmer, weil Schlimmeres verdrängend, ging es der Generation, die das Dritte Reich ja nicht nur erlebt, sondern auch - zu einem nicht geringen Teil jubelnd - unterstützt hatte. Nach 1945 stürzten sie sich auf den Aufbau. Nur nicht zurückschauen! war die Devise.

Gibt es eine deutsche Neigung zum Totalitären?

Eine deutsche Neigung? Das weiß ich nicht. Aber ganz offensichtlich sind die vergangenen zweihundert Jahre deutscher Geistesgeschichte geprägt von der Sucht nach dem totalen, alles erklärenden System. Die englische und die französische Aufklärung kämpfte um Offenheit. In Deutschland war der Wunsch nach geschlossenen, das Ganze umfassenden Systemen übermächtig. Die deutsche Philosophie hatte ganz sicher einen Hang zum Totalen - Hegel, Schopenhauer, Nietzsche. Dem entsprach die Arroganz des deutschen Bildungsbürgertums. Es glaubte, Bescheid zu wissen, alles in der Tasche zu haben. Der Nazigedanke der rassischen Überlegenheit war dem deutschen Bürgertum nicht fremd. Houston Stewart Chamberlain war einer seiner Lieblingsautoren. Das Dritte Reich war kein Zufall. Das meiste von dem, was Hitler propagierte, war schon seit Jahrzehnten gerade im deutschen Bildungsbürgertum weit verbreitetes Gedankengut. Das heißt nicht, daß der Nationalsozialismus die notwendige Konsequenz der deutschen Geschichte war. Es hätte anders kommen können. Aber er ist nicht als geistesgeschichtlicher Fremdkörper in die heile Welt des deutschen Bürgertums eingedrungen. Er ist ihr Produkt. Nicht nur das - wie einige Historiker uns glauben machen möchte - des Ersten Weltkrieges und der Weltwirtschaftskrise.

Wie kam es nach alldem zu dem von Ihnen diagnostizierten "Triumph der Demokratie"?

Ein Glücksfall. Ein Glück, zu dem die Deutschen - energisch - gezwungen wurden. Wir sind den Weg in die Demokratie ja nicht freiwillig gegangen. Sie wurde uns aufgezwungen. Es dauerte sehr lange, bis wir sie annahmen, und es dauerte noch länger, bis wir ein wenig mehr Demokratie wagten. Es hätte ohne die Zerschlagung der alten Eliten, auch ohne die Zerschlagung Preußens, ja ohne die Teilung Deutschlands, wahrscheinlich keine demokratische Entwicklung gegeben. Der weite Weg nach Westen war nur in der ganz besonderen Konstellation nach dem Zweiten Weltkrieg möglich. Ohne den wirtschaftlichen Erfolg hätte die Demokratie wohl auch keine Chance gehabt. Wir reden heute wieder viel von Eliten und ihrer Notwendigkeit. Die Erfahrung der Bundesrepublik ist eine andere. Ohne die Zerschlagung der machtpolitischen Positionen von Adel und Militär wäre die Entwicklung eines demokratischen Deutschland unmöglich gewesen. Die Wahrheit ist: Viele unserer heutigen Probleme rühren daher, daß in den letzten sechzig Jahren sich neue Eliten gebildet haben, die Gesellschaft und Staat als ihr Eigentum betrachten, über das sie verfügen können.

Wer ist das?

Man darf nicht vergessen, daß die Wirtschaftselite das Dritte Reich weitgehend unbehelligt überstand. Auch die führenden Kräfte der staatlichen Verwaltung und der Justiz blieben in ihren Ämtern und setzten ihren Weg auf der Karriereleiter fort. Das gehörte ja mit zum Krankheitsbild der Bonner Republik. Der Rheinische Kapitalismus der Adenauerzeit basierte auf der Verbindung von Sozialer Marktwirtschaft und Klüngel. Helmut Kohl hat den Klüngel zum Regierungsprinzip erhoben. Inzwischen bilden Wirtschaft, Medien, Politik und Gewerkschaft eine Einheit. Es gibt Konflikte zwischen ihnen, aber keinen grundsätzlichen Dissens mehr darüber, wie unsere Gesellschaft auszusehen hat. Das ist jetzt wieder in besonderem Maße in der Wirtschaftskrise deutlich geworden. Es ist niemand da, der eine Alternative hat. Jedenfalls keine gewichtige gesellschaftliche Kraft, die sagen könnte: Seht ihr, es ist so gekommen, wie wir gesagt hatten, daß es kommen mußte. Nicht nur in Deutschland haben die Eliten stets das Wohl der Banken und der Großindustrie, aber nur selten das Gemeinwohl vertreten. Manager denken nicht an ihre Mitarbeiter und langfristige gesellschaftliche Entwicklungen, sondern an ihre Bonuszahlungen und Millionenabfindungen. Politiker verkaufen ihre Seelen und ihre Wahrheiten, um die Macht nicht zu verlieren. Man sagt gerne: Es seien nicht alle so. Das stimmt, aber das ist nicht die Frage. Es geht darum, wie das System funktioniert: fördert es den Egoismus und die Raffgier der Eliten oder fordert es ihre Einsatzbereitschaft für die Gesellschaft. Da ist einiges schief gelaufen in den letzten Jahren und Jahrzehnten.

Von 1989 bis 1993 waren Sie Chefredakteur des Hessischen Rundfunks…

Ich nehme mich da nicht aus. Ich sehe, daß ich Glück hatte. Ich mußte niemanden entlassen. Aber diese Zeit, die viele als den Höhepunkt meines Berufslebens betrachten, war mit Blick auf meine Lebensqualität nicht selten die mieseste. Man lebte im Zwiespalt: Einerseits konnte man viele Ideen umsetzen, andererseits scheiterte man viel zu häufig am Mittelmaß. Generell gilt sicher und das ist ein Dilemma unserer Zeit: Im Topmanagement wie in der Politik müssen Sie dauernd Entscheidungen treffen, und es fehlt Ihnen oft einfach die Zeit der notwendigen Reflexion, um eine vernünftige Güterabwägung vorzunehmen. Je wichtiger die Entscheidungen sind, desto mutloser sind die, die sie zu treffen haben. Hinzu kommt: Wir haben die Welt so organisiert, daß die, die das Leben am wenigsten kennen, die größte Macht über es haben.

Es würde schon ein wenig helfen, wenn Politiker gezwungen würden, mit der S-Bahn zu fahren. Der Anblick, der Geruch, die Geräusche der Menschen, über deren Geschick sie bestimmen, würde vielleicht dazu führen, daß sie ein wenig besser verstünden, was sie bewirken. Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft sind viel zu oft überfordert. Darauf basiert unsere Welt.

Was tun?

Es gibt nicht das Eine, das man tun muß. Es gibt die tausend scheinbaren Kleinigkeiten, die getan werden müssen. Einiges habe ich schon genannt. Vor allem aber dürfen wir uns nicht abfinden mit der Situation. Ich höre oft: Sechzig Jahre mehr oder weniger Frieden - da entstehen neue Eliten, neue Machtklüngel. Das ist nun mal so. Heißt das etwa, daß wir es auch noch benicken sollen? Nein, wir sollen anschreiben dagegen. Sie sollen anschreiben dagegen. Wäre Mehdorn nicht von den Medien gejagt worden, er hätte jetzt über Ostern in seinem Ferienhaus gesessen und die Berichte über seine Mitarbeiter gelesen.

Seit 1993 leben Sie als freier Schriftsteller. Sie haben in dieser Zeit ein Dutzend Bücher geschrieben, ebenso viele herausgegeben und eine Reihe von Dokumentarfilmen gedreht. Alle beschäftigen sich mit den letzten zweihundert Jahren deutscher Geschichte, mit dem "Scheitern und dem Triumph der Demokratie" in Deutschland. Sind Sie besessen davon?

Ich sitze gerade an einem Buch über Lessing. Ich genieße den Ausflug ins 18. Jahrhundert, in das Versprechen einer freien deutschen Aufklärung. Ich habe mich immer für Geschichte interessiert. Aber es ist sicher richtig, daß ich begreifen wollte und will, was mit uns passierte in den letzten zweihundert Jahren, was wir getan haben. Es sind ja die Jahre, in denen das moderne Deutschland entstand. Diese zwei Jahrhunderte sind nicht zu begreifen ohne den Aufstieg der Juden aus den Ghettos, ohne ihren immensen Beitrag zum Aufstieg Deutschlands und ohne ihre Vernichtung. Zudem bin ich aufgewachsen in einer Welt von Flüchtlingen, inmitten der Klagen, über das, was sie verloren haben. Ich habe in dieser Welt niemals jemanden klagen gehört über das, was er getan hat. Wir saßen im Westen und beklagten, daß wir die Güter im Osten verloren hatten. Ich fragte mich: Aber wir waren es doch, die den Weg in die Katastrophe befördert hatten. Auch ich empfand den Verlust und verstehe die Klage noch immer, aber ich kann sie nicht mehr teilen. Etwas pathetisch formuliert: Ich leide an unserer Geschichte. Ich erzähle sie mir und den Lesern, nicht um sie und mich zu trösten, sondern um mir klarzuwerden über das, was wir getan haben und über die Wege, die wir gingen, um herauszukommen aus dieser alten deutschen Geschichte.

Interview: Arno Widmann

Zur Person

Wilhelm von Sternburg, geboren 1939 in Pommern, studierte Volkswirtschaft und Geschichte als Werkstudent, arbeitete bei Zeitungen, Radio und Fernsehen, ging zum Hessischen Rundfunk, wurde dort Chefredakteur. Er lebt in Wiesbaden. Seit 1993 ist er freier Schriftsteller.

Zu seinen Büchern gehören Biographien über Adenauer, Feuchtwanger, Ossietzky, Remarque, Joseph Roth (im März 2009) und Arnold Zweig. Außerdem u.a.: "Als Metternich die Zeit anhalten wollte - Unser langer Weg in die Moderne" und "Deutsche Republiken - Scheitern und Triumph der Demokratie". Sehr lesenswert ist auch seine Anthologie "Stimmen sind da in der Luft - in der Nacht", eine Geschichte der Deutschen in Erzählungen von 1871 bis 1945.

Frankfurter Rundschau - 20.4.09 - mit freundlicher Erlaubnis der FR

Gedanken eines bedeutenden Publizisten über Deutschland und die Bundesrepublik - Gedanken, in denen sich auch mancher von uns wiederfinden kann.