Eine altsteinzeitliche Fundstelle in Liederbach am Taunus
Die älteste Spur des Menschen im Main-Taunus-Kreis
MICHAEL KÖHLER

Zur Lage des Fundplatzes
Auf einem Geländesporn in der Gemarkung der Gemeinde Liederbach am Taunus konnte aufgrund privater Initiative seit 1991 eine Anzahl altsteinzeitlicher Werkzeuge im Zuge von intensiven Ackerbegehungen geborgen werden. Der Fundplatz „Im Ernst" liegt südlich des Ortes und grenzt nach Südwesten hin an die „Lochgräben", ein im Mittelalter angelegtes Entwässerungssystem zum Trockenlegen ehemaliger Feuchtgebiete, um Ackerland zu gewinnen (Erler). Nördlich der Fundstelle schließt sich die Flur „Am Baum" an. Der Fundplatz hat eine Ausdehnung von ca. 50-80 Metern und liegt auf einer Höhe von ca. 125 Metern über dem Meeresspiegel. Durch einen Geländeabbruch zu den ehemaligen Lochgräben hin fällt das Gelände um etliche Meter steil ab.

Wahrscheinlich war dieser Geländeabbruch auch schon in der Altsteinzeit die Begrenzung eines wohl größeren Wasserlaufes. Heutzutage befindet sich an dieser Stelle nur noch ein Rinnsal in einem schmalen Graben, das in nördlicher Richtung etwa in der Nähe des Hofes Hausen vor der Sonne entspringt und in Richtung Main fließt. Das Gelände liegt also einerseits direkt an einem Wasserlauf, ist aber andererseits durch seine erhöhte Lage zum Wasser hin (Geländeabbruch) gegen Überschwemmungen geschützt.

Das Flußbett des Mains befindet sich heute etwa drei Kilometer vom Fundort entfernt. Wenn man aber bedenkt, daß die Wasserführung in früheren Zeiten viel breiter gewesen ist (in den letzten Eiszeiten bis 15 km), liegt die Fundstelle also am Rande der Mainebene. Gegen kalte einfallende Winde aus nordwestlicher Richtung liegt das Gelände durch eine heute bewaldete Geländekuppe geschützt. Wir finden also auf unserem Fundplatz geographische Gegebenheiten vor, die unserem Vorfahren, dem altsteinzeitlichen Menschen, als Kriterien zur Auswahl eines Aufenthaltsortes genügt haben könnten.

Vorder- und Rückenansicht eines größeren, bearbeiteten Quarzitgerölls aus der Altsteinzeit (Chopping-tool).
Fundort: Liederbach am Taunus. Die Abbildungen entsprechen etwa 4/10 der natürlichen Größe. [im Buch]

 

Das Altpaläolithikum (Altsteinzeit)
Der längste Abschnitt in der Menschheitsgeschichte spiegelt sich im Altpaläolithikum wider. In der archäologischen Wissenschaft werden verschieden alte Zeitabschnitte nach Fundorten benannt und zeitlich-chromatisch unterteilt.

Zu den mehr als 3 Millionen Jahre alten Zeugnissen des Menschen gehören Knochenfunde von Hominiden, die aus Afrika stammen. So auch Funde aus Äthiopien, die dort im Hadargebiet und auch im Omotal bei Ausgrabungen entdeckt wurden. Dies sind sehr frühe Formen des Menschen, die aber schon einen aufrechten Gang besaßen. Der wissenschaftliche Name ist „Australopithecus afarensis".

Eine weiterentwickelte Form des Urmenschen finden wir im „Homo habilis" wieder. Ein bekannter Fundort für diesen Menschen ist die Olduvai-Schlucht südlich von Nairobi (Tansania), wo man Schädel entdeckte, die ein Alter von etwa 1,3 - 2,5 Millionen Jahren haben. Zeitlich anschließend an diese archaischen Menschheitsformen erscheint als nächst weiterführendes Glied in der Geschichte der Entwicklung des Menschen der Homo erectus. Er zeichnet sich durch ein größeres Hirnvolumen im Gegensatz zu seinem Vorläufer aus. Ein guterhaltener Schädel stammt aus Koobi Fora am Ostufer des Turkana Sees (Kenia) und ist mit einem Alter von ca. 1,6 Mill. Jahren einer der ältesten seiner Gattung.

Der Mensch der Homo-erectus-Gruppe fertigte schon einfache Steingeräte an, konnte einfache Behausungen errichten und benutzte das Feuer. Im Hinblick auf diese Fähigkeit läßt sich eine Ausbreitung auch nach Mitteleuropa erklären. Die Kultur des Homo erectus in Europa, das ältere Acheuléen (nach dem Fundort „Saint Acheul" bei Amiens, Frankreich) bestand nahezu l Mill. Jahre lang. Bekannte Fundstellen sind u.a. die Arago Höhle bei Tautavel (Frankreich, nördlich von Perpignan), Vértesszöllös bei Tatabanya nordwestlich von Budapest (Ungarn), der Ort Mauer (südlich von Heidelberg) und Bilzingsleben (Harz). An all diesen genannten Orten konnten Skelettreste geborgen werden, die wissenschaftlich sehr wertvoll und aussagefähig sind.

Schließlich ist zu bemerken, daß diese Hinweise zur Entwicklungsgeschichte des Menschen stark vereinfacht sind und nur einleitend zum besseren Verständnis der nachfolgenden Ausführungen, speziell in bezug auf Hessen und auf die Fundstelle in Liederbach dienen.

Herstellung von Steinwerkzeugen
In Hessen ist die Anwesenheit des Homo erectus ausschließlich durch Funde von Steinwerkzeugen (Artefakten) bezeugt. Die Interpretation der hessischen Steinfunde beruht auf Erkenntnissen, die durchweg außerhalb unserer Region gewonnen wurden. Bekannte Fundorte in Hessen sind z.B. Großenbach (Hünfeld) Kr. Fulda oder die Gegend um Münzenberg (Wetterau). Dort wurde bereits eine größere Anzahl Steinartefakte entdeckt, die nach Eindruck ihrer urtümlichen Herstellungstechnik und Typologie eine Schätzung ihres Alters bis zu annähernd l Mill. Jahren zulassen.

Der Homo erectus stellte seine Werkzeuge aus örtlich anstehendem Rohmaterial her. Ein willkommener Werkstoff war hartes, gut spaltbares Material, so auch der in Hessen in unterschiedlicher Form vorkommende Quarzit. Oft wurden Quarzitgerölle bearbeitet, die der damalige Mensch auf Geröllfeldern vorfand, die sich in den letzten Eiszeiten durch Transport des Gesteins (Eis, Wasser) gebildet hatten.

Diese zur Werkzeugherstellung benutzten Quarzitgerölle wurden an einem geringen Teil ihres Umfanges mit sog. Schlagsteinen scharfkantig geschlagen. In der Archäologie nennt man einseitig beschlagene Steine „Chopper". Sind sie beidseitig beschlagen, heißen sie „Chopping-tools", und an ihnen läßt sich eine wellige „Schneide" erkennen. Eine andere Variante dieser urtümlichen Artefakte nennt man „Polyeder". Das sind mehrseitig beschlagene rundliche oder kubische Kerne. Auch gibt es kleinere Steinwerkzeuge, die man z.B. aus Chalzedon, Hornstein oder Kieselschiefer herstellte.

Diese Hinterlassenschaften des Homo erectus in Hessen lassen schon verschiedene Produktionsgeräte erkennen, die gezielt und zweckbezogen für bestimmte Tätigkeiten bzw. Arbeitsverfahren hergestellt worden sind. Sie bezeugen genaue Kenntnis der Werkstoffe und ihrer Eigenschaften. Die größeren Artefakte wurden meist als Hieb- oder Hackgeräte benutzt, so auch zum Zerlegen größerer erlegter Tiere und zum Herstellen von Gebrauchsgegenständen aus Knochen. Weiterhin konnte Holz zerteilt und gespalten werden. Daraus stellte man z. B. Hieb- oder Grabstöcke her. Die kleineren Steinartefakte, etwa aus Kieselschiefer, hatten eine mehr schaberartige Funktion, z.B. zum Weiterverarbeiten angefertigter Rohstücke aus Holz, Knochen oder Horn.

Lebensweise und Umgebung
Mit den verschiedenen Geräten und Werkzeugen, die der frühe Mensch aus Hessen herstellen konnte, war auch die Voraussetzung gegeben, einen Wetterschutz oder Zelte zu errichten, die mit Tierfellen bespannt wurden. Auch wurde einfache Kleidung zum Schutz gegen Kälte aus Häuten angefertigt. Die Benutzung des Feuers gewährleistete auch in kälteren Klimaphasen dieser Zeit ein Überleben des Homo erectus in unserer Region.

Wohnplätze dieser Individuen kennzeichnen sich durch Zelte, Feuerstellen und Arbeitsbereiche. Solche auch als Jagdstationen benannten Orte wurden sorgfältig nach differenzierten Kriterien ausgewählt. So liegen sie auf nach Südwest exponierten Geländeflächen in sonniger Lage. Auch achtete man bei der Auswahl eines Wohnplatzes auf Schutz vor kalten Winden aus nördlicher Richtung, der durch angrenzende Anhöhen oder Geländekuppen gewährt wurde. Ein weiterer wichtiger Aspekt bei der Auswahl eines solchen Platzes war die direkte Nähe zum Wasser. Schließlich ist festzustellen, daß solche vom Homo erectus aufgesuchten Orte oft am Rande von Flußebenen liegen und der Mensch so einen guten Überblick auf die vor ihm liegende Landschaft hatte. Dies hatte wohl auch im Hinblick auf die Jagd nach Großsäugern Vorteile.

So ist bekannt, daß z.B. Elefanten in sumpfige Gebiete von Flußebenen getrieben wurden, um sie dort leichter mit Holzspeeren zu erlegen. Andere Großsäuger, die der altsteinzeitliche Mensch in Hessen bejagte, waren u.a. auch Bison, Moschusochse und Nashorn. Der tägliche Nahrungsbedarf wurde aber nicht nur durch Fleisch gedeckt, sondern ergänzte sich auch durch Wurzeln, Beeren und Früchte. Die natürliche Umgebung des damaligen Menschen läßt sich als tundraähnlich beschreiben. Einzelne Baumgruppen gab es nur an geschützten Stellen oder in Talauen.

Geschichte des Fundplatzes Liederbach
Erste Hinweise auf die Fundstelle Liederbach sind schon aus den 70er Jahren zu verzeichnen. So wurden Funde bekannt, die aus dem Zeitabschnitt der Jungsteinzeit (Neolithikum, ca. 5000 vor Chr.) stammen. Bei Feldbegehungen wurden 1976 - 1979 Scherben von Tongefäßen, ein Henkelstück und verschiedene Klingenfragmente aus Feuerstein und Kieselschiefer geborgen (Sturm-Berger). Im Jahr 1988 wurden sie, mit anderen vorgeschichtlichen Funden der Gemarkung, im Rathaus Liederbach ausgestellt.

Auch die seit Anfang der 80er Jahre erfolgten Feldbegehungen durch die „Arbeitsgemeinschaft Vorgeschichte" (B. Gimbel, C. Cristinelli und der Verfasser) brachten neolithisches Inventar zum Vorschein. Bemerkenswert sind hier „Hüttenlehmfragmente", die auf eine Besiedlung des Platzes schließen lassen. Dafür zeugen auch größere Stücke und Hälften von sog. Handgetreidemühlen, die in größerer Anzahl geborgen wurden.

Mit diesen etwa 20 - 40 cm langen Mühlen aus gröberem Sandstein wurde Mehl gemahlen, das der jungsteinzeitliche Mensch durch Getreideanbau im Umfeld der Siedlung gewinnen konnte. Diese Tatsache findet eine schöne Ergänzung in dem Flurnamen der Fundstelle „Im Ernst", der abzuleiten ist von „ern, eren" = ackern, pflügen oder „ernen" = ernten (Erler). Weiterhin wurden auch geschliffene Steinbeile und Fragmente, eine Anzahl Feuersteinwerkzeuge und Bruchstücke sowie eine Pfeilspitze aus Feuerstein gefunden. Auch Hämatit, auch als „Schminkestein" bezeichnet, zum Gewinnen eines rötlich-braunen Farbstoffes, gehört mit zum Inventar der im Neolithikum besiedelten Fundstelle Liederbach.

Unter den seit den 80er Jahren gemachten Funden befinden sich auch mittelsteinzeitliche Geräte aus Kieselschiefer und Chalzedon, die sich durch ein anderes Herstellungsverfahren als im Neolithikum erkennen lassen. Diese mittelpaläolithischen Artefakte sind als Oberflächenfunde mit einem Alter von 35.000 bis annähernd 300.000 Jahren zu datieren.

Schließlich hat der Verfasser in den 90er Jahren erstmals altsteinzeitliche Geräte (Chopping-tools) auf dem Fundplatz erkannt. Wir finden also ein Gelände vor, das über Jahrhunderttausende in verschiedenen Kulturen der Vorgeschichte immer wieder von Menschen aufgesucht oder gar besiedelt wurde. Die in reicher Anzahl entdeckten Fundstücke wurden 1993 von den Findern dem Landesamt für Denkmalpflege in Wiesbaden zur wissenschaftlichen Bearbeitung vorgelegt und dort näher bestimmt.

Beschreibung der altsteinzeitlichen Funde
Die auf der Fundstelle Liederbach entdeckten „Chopping-tools" lassen sich danach in die ältere Altsteinzeit datieren. Diese Geröllgeräte heben sich durch ihr wesentlich höheres Alter von den dort bisher gemachten Funden ab. Da es Oberflächenfunde sind und sie nicht aus stratigraphisch aussagefähigen Schichten stammen, ist die zeitliche Einordnung relativ, aber eine Schätzung ihres Alters auf ca. 300.000 - 600.000 Jahre ist gerechtfertigt. Kennzeichnend für das hohe Alter der Geräte sind auch die mittlerweile stark verschliffenen, ehemals scharfen Kanten der Schneide. Dies läßt sich durch die Hunderttausende Jahre lange Lagerung im Erdreich und die damit verbundene Umwälzung und Umlagerung erklären. Eine weitere Ursache, die zur Verschleifung ehemals scharfer Kanten geführt hat, ist die längere Lagerung der Objekte auf der Oberfläche (Windschliff).

Chopping-tool aus Liederbach. Deutlich zu erkennen sind hier die verschliffenen, ehemals scharfen Kanten des altsteinzeitlichen Werkzeuges (ca. 1/2 natürliche Größe). [im Buch]

Das in seinen Ausmaßen größte dieser urtümlichen Werkzeuge hat eine Länge von ca. 17 cm, eine Breite von 13 cm und eine Stärke von 4,5 cm. Das Gewicht ist erheblich und beträgt knapp 1500 gr. Die anderen Stücke sind mit einer Länge von max. 10 cm etwas kleiner. All diese erwähnten Artefakte sind aus anstehenden Geröllquarziten des Fundplatzes Liederbach gefertigt. Sie sind von beige-bräunlicher Farbe und mit ihrer gewellten „Schneide" in „klassischer", der Zeit des Homo erectus typischer Weise hergestellt.

Zusammenfassung
Der Grund dafür, daß Menschen aus den verschiedenen Abschnitten von Alt-, Mittel- und Jungsteinzeit diesen Platz bei Liederbach immer wieder aufsuchten, läßt sich wohl durch seine günstige Lage erklären. Es ist ein nach Südwesten exponiertes Gelände mit natürlichem Schutz vor kalten einfallenden Winden aus nördlichen Richtungen durch die angrenzende Geländekuppe. Speziell im Hinblick auf die Anwesenheit des Homo erectus sind nochmals die Quarzitgeröllvorkommen und die Randlage zur Mainebene zu nennen. Die auf dem Fundplatz entdeckten „Chopping-tools" sind die bislang ältesten Spuren des Menschen im Main-Taunus-Kreis. Sie werden in einem Museum des Kreises ausgestellt.

Es ist zu vermuten, daß auch in den nächsten Jahren neue altsteinzeitliche Objekte zum Vorschein kommen. Vielleicht bestätigen sie, was wir bislang nur vermuten können, nämlich eine Besiedlung des Platzes schon in der Altsteinzeit.

Literatur:

Abelanet, Jean: Le Musee de Tautavel, Conflent 1989.
Erler, Arnold: Die Oberliederbacher Flurnamen. In: Rad und Sparren Heft 17, S. 10-40.
Erler, Arnold und Sturm-Berger, Michael: Oberliederbach (Historische Daten /Aus der Geschichte von Oberliederbach). In: Förderkreis Denkmalpflege Main-Taunus-Kreis e.V., Heft 23, 1995, S. 45-50.
Fiedler, Lutz: Alt- und mittelsteinzeitliche Funde in Hessen. Stuttgart 1994 (Führer zur hessischen Vor- und Frühgeschichte 2).
Mania, Dietrich: Auf den Spuren der Urmenschen. Die Funde von Bilzingsleben. Berlin 1990.

Aus: Zwischen Main und Taunus / MTK-Jahrbuch 1997 - mit freundlicher Erlaubnis des Autors
24.7.05