Wie 1492 das „Ländchen" erstmals hessisch wurde
GERD S. BETHKE

Das Jahr 1492 liegt mitten in einer Zeitenwende. Am 2. Januar besiegelt die spanische Reconquista mit der Eroberung Granadas das Schicksal des letzten muslimischen Königreichs auf westeuropäischem Boden. Auf dem Balkan dagegen braut sich seit Jahren eine neue Gefahr zusammen: Die Türken hatten 1453 Konstantinopel erobert und stehen 1492 bereits kurz vor Belgrad. In Nürnberg entwirft Martin Behaim den ersten Globus. Der Portugiese Joab Fernandes, genannt Labrador, gelangt bis nach Grönland, und der Genuese Cristoforo Colombo leitet mit der Entdeckung einiger westindischer Inseln die Eroberung einer Neuen Welt ein. In Florenz stirbt Lorenzo Medici, den sie ,,il Magnifico" nannten, der Förderer von Botticelli und Michelangelo, und in Rom besteigt Alexander VI. Borgia den Stuhl Petri. Martin Luther besucht in Mansfeld die Stadtschule und ist noch fest im alten Glauben verwurzelt.

Im Main-Taunus-Gebiet haben die Menschen andere Sorgen. Am 27. Februar 1492 hatte nämlich Gottfried IX. von Eppstein-Münzenberg fünfzehneinhalb Ortschaften und Höfe an den Landgrafen Wilhelm II. von Hessen verpfändet, und am 6. August wandelt er die Verpfändung in einen endgültigen Verkauf um.

Die Herren von Eppstein, seit dem ausgehenden 12. Jahrhundert auf der namengebenden Burg nachweisbar, hatten im ganzen 13. Jahrhundert mit den Erzbischöfen von Mainz die höchsten geistlichen Würdenträger des Reiches gestellt, konnten diese Familienbeziehungen aber nicht so recht zum Ausbau ihres Territoriums nutzen. Zwar verschwägerten sie sich reihum mit den Grafen und Herren der engeren und weiteren Nachbarschaft, aber über die Herrschaften Eppstein und Homburg sowie ihre Stammlande südlich von Hanau hinaus brachte ihnen dies nur wenig Zugewinn.

Zwei Erbschaften verändern das Bild innerhalb kurzer Zeit. 1419 erhalten die Brüder Gottfried VII. und Eberhard II. aus der Hinterlassenschaft der ausgestorbenen Herren von Falkenstein (ihre Mutter war eine Falkensteinerin) durch Losentscheid das sogenannte Butzbacher Drittel, und 1420 sowie 1423 einigt sich der mit der Enkelin des letzten Diezer Grafen verheiratete Gottfried VII. über die Aufteilung von deren Erbe.

Den Eppsteinern gehört nunmehr ein Gebiet, das im wesentlichen aus fünf getrennten Stücken besteht: Ein weitgehend geschlossenes Territorium von der Mainmündung bis vor die Tore von Lich mit den Herrschaften Eppstein, Königstein, Homburg, Kransberg und Butzbach; einem erheblichen Teil der Grafschaft Diez, nämlich drei Vierteln der Ämter Camberg, Altweilnau und Wehrheim; den Stammlanden südlich von Hanau und im Rodgau; Breuberg im Odenwald mit seiner Umgebung und dem Gebiet um Ortenberg, Schotten und Gedern. Üppige Einkünfte sind daraus zwar nicht zu erzielen - dazu fehlen etwa Bergwerke oder ergiebige Zollstätten - aber es sollte eigentlich eine gute Grundlage sein, um in Konkurrenz mit benachbarten Territorien treten zu können.

Die Herren von Eppstein sehen das anders. Für sie sind die ihnen zugefallenen Gebiete in erster Linie die Grundlage zur Versorgung der männlichen Familienmitglieder. Schon 1433 teilen Gottfried VII. und Eberhard II. ihren Besitz auf. Dabei bemüht man sich nicht etwa um geschlossene Territorien, sondern die Gebiete der Brüder bleiben vielfach ineinander verzahnt. Gottfried, der einen Anteil an Münzenberg in der Wetter zu bekommen hatte, begründet die Linie Eppstein-Münzenberg und Eberhard die Linie Eppstein-Königstein. Beide teilen ihre Territorien weiter unter ihren Söhnen auf.

Es bleibt jedoch nicht bei Landesteilungen. Wie den unfähigen Erben eines modernen Privatunternehmens gelingt es ihnen nicht, von ihrem Besitz zu leben, ohne die Substanz anzugreifen. Keiner der Eppsteiner ist in der Lage, mit den regelmäßigen Abgaben und Einkünften aus seinen Gebieten auszukommen. Insbesondere die Eppstein-Münzenberger legen einen geradezu unersättlichen Geldhunger an den Tag. Schon 1425 veräußert Gottfried VII. einem Grafen von Katzenelnbogen für 5.000 Gulden die Dörfer Raunheim und Seilfurt (ein inzwischen untergegangenes Dorf bei Rüsselsheim), dem Mainzer Erzbischof für 38.000 Gulden die Stadt Steinheim mit 20 Dörfern und dem Reinhard von Hanau für 3.000 Gulden das Dorf Kleestadt.

Sein Sohn Gottfried VIII. verkauft 1453 für 30.000 Gulden dem Grafen Philipp von Katzenelnbogen ein Viertel der Grafschaft Diez, darunter Camberg. Drei Jahre später hören wir, daß diesem Grafen auch die Hälfte an Gottfrieds Stadt Homburg für 4.500 Gulden verpfändet ist; diese Verpfändung kann erst 1478 wieder eingelöst werden.

Die Kaufpreise lassen Rückschlüsse auf die jährlichen Einkünfte aus den Verkaufsobjekten zu: Gewöhnlich liegen sie beim Zwanzigfachen der Jahreserlöse. Zwar sind Kaufkraftvergleiche mit heute äußerst problematisch, aber für eine ungefähre Vorstellung können wir davon ausgehen, daß ein Gulden in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts deutlich mehr als 300 DM entspricht, und noch um 1520 sind es 250 DM. Es geht also um erhebliche Beträge.

Hier sollten wir einen Moment innehalten und den historischen Hintergrund des weiteren Geschehens betrachten. Bemerkenswert ist nämlich nicht nur, daß die Eppsteiner den Ausverkauf ihres Landes betreiben, sondern auch an wen.

Landgraf Heinrich III. von Hessen hatte 1457 die Katzenelnbogener Erbtochter Anna geheiratet und damit seinem Haus die Aussicht auf ein riesiges Erbe eröffnet. Das Territorium der Katzenelnbogener besteht aus der Obergrafschaft südlich des Mains zwischen Rüsselsheim und Zwingenberg um den Hauptort Darmstadt und der Niedergrafschaft zwischen Bad Schwalbach und dem Rhein. Hessen selbst reicht bis Gießen und in die nordöstliche Wetterau nach Süden. Bei einer Landesteilung erhält Heinrich III. 1460 im Hinblick auf das zu erwartende Erbe Oberhessen mit Marburg. Der Erbfall tritt 1479 ein.

Zwischen Oberhessen und den Neuerwerbungen liegt im wesentlichen die Wetterau mit den Solmser und Hanauer Grafschaften. Im Wettstreit insbesondere mit den Grafen von Solms balgen sich schon die Katzenelnbogener und dann die hessischen Landgrafen um den Eppsteiner Besitz. Eine territoriale Verbindung zwischen Oberhessen und der Obergrafschaft Katzenelnbogen wird aber bis 1945 nicht erreicht.

So finden die Eppstein-Münzenberger in ihren Geldnöten weiter willige Käufer. 1457 verpfändet Gottfried VIII. an Graf Philipp von Katzenelnbogen, seinen Vetter Eberhard III. von Eppstein-Königstein, seinen Bruder Werner und Frank von Kronberg die Hälfte von etwa zehn Dörfern der Herrschaft Eppstein, darunter Delkenheim, Massenheim und Wallau. Dafür erhält er 20.720 Gulden. 1464 bestätigt und vermehrt Gottfried in einem Vergleich mit Graf Otto von Solms eine Verpfändung: Für 26.000 Gulden sollen ihm ein Viertel von Butzbach und Grüningen sowie die Hälfte von dreizehn Dörfern zustehen. Zu mehr Verkäufen kommt Gottfried nicht, denn 1466 stirbt er.

Die Söhne von Gottfried VIII., Gottfried IX. und Johann, überlassen - nach einigen kleineren Veräußerungen, mit denen sie teilweise die väterlichen Schulden abzutragen suchen -1478 für 40.000 Gulden dem Grafen Philipp von Katzenelnbogen Burg und Tal Ziegenberg mit sechs Dörfern sowie ihr restliches Viertel an Butzbach und im gleichen Jahr die Vogtei Hochheim dem Mainzer Kurfürsten. 1487 verkauft Gottfried für 19.000 Gulden die Stadt Homburg mit sechs Dörfern an Graf Philipp von Hanau.

Dem damals etwa zweiundvierzigjährigen Gottfried IX. rennen die Gläubiger wohl die Türe ein. Jetzt stößt er fast den gesamten Rest seiner Herrschaft an den einundzwanzigjährigen Wilhelm III. („der Jüngere") ab, den Sohn des Landgrafen Heinrich III. Zu den oberhessischen Regenten hat Gottfried anscheinend gute Beziehungen: 1477 wird er Rat des Landgrafen Heinrich III. genannt, und 1492 - wohl im Zusammenhang mit dem folgenden Verkauf - auch Rat von Wilhelm III. Montag nach St. Petri Kettenfeier, am 6. August 1492, besiegelt Gottfried, Herr zu Eppstein und zu Münzenberg, Graf zu Diez, den Kaufbrief für Wilhelm. Als Gegenstände des Verkaufs führt er auf:

...unser Schloß Eppstein zum halben Teil, so von dem heiligen Reich zu Lehen rührt...; ferner alle Obrigkeit, Gerechtigkeit, Gebote, Nachfolge, Gericht, Gerichtszwänge mit aller Zu- und Ingehöre des Tals zu Eppstein... zum halben Teil...; ferner die Walkmühle... obwendig Eppstein gelegen ganz; ferner unsren Hof zum Häusel ganz..., dazu die Obrigkeit des Landgerichts zum Häusel.. .zum halben Teil,.. .ferner die Mühle vor Eppstein bei der unteren Pforte gelegen... Wir... verkaufen auch...diese nachbenannten Dörfer und Höfe ganz:...anfänglich unsere Erbschaft und Gerechtigkeit... zu Kostheim..., ausgeschieden die Vogtei..., ferner Mechtildshausen den Bauhof..., der Landweisung des Landgerichts bei dem genannten Hofe..., ferner Delkenheim das Dorf, ferner Massenheim das Dorf und den Bauhof..., ferner Diedenbergen das Dorf, ferner Wallau das Dorf und den Bauhof..., ferner Breckenheim das Dorf samt dem Bauhof darin gelegen, ferner Nordenstadt das Dorf..., ferner...Igstadt, ferner Medenbach das Dorf, ferner Wildsachsen das Dorf, ferner Langenhain das Dorf, ferner die Hofgüter am Kassern..., ferner Lorsbach das Dorf, ferner Oberliederbach das Dorf..., ferner Niederliederbach das Dorf..., ferner die Obrigkeit und Herrlichkeit der Oberliederbacher Mark und den Staufen mit der Jagd des Hofheimer Waldes zum halben Teil, ferner... unsere Leibsangehörigen zu Münster, dazu unseren freien Hof..., ferner den Bauhof zu Hausen...

Bei den genannten Bauhöfen handelt es sich um die verpachteten Güter der Herrschaft in den einzelnen Ortschaften. Kassern ist ein inzwischen ausgegangener Hof nördlich von Diedenbergen („Kassernstraße"), und der Hof zu Hausen ist Hausen vor der Sonne. Mit den Leibsangehörigen sind die Leibeigenen gemeint, deren Abhängigkeit sich allerdings weitgehend auf die jährliche Zahlung eines Huhns und eine besondere Erbschaftssteuer beschränkte. Der Vertrag zählt noch viele einzelne Rechte, Grundstücke, Wiesen, Wälder und Weinberge auf, auch solche, die außerhalb dieses Gebietes liegen, aber auch die Belastungen, die der Käufer übernehmen muß. Als Kaufpreis werden 64.000 Gulden in Gold in Münze der rheinischen Kurfürsten vereinbart. Diese Summe erhält Gottfried jedoch keineswegs in bar. Im einzelnen setzt sich der Kaufpreis zusammen aus:

8.000 Gulden, für die Gottfried Schloß und Tal Burg-Schwalbach zu Lehen erhalten soll; tatsächlich kommt diese Belehnung nicht zustande, sondern wird später durch die Zahlung von 3.000 Gulden Bargeld und die Nutzung der Schlösser Ziegenberg und Neu- Katzenelnbogen abgelöst;
12.000 Gulden, für die Schloß Hadamar zum Pfand gesetzt wird;
36.000 Gulden werden mit einer Jahresrente von 1.800 Gulden verzinst und auf den Zoll von St. Goar abgesichert;
1.200 Gulden, für die Gottfried den an den hessischen Landgrafen verpfändeten Teil von Ober-Rosbach zurückerhält;
1.700 Gulden erhalten die Herren von Erlenbach;
600 Gulden erhalten die Herren des Stephansstifts zu Mainz, und nur
4.500 Gulden erhält Gottfried sogleich in barer Münze.

Vom einstigen Territorium bleiben nurmehr Bruchstücke. Außer dem Rest der Herrschaft Eppstein, die noch den halben Ort Eppstein, Bremthal, Ehlhalten, Eppenhain, Fischbach, Niederjosbach, Oberjosbach, Ruppertshain, Schloßborn, Vockenhausen und die Vogtei Kelkheim mit Hornau umfaßt, ist dies der Rest der Grafschaft Diez und ein Anteil an Ober-Rosbach. Teilweise sind auch diese Gebiete verpfändet.

Selbst daraus zieht sich Gottfried IX. zurück. 1494 stirbt sein einziger Sohn Engelbrecht und wird in der Eppsteiner Pfarrkirche beigesetzt.
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Er verkaufte 1492 das ,,Ländchen": Gottfried IX. von Eppstein-Münzenberg (+ 1522), auf seinem Grabmal in St. Stephan Mainz.

 

Im folgenden Jahr vereinbart er mit seinem Königsteiner Verwandten Eberhard IV. (der 1505 zum Grafen erhoben wird) eine Erbeinigung, die unter Vermittlung von Landgraf Wilhelm III. zustande kommt. 1507/08 überläßt er den Rest seiner Herrschaft dem Königsteiner und stirbt 1522. Er ist in Mainz in St. Stephan begraben. Dort steht heute noch sein Grabstein.

Hessen setzt in Eppstein einen Amtmann ein, der anfangs dem Oberamt in Rüsselsheim unterstellt ist. Zeitweise amtiert ein gemeinsamer Amtmann für Eppstein und Kronberg, denn von 1523 bis 1541 ist die Herrschaft Kronberg in hessischem Besitz. Vielfach sind in den Dörfern noch fremde Rechte eingesprengt. Die Kronberger Vogtei in Nordenstadt tauscht Hessen 1587 gegen seinen freien Hof in Münster ein. In Igstadt und Nordenstadt haben die Nassauer noch Rechte, die 1588 abgelöst werden, und mit Oberliederbach sind Leibeigene in zwanzig Orten verbunden.

Landgraf Wilhelm III. stirbt 1500 an den Folgen eines Sturzes vom Pferd, und alle hessischen Lande werden unter seinem Vetter Wilhelm II. („der Mittlere") wieder vereinigt. Aber dessen Sohn, Philipp der Großmütige, teilt 1567 das Land abermals unter seinen vier legitimen Söhnen auf - damals entstehen die Linien zu Kassel und zu Darmstadt - und das ehemals Eppsteiner Territorium fällt an die Linie zu Marburg, bei deren Aussterben 1604 an Hessen-Kassel und endlich 1624 an Hessen-Darmstadt.

Hessen lehnt 1570 ein Angebot des Mainzer Kurfürsten ab, seine Herrschaft Eppstein gegen vier Mainzer Ämter in Hessen einzutauschen; es trägt sich sogar mit dem Gedanken, die Grafschaft Königstein zu kaufen, kurz bevor Kurmainz diese 1581 annektiert. 1772 macht Hessen den Vorschlag, die Mainzer Enklave Kirdorf im hessischen Homburg gegen die hessischen Exklave Ober- und Unterliederbach zu tauschen, doch daraus wird nichts.

Die Einführung der Reformation 1526 sondert die hessischen Orte noch nicht von ihrer Umgebung ab, denn auch die königsteinischen Dörfer z. B. werden protestantisch. Erst als Anfang des 17. Jahrhunderts im nunmehr zum Kurfürstentum Mainz gehörenden Umland die Gegenreformation durchgesetzt wird, bildet die Hessische Exklave eine protestantische (während der kurzen Herrschaft von Hessen-Kassel sogar reformierte) Insel. Der Amtssitz wird 1643 von Eppstein nach Wallau verlegt. Aus dem reichen Bauernland des südlichen und westlichen Herrschaftsteils entsteht das „Ländchen" mit seiner eigenen Tradition.

Die Zugehörigkeit zu Hessen endet nach 310 Jahren, als Nassau im Vorgriff auf den Reichsdeputationshauptschluß, der einen großen Territorialaustausch im Reich mit sich bringt, am 1. November 1802 von den hessischen Dörfern Besitz ergreift. Die Verwaltungseinheit der ehemals hessischen Dörfer wird erst 1810 aufgelöst, da werden nämlich Ober- und Unterliederbach sowie der Hof Hausen zum Amt Höchst geschlagen. Schon 1866 werden die Neu-Nassauer zu Preußen, und mancher wird sich resignierend in die dritte Staatsbürgerschaft seines Lebens gefügt haben. Bei der Neubildung der Kreise 1886 und 1928 wird keinerlei Rücksicht auf historische Zusammenhänge genommen.

Als 1945 Groß-Hessen gegründet wird, werden mit dem Regierungsbezirk Wiesbaden auch die 1492 verkauften Orte wieder hessisch. Der Kreis schließt sich.

Aus: Zwischen Main und Taunus – Jahrbuch 1993 – mit freundlicher Erlaubnis des Autors