Idylle und Arbeit
Felix Mendelssohn Bartholdy in Bad Soden
JÜRGEN DEHL

Schon früh hatten die Mendelssohns Beziehungen zu Frankfurt. Abraham Mendelssohn, der Vater von Felix, berichtet am 1. September 1797 an Carl Friedrich Zelter ein denkwürdiges Ereignis. Abraham befand sich auf einer Reise von Berlin nach Paris. Er reiste über Frankfurt und begegnete hier Goethe. Er legte dem Dichter Vertonungen von Zelter vor und „er schätzt Ihre Kompositionen sehr.”1

Die Beziehung zur Stadt am Main riss nie ab, sie festigte sich sogar noch. Felix Mendelssohn Bartholdy lernte hier im Caecilienverein - er vertrat mehrfach den Gründer und Leiter des Chores, Johann Nepomuk Schleble -1836 seine Frau Cecile kennen. Das Paar feierte bei einem Familienausflug in Kronthal Verlobung. Geheiratet haben Cecile und Felix am 28. März 1837 in Frankfurt. Aus dieser Zeit finden sich in Briefen und Tagebuchaufzeichnungen viele Hinweise auf die Umgebung Frankfurts. Eigenartigerweise fehlt dort aber noch der Hinweis auf Bad Soden.

Frankfurter entdeckten zu Beginn des 19. Jahrhunderts den Taunus. Bad Soden wurde den Städtern Naherholungsgebiet. Nicht einzig die Heilquellen lockten, sondern das - aus dem Blickwinkel der Romantik gesehen - angeblich unverfälschte Leben, das ländlich-bäuerliche Treiben. Die frühen Tagesausflüge der Mendelssohns lassen sich nicht belegen. Wohl aber die Aufenthalte von 1844 und 1845 und der künstlerische Ertrag. Obgleich der Komponist seiner Familie Ruhe und Behaglichkeit vorschwindelt, absolviert er täglich - neben allerlei munteren Ausflügen - ein fast bedrückendes Arbeitspensum.

Ärzte sorgten sich um seine Gesundheit, rieten zur Entspannung. Aber wie kann ein schöpferischer Mensch seinen Schöpferdrang beurlauben? Der große Musikologe Alfred Einstein bemerkt dazu: „Zwischen der ,Vielschreiberei' der Großen und der Nichtgroßen gibt es einen entscheidenden Unterschied: es ist bei den Großen der innere Zwang zur Produktion, der dämonische Fleiß. "2

Also lieber zum Schutz der eigenen Arbeit halbe Wahrheiten und ganze Lügen an die besorgten Geschwister schreiben. „Soden bei Frankfurt a/m, d. I9ten July 1844" ist ein Brief an Bruder Paul datiert. Mit viel Fantasie pinselt der Musiker malerische Notlügen auf den Briefbogen. „In dieser schönen Gegend leben wir jetzt heitere frohe Tage. Von der gewaltigen Aufregung dort hier in den stillen Ort, wo Essen und Trinken und Schlafen die Hauptbeschäftigungen ausmachen und wo ein Spaziergang von 10 Minuten einen auf die Höhe des Taunus bringt mit der Aussicht über das Main- und Rheintal bis Frankfurt, Worms und Mainz. Da kann man Tage lang hinaussehen und braucht weiter nichts und thut ebenso viel oder mehr als dort in dem Treiben. Es sind frohe Tage. 3Original-Kompositionsblatt

In Wirklichkeit sitzt der Komponist fast täglich am Schreibtisch - zu Robert Schumann sagte er einmal, man müsse alle Tage etwas komponieren - im ersten Stock der Villa Nassovia und arbeitet. Das Haus, heute Königsteiner Straße 89, im italienischen Palazzo-Stil, bekam erst später den Namen „Villa Nassovia". Am 21. Juli 1844 hatte Mendelssohn mit dem begonnen, was später als sechs Orgelsonaten Opus 65 berühmt werden sollte. Zwischen dem 25. Juli und 8. August klafft eine Lücke. In dieser Zeit war Mendelssohn beim Musikfest Zweibrücken. An der Saar dirigierte er am 31. Juli und 1. August seinen „Paulus" und die weltliche Kantate „Erste Walpurgisnacht". Mit Widerwillen trat der Musiker die Reise an. An seine Schwester Fanny schrieb er am 25. Juli 1844: „...Ferner muß ich leider morgen nach Zweibrücken, und es ist mir gar nicht danach zu Muth; indeß giebt es in Dürkheim sehr guten Wein (wie mir glaubwürdige Zeugen versichern) und die Gegend soll sehr schön sein, und morgen über 8 Tage, so Gott will, bin ich wieder da."4 Auf der Reise erfährt Felix Mendelssohn von einem Vorfall in Berlin, den Märchenkönig Hans Christian Andersen - er befand sich in Berlin - unterkühlt in seinem Tagebuch festhält: „Es wurde heute auf den König geschossen, er wurde aber nicht verletzt."5 Was war geschehen? Der preußische König Wilhelm Friedrich IV, wollte mit seiner Frau Elise nach Schlesien in den Urlaub fahren. Zur Abreise am Morgen des 26. Juli fanden sich viele Schaulustige ein. Ein Mann drängelt sich zur königlichen Kutsche vor und gibt zwei Schüsse ab. Den Berlinern scheint es ein Wunder: Der König erlitt nur eine leichte Verletzung und konnte reisen. Der Attentäter, Heinrich Ludwig Tschech, ein märkischer Dorfbürgermeister, wollte sich für ein erlittenes Unrecht rächen. Das Attentat löste beim Volk eine Sympathiewelle für den ungeliebten König aus. Doch die Begeisterung schwand, als sich der König entschloss, den Attentäter hinrichten zu lassen.

Mendelssohn, der als Generalmusikdirektor für kirchliche Musik in den Diensten des Preußenkönigs stand, muss von der Nachricht tief getroffen gewesen sein. Sofort nach seiner Rückkehr von Zweibrücken nach Bad Soden verfasst er das Doppelquartett a cappella „Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir"6 und schickt die Komposition am 15. August 1844 mit einem Brief an den König:

Allerdurchlauchtigster Großmächtigster König!
Allergnädigster König und Herr!

Ew. Majestät
bitte ich mir zu erlauben, in einer Zeit, wo von allen Seiten aus der ganzen Welt Glück- und Seegenswünsche für die wunderbare Lebensrettung Ew. Majestät zuströmen, auch mit den meinigen zu nahen; wie ein jeder gern das freudige Dankgefühl ausdrücken möchte, das alle beseelt, so möchte auch ich gern wagen es in meiner Weise zu thun. - Seit ich nämlich auf der Reise zum Musikfest in Zweibrücken jene Nachricht erfuhr, schwebten mir einige Verse vor, die ich nicht wieder aus dem Sinne verlieren, an die ich immer von neuem denken mußte, und sobald ich hier wieder zur Ruhe kam, mußte ich sie in Musik setzen. Die sind es nun, die ich als meinen Glückwunsch zu den Füßen Ew. Majestät hiebei zu legen wage. Möchte der Ausdruck meines Wunsches eben so gelungen sein, wie er von innerstem Herzen treu gemeint ist.
den 15ten August 1844,
Bad Soden im Taunus

Ew. Majestät
unterthänigster
Felix Mendelssohn Bartholdy7

Am 2. September wird der Chor im Berliner Dom, seine Majestät gibt sich die Ehre der Anwesenheit, vom Komponistenkollegen Otto Nicolai aufgeführt.

Währenddessen wendet sich Mendelssohn in Bad Soden von den Orgelstücken allmählich ab. Der Grund: Schon seit 1838 schleppt er ein Manuskript mit sich herum. Er nimmt es wieder vor, überarbeitet es und findet es am 16. September 1844 vollendet. Es ist das Violinkonzert in e-Moll, Opus 64. Das Violinkonzert, es wird das beliebteste der Romantik, erlebt am 13. März 1845 im Leipziger Gewandhaus seine Uraufführung. Solist ist der gerühmte Ferdinand David, am Pult steht der dänische Komponist Nils Gade. Mendelssohn ist nicht zugegen. Er ist schon wieder in Frankfurt, und spätestens am 5 Juni 1845 wieder in Soden, wie ein Brief - „Dem hochgeehrten Comite für Erstellung des Beethoven-Monumentes"8 – belegt. Auch in diesem Sommer überfallt den Komponisten ein Schaffensrausch. Am 10. Juni 1845 schreibt Mendelssohn an seinen Bruder Paul „ Ich bin auch sehr fleißig gewesen, und habe nicht blos ein herrliches Bild gemalt (kühne Landschaft eigner Erfindung) sondern auch ein neues Oratorium angefangen, ein Quintett fast beendigt usw.  Ists nicht sonderbar, daß ich übernommen habe, für ein 1000-jähnges Katholisches Fest m Lüttich eine große Musik (Lauda Sion) zu compomren.”9Brief an den Preußischen König

Das „neue Oratoriumist „Elias". Hier findet der Chor „Denn er hat seinen Engeln befohlen über Dir" als Nummer 7 seinen endgültigen Platz. Der Satz wird harmonisch etwas bearbeitet und wegen der nun unterlegten Orchesterstimmen leicht retuschiert. Neben dem Sodener Violinkonzert ist der „Elias" heute das bekannteste Werk Mendelssohns. Das erwähnte Quintett in B-Dur wird am 8. Juli 1845 vollendet und erst nach Mendelssohns frühem Tod veröffentlich. Das ebenfalls im Brief genannte „Lauda Sion" ist Mendelssohns einzige Komposition für die Katholische Kirche.

 

Literatur und Quellen:

1 Goethe-Museum, Düsseldorf, Signatur 3881
2 Einstein, Alfred: Große in der Musik München und Kassel 1980
3 Mendelssohn Bartholdy, Paul: Briefe aus den Jahren 1833 bis 1847 von Felix Mendelssohn Bartholdy, Leipzig 1863
4 Mendelssohn Bartholdy, Paul, a. O.
5 Baruske, Heinz (Hrsg ): Aus Andersens Tagebüchern, Frankfurt 1980
6 Staatsbibliothek Berlin - Stiftung Preußischer Kulturbesitz Mus. Ms. Autogr. F. Mendelssohn Bartholdy 57
7 Preußischer Kulturbesitz, Geheimes Zivilkabinett, jüngere Periode, Nr. 21134, Bl. 3
8 Original in der Universitäts- und Landesbibliothek Bonn, Handschriftenabteilung unter der Signatur Autogr. Samml.
9 Elvers, Rudolf: Unveröffentlichtes Manuskript, März 2003

aus: Zwischen Main und Taunus / Jahrbuch 2004
8.7.05