Hundertwasser in Bad Soden: “Ich möchte Träume realisieren"
FRIEDRICH E. ROSENBERG

Eine Märchenburg
Märchenburgen existieren meist nur in Traumbildern. So etwa die Dornröschenburg, die sich in einen Berg von Rosen verwandelte, während Dornröschen schlief.

Seit einem Jahr gibt es in Bad Soden am Quellenpark das Hundertwasserhaus. Es hat mit der Dornröschenburg sowohl das märchenhafte Aussehen als auch die Verwandlung des Gebäudes unter der milden Hand der Natur gemeinsam. Als Märchenerzähler wirkte hier der Wiener Maler Friedensreich Hundertwasser.

Verkehrslenkung für Hundertwasser-Fans
Das Hundertwasserhaus findet so viel allgemeines Interesse, daß bereits am Ortseingang Autos und Busse durch Schilder zu Parkplätzen geleitet werden, um im Bereich des Neubaues Verkehrsprobleme zu vermeiden. Viele möchten sehen, wie der weltbekannte Künstler seine Ideen für ein menschenwürdiges Wohnen in die Praxis umgesetzt hat.

Die Meinung eines der vielen Besucher:  „Mani", ein Architekturstudent der THD: „Als ich Fotos von dem Projekt sah, dachte ich, dieser Entwurf ist nicht unbedingt mein Stiefel. Jetzt aber, nachdem ich das Haus erlebt habe, bin ich begeistert von dem Ideenreichtum und den Raumerlebnissen. Ich bin sicher, daß es seinen Einfluß haben wird."

Ein Urteil über die Märchenburg ist erst möglich, wenn die heranwachsende Natur ihren Mantel um die Mauern geschlungen hat.

Ein paar Zahlen und Fakten
Hundertwasser hat sich bei der Planung mit dem Wiener Architekten Pelikan zusammengetan, um seine Ideen fachlich zu verwirklichen. Die freien Formen des Entwurfs konnten nicht alle auf dem Zeichentisch dargestellt werden. Die Vollendung der Planung fand an der Baustelle zusammen mit dem Bauleiter statt. Der Bauleiter und gleichzeitig Bauherr war Dipl. Ing. Wachendorff. Er ist von den Ideen des Baumeisters überzeugt. Gebaut wurden 17 Wohnungen, alle verschiedener Größe und Form. Im Untergeschoß sind reichlich Parkplätze vorhanden.

Das Bockenheimer-Haus gehört mit zum Ensemble. Es war baufällig und unschön. Es übte keinerlei Reize auf Investoren aus. Weil es mal als Kurhaus diente, steht es unter Denkmalschutz. Mit glücklicher Hand hat Hundertwasser das Gebäude durch Balkone und Farben aufgewertet. Ein Glücksfall für Bad Soden und die Besucher des Quellenparks.

Die Behörden haben die Qualität der einheitlichen Planung erkannt. Sie haben mitgeholfen, den Entwurf genehmigungsfähig zu machen. Mit der Dachabdichtung für Intensiv-Bepflanzung ist man neue Wege gegangen.

Um den unterirdischen Strom der Heilquellen nicht zu stören, wurde das Haus auf 250 Pfählen gegründet. Die Pfähle gehen bis 19 m in die Erde. Frage an den Bauherrn: Das klingt alles nicht sehr gewinnbringend für einen Investor. Antwort: Wenn Gewinndenken vorrangig gewesen wäre, hätte ich Reihenhäuser gebaut. Mir ging es in Zusammenarbeit mit Hundertwasser um Ideen und Entwurf. Qualität behält immer ihren Wert.

Wasserkreislauf als Leitmotiv
Der Gedanke, an einem Quellenpark zu bauen, muß Hundertwasser beflügelt haben.

Blaugrüne Mosaiken als Symbol für Wasser scheinen wie ein Leitmotiv das Gebäude innen und außen zu durchziehen. Die auf- und niederströmenden Mosaikbänder sehen aus, als wollten sie das Grundwasser mit den Pflanzenflächen auf den Dächern und Terrassen verbinden. Die Dachflächen sammeln alle Niederschläge und führen sie einer Nutzung innerhalb des Hauses zu. Von oben sieht das Gebäude aus wie ein terrassierter Wiesenhügel mit Eichen, Kastanien, Buchen, Sträuchern aller Art und blühenden, duftenden Wildblumenwiesen, wie man sie in den Voralpen nicht schöner findet.

Im Inneren des Gebäudes ist das blaue Leitmotiv in den Treppenhäusern erlebbar. Geht man die geschwungenen Treppen, so meint man, einem alten abgestuften türkisblauen Flußbett nachzulaufen. Die Baderäume gleichen blauen Grotten. Die Wannen passen sich der schwingenden Form der Wände und des Bodens des Raumes an. Hätte der Bayerische Märchenkönig Ludwig II. die Wahl gehabt, würde er möglicherweise lieber in Bad Soden als in seinem Linderhof gebadet haben.

Mit dem Wassermotiv scheint der Malerphilosoph darauf hinzuweisen, daß Wasser für ihn mehr ist als ein Be- und Entwässerungsproblem am Bau. Die faustische Erkenntnis mag hier der Interpretation Flügel leihen: „Des Menschen Seele gleicht dem Wasser: Vom Himmel kommt es, zum Himmel geht es, und wieder zur Erde muß es, ewig wechselnd."

Ein Raumerlebnis wie bei Laotse
Das Hundertwasserhaus ist eine Raumskulptur. Als solche muß sie von allen Seiten betrachtet werden. Man muß in sie hinein-und aus ihr hinaus schauen.

Das Raumerlebnis ist das Wesensmerkmal der Architektur. Der Raum erhält seine Spannung aus der Komposition von groß und klein, hoch und niedrig, ruhig und bewegt, eng und weit. Die Verwandtschaft der Architektur zu anderen Künsten, insbesondere der Musik, kann hier leicht nachempfunden werden. Laotse beschreibt es so: Die Realität eines Gebäudes ist nicht gegeben durch Decken und Wände. Die Realität liegt in dem Raumerlebnis, das durch Wände und Decken entsteht.

Von diesen so beschriebenen Raumerlebnissen der Architektur hat das Hundertwasserhaus einiges zu bieten. Sie steigern sich von außen nach innen. Die besten Aus- und Einblicke haben die privaten Bewohner mit dem Blick aus ihren Fenstern und von ihren Terrassen.

Wo erlebt man die kräftigen Hundertwasserfarben?
Viele Bewunderer des Malerkünstlers werden an seinem Gebäude die kräftigen satten Farben erwarten, die sie von seinen graphischen Arbeiten gewöhnt sind. Beim Anblick der lehmfarbenen Fassaden findet das große Farberelebnis jedoch nur gedämpft statt. Es bleibt auf die farbiggefaßten Details und die oben beschriebenen Wassersymbole beschränkt.

Im Inneren des Gebäudes wird das Farberlebnis intensiver. Ein Urteil zu diesem Zeitpunkt ist jedoch zu früh. Das Gestaltungselement - Natur -, das zum Entwurf gehört, braucht noch Zeit zum Wachsen.

Säulen wie aufeinander gestapelte Amphoren in glasierten sizilianischen Farben.

800 Pflanzen aus sechzig verschiedenen Arten sind sowohl um als auch auf dem Gebäude gepflanzt worden. Schon in wenigen Jahren wird die inzwischen herangewachsene Natur ihren Mantel um und über das Gebäude geschlagen haben. Erst dann wird es endgültig beurteilt werden können. Die ständigen Veränderungen während des Wachstums werden dabei ihren besonderen Reiz ausmachen.

Paßt denn das Hundertwasserhaus in die Bad Sodener Stadtlandschaft?
Die Bäderstädte waren die ersten, die im vorigen Jahrhundert das Schutzdenken des Mittelalters überwanden. Sie folgten dem Ruf „Zurück zur Natur" und öffneten die Wohnungen und Gästehäuser zum Garten und zur Sonne. Mit Baikonen, Loggien, Terrassen und Veranden - schon vom Namen her erkennbare Lebensgewohnheiten des Südens - wurde der Blick in die Natur frei.

Hundertwasser beschreitet heute erneut den Weg, den Bad Soden schon vor 100 Jahren gegangen ist. Natürlich mit den Materialien unserer Zeit und seiner Sicht vom menschlichen Wohnen.

In die Bäderstädte kamen irn vorigen Jahrhundert Heilung- und Geselligkeit Suchende aus aller Welt. Auch die Architektur war weltoffen, insbesondere durch die Gastgeschenke, wie die markanten goldenen Kuppeln der russischen Kapellen, die die Großfürsten z. B. im nahegelegenen Wiesbaden und Bad Homburg hinterließen.

Verspätet, aber nicht minder eindrucksvoll reiht sich nun auch Bad Soden mit einer azurblau leuchtenden Kuppel gleichwertig in die Perlenkette der Bäderstädte am Südhang des Taunus. Als Triumph strahlen in Bad Soden noch nun zusätzlich zwei Türme mit mosaikgeschmückten Pagoden.

Lebendige Handwerksarbeit gegen Dominanz der Maschine
An dem Hundertwasserhaus kann man noch etwas von der Lebendigkeit erleben, die der Handwerksarbeit früher zu eigen war. Bei den Putzoberflächen der Innen- und Außenwände z.B. bleibt die Handbewegung des Putzers sichtbar, der das Material mit der Hand angeworfen und mit kreisenden Bewegungen glattgestrichen hat. Das heute üblich gewordene Glattziehen des Putzes über Stahlschienen schafft maschinenglatte Oberflächen.

Auch ohne Wasserwaage, nur mit dem Augenmaß, kann man beim Mauern interessante Wirkungen erzielen.

Das wird besonders an den scharfen Eckkanten der Neubauten augenfällig. Bei Hundertwasser sind alle Kanten gerundet wie bei einem Kinderspielzeug, das man gerne in die Hand nimmt. Durch den lehmfarbigen Anstrich und die abgerundeten Formen kann man sich der Erinnerung an handgeformte Lehmbauten im Jemen oder Neu Mexiko nicht ganz entziehen. Sollte die Assoziation an Lehmbauten gemeint sein, so kann man „lebendigen Putz" auf dem Normmauerwerk in Bad Soden nur als eine bestmögliche Ersatzmaßnahme gelten lassen. Die Abneigung gegen die Reißbrettarchitektur durchzieht das gesamte Gebäude. Die Verkleidung mit Klinkersteinen, an den Terrassenbrüstungen z.B., schwingt wellenmäßig auf und ab.

Die Handwerker haben hier Besonderes geleistet: Entgegen ihrem berechtigten Stolz auf lot- und senkrechte Arbeit haben sie sich dazu hergegeben, an gewünschten Stellen ohne Wasserwaage und Senkel zu arbeiten. Das muß ihnen zumindest am Anfang weh getan haben. Vielleicht war das Experiment aber doch dazu gut, daß man erleben konnte, daß interessante Ergebnisse auch dann erreicht werden, wenn man sich nur auf das Augenmaß verläßt.

Die Anlage der Wege um das Gebäude wird durch die Anpassung an unser natürliches Gehen bestimmt. Anatomisch ausgedrückt: Die Wegführung paßt sich den Schwankungen des Gehörwassers an. Leichte Bewegungen, auf und ab, hin und her, laden wie in japanischen Gärten zu einem beschwingten Gang ein. Wechselnde Farben und Formen der Pflasterung vermitteln den Eindruck, als wäre der Weg aus Musik entstanden. Ein Kind wird den Weg hüpfend tanzen. Ob das Kind wirklich hüpfen darf, ist allerdings noch nicht amtlich. Man hat nämlich festgestellt, daß die gewollten Abweichungen nicht der DIN-Norm für Gehwege entsprechen, obgleich beim Anblick dieser Situation „Doktor DIN" sicher selbst von seiner Norm abgewichen wäre. Aber vorerst muß das Kind mit dem Hüpfen noch warten.

Individualität über alles
Mit dem Mehrfamilienhaus in Bad Soden will Hundertwasser zeigen, daß man auch in Wohnblocks individuell wohnen kann. Alle Grundrisse sind verschieden. Die Fenster unterliegen keinem Raster und sind geformt nur von der Vorstellung, den besten Blick und die beste Besonnung für den Benutzer zu erzielen. Er sagt, er würde sich freuen, wenn Bauherren noch zusätzliche sinnvolle Gestaltungswünsche hätten:

„In meinem Entwurf können individuelle Wünsche erfüllt werden. Sie würden zur weiteren Belebung des Hauses beitragen, gleich ob durch Balkone, Erker, Fenster oder Innenwände".

Individualität hat auch im Innenausbau Vorrang. Mit vorgefertigten Einbaumöbeln wird man in den schwingenden Räumen nicht viel anfangen können. Hundertwasser scheint damit sagen zu wollen, „überlegt doch erst mal, was ihr unbedingt zum Wohnen braucht." Er ist der Meinung, daß der, der sich beschränken kann, das bessere Los zieht. Er erhält sich damit die Raumerlebnisse, die den besonderen Wert der Wohnungen ausmachen.

Natur als Vorbild
Ob es sich bei diesem Bauwerk um ein weiteres Beispiel des organischen Bauens handelt? Sicher ja. Aber der Begriff Organisch ist so vielseitig auslegbar wie die Natur selbst. Vergleiche mit den unterschiedlichen Meisterwerken von Gaudi, EL. Wright oder Bruce Goff sind kaum möglich, obgleich alle wie auch Hundertwasser die Natur als Vorbild angeben. Es wäre ein Thema für sich.

Die strengen Linien eines Palmenblattes, die exuberanten Formen einer Lilienblüte, Struktur und Ornament, Tempelklarheit und wucherndes Barock sind gleichberechtigte Formen der Kunst, der Architektur.

Jedoch nach einer langen Dürre schwingender Linien und einem Übermaß an Gradlinigkeit in der Architektur dieses Jahrhunderts müßten Hundertwassers Anregungen von der vernachlässigten romantischen Seite des Menschen begierig aufgesaugt werden. Nach seinen eigenen Worten geht es ihm nicht darum, einen neuen Stil zu schaffen. Sein Ausflug in die Architektur ist eine Kritik an den vorherrschenden „Reißbrettlösungen" und eine Wiederbesinnung auf eine Architektur für Menschen.

Ich möchte Träume realisieren
Mit Auszügen aus einem Interview, das Hundertwasser Cornelia von Wrangel und Wolfgang Wischmeyer von der Frankfurter Sonntagszeitung gegeben hat, soll er zu seinem Thema der vermenschlichten Architektur nochmals selbst zu Wort kommen. „... Ich möchte jemand sein, der das Eis bricht, damit selbständige und kreative Persönlichkeiten die Welt gestalten. Ich trete ein für Vermenschlichung, Vernatürlichung, für Harmonie mit der Natur ..." „... Überall werden Grasdächer gebaut. Die Unregelmäßigkeiten, die Variationen, die Farbe, alles das ist im Vormarsch, die Unebenheiten des Bodens, die Unebenheiten der Skylines, die ungleichen Fenster. Man kommt mehr und mehr von der geradlinigen Öde ab. ..."

Mit einer azurblauen Kuppel und zwei pagodengeschmückten Türmen reiht sich Bad Soden in die Kette der Badestädte mit den goldenen Kuppeln der russischen, orthodoxen Kirchen.

„... Die Menschen sind in ihren Träumen und Sehnsüchten genau dort, wo sie sein sollten, nur trauen sie sich nicht, ihren Träumen und Sehnsüchten Gestalt zu geben, weil sie sich ihrer eigenen Kreativität schämen ..." „... Was ich tue, ist ja nur eine Vorleistung auf die Kreativität des einzelnen ..."

„... Wege in die Zukunft vormalen, die schön und auch begehbar und zielführend sind. Dabei bediene ich mich meiner mir eigenen Ausdrucksweise, so wie ein Baum seine Blätter hervorbringt und ein Vogel seine Eier legt. Ich möchte meine eigenen Träume realisieren, damit andere Mut bekommen, ihre eigenen zu verwirklichen ..."

Aus: Zwischen Main und Taunus / Jahrbuch 1995 - mit freundlicher Erlaubnis des Autors (posthum)

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