Als jüdischer Abgeordneter im ersten Bundestag
Das Leben des Flörsheimer Journalisten Jakob Altmaier (1889-1963) / Biographie von Werner Schiele

Jakob Altmaier

Jakob Altmaier. Das Gemälde vom Titelblatt der besprochenen Broschüre zeigt den Flörsheimer Bub' als Mann von Welt. Seinen humanistischen Wurzeln blieb Altmaier Zeit seines Lebens treu.

(Repro: Surrey)

Von Annette Friauf

Er war Journalist und saß in der Adenauer-Zeit als Sozialdemokrat im Bundestag. Jakob Altmaier war einer der wenigen Angehörigen einer jüdischen Familie, die den Nationalsozialismus überlebten. Über die Vita des heute vor 113 Jahren in Flörsheim Geborenen hat Werner Schiele ein Buch verfaßt.
 

FLÖRSHEIM. Jakob Altmaier, der Flörsheimer Bäckerssohn, hat Deutschland im 20. Jahrhundert erlebt. Er litt als Soldat unter den Schrecken des Ersten Weltkriegs und als Jude unter dem totalitären Nazi-Regime. Zeit seines Lebens kämpfte er als Journalist für eine bessere Welt. Zeitweise war er Mitarbeiter der Weltbühne, der bedeutendsten Wochenschrift in der Weimarer Republik.

Nach dem Zweiten Weltkrieg kam er nach Deutschland zurück, nahm 1949 die ihm 1933 aberkannte Staatsbürgerschaft wieder an und engagierte sich als Sozialdemokrat in der jungen Bundesrepublik.

Den Friedensverhandlungen in Versailles hatte Altmaier als Journalist beigewohnt; nach Hitlers Machtübernahme suchte er in Paris, Belgrad, Athen und Spanien das Leben als freier Mensch. Der gebürtige Flörsheimer, der einer seit Generationen in der Mainstadt ansässigen jüdischen Familie entstammte, verhalf einem Bruder, dessen Frau und seinem Neffen zur Flucht in die USA. Drei Angehörige konnte er somit retten, 30 Verwandte verlor er in den Konzentrationslagern.

Nachdem ihn der Wahlkreis Hanau-Gelnhausen als Abgeordneten in den jungen Bundestag geschickt hatte, war er in Adenauers „Wiedergutmachungs"-Verhandlungen für die NS-Opfer eingebunden, die der Bundesrepublik den Weg zurück in die Staatengemeinschaft ebneten.

Den Flörsheimer Ehrenbürger würdigt Autor Werner Schiele in der 92 Seiten umfassenden Schrift „An der Front der Freiheit - Jakob Altmaiers Leben für die Demokratie". Seinen Recherchen zufolge war der Flörsheimer ein bescheidener Mensch, was die biografische Arbeit nicht erleichterte. Daten über Altmaier fand der Autor, wenn überhaupt, nur unvollständig und fehlerhaft. Ein Nachlaß war nicht aufzuspüren. Keine deutsche Bibliothek besitze Altmaiers Buch „Sur le Front de la Liberté", auf das Schiele im Titel anspielt. Schließlich nutzte Schiele vom Parteivorstand der SPD verwahrte Schriften, die 1988 archiviert und wissenschaftlichen Zwecken zur Verfügung gestellt wurden.

■ Die Broschüre ist für acht Euro im Stadtbüro Flörsheim erhältlich.

IM WORTLAUT

„Wie mit einem Zauberstab" - Jakob Altmaier trifft Bebel

Der ehemalige Hanauer Abgeordnete Jakob Altmaier war 1919 Vorwärts- Korrespondent und machte danach Karriere als Auslands-Berichterstatter unter anderem der Frankfurter Zeitung, des Manchester Guardian und der Weltbühne. Hier ein Auszug aus „Wie ich Sozialdemokrat wurde", Frankfurter Volksstimme, 5. August 1919:

Taufrisch liegt es in meiner Erinnerung: Die Opel-Arbeiter strömen herein, es ist ein Aufmarsch, ein Dröhnen, ein Strömen, als käme die Flut des Meeres herein. Saal, Galerien, es kann bald kein Apfel mehr zur Erde fallen. Die großen Fenster werden ausgehoben, die Menschen stehen in den Fensteröffnungen. Stühle werden ausgeräumt, um drinnen mehr Platz zu schaffen, im Garten stehen Mann an Mann.

In den Ästen der Bäume hocken und schaukeln die Jungen. Höher und höher klettern sie, und immer mehr Menschen auf den Bäumen. Auf den Straßen stehen die Massen, „bis zum Bahnhof ist alles schwarz von Menschen", ruft einer vom Baum. Dann ein hohler Schall von oben, deutlicher, lauter, emsiger, ein Dutzend Maurer sind aufs hohe Saaldach geklettert und haben begonnen, die Ziegel abzudecken. Alle Blicke gehen in die Höhe, zur Decke, wahrhaftig, da steigen sie schon herunter, immer neue, immer mehr, zwischen den Dachsparren sehen die Gesichter in den Saal. (...)

Von fern braust ein Hochruf, wiederholt sich, braust neu auf und will nicht enden: August Bebel kommt vom Bahnhof her. Saal und Galerien springen auf, es bleibt keiner sitzen, die Aufregung treibt die Menschen hoch, möchte sie hinaustreiben auf die Straße, sie können nicht, sie bleiben, strecken die Hälse zum Saaleingang, fiebern, die Welle der Hochrufe braust wieder heran und da, auf einmal, wie mit einem Zauberstab: Totenstille! Im Saaleingang steht ein kleiner Mann, mit weiß lodernden Haaren, weißem Gesicht, auf dem ein Paar kohlschwarze Augen brennen, klug und irgendwie wehmütig, August Bebel! (...)

In der Nacht rudern wir im Nachen nach Hause. Niemand spricht ein Wort. In den Wirtschaften sitzen noch jene, die nicht gekommen waren und auf unsere Erzählung warten. So ist es in allen Dörfern am Main. In dieser Nacht sind wir Sozialdemokraten geworden mit so vielen anderen, sind es geblieben und werden es sein.

Frankfurter Rundschau - 23.11.02 - mit freundlicher Erlaubnis der FR

Nachtrag - aus:
http://www.alemannia-judaica.de/floersheim_main_synagoge.htm
 

Jakob Altmaier (geb. 1889 in Flörsheim, Elternhaus in der Hochheimer Str. 4; gest. 1963 in Bonn):
nach Besuch der Schule in Höchst sowie Lehrzeit in Frankfurt journalistisch tätig (schrieb 1912 die Vereinsgeschichte des Gesangvereins 'Sängerbund' in Flörsheim); arbeitete für die Frankfurter Volksstimme und für die 'Flörsheimer Zeitung'; Weltkriegsteilnehmer; früh Mitglied bei der SPD; Korrespondent der 'Frankfurter Zeitung', des 'Vorwärts' u.a.m.; nahm am spanischen Bürgerkrieg teil; lebte während des Zweiten Weltkrieges in Kairo; 1945 Rückkehr nach Deutschland, vertrat den Wahlkreis Hanau-Gelnhausen seit 1949 als Mitglied des Bundestages in Bonn; 1954 Ehrenbürger der Stadt Flörsheim. Hatte Beziehungen zu zahlreichen Politikern seiner Zeit (Eisenhower, Kennedy, aber auch Papst Pius XII, und Johannes XXIII.). Er wurde auf dem jüdischen Friedhof in Flörsheim beigesetzt.
Nach der Familie Altmaier ist gleichfalls eine Straße in Flörsheim benannt.

Das müssen Sie lesen: “Jakob Altmaier trifft August Bebel”!
Und: Er kämpfte mit den Internationalen Brigaden für die spanische Republik.