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Die jüdischen Friedhöfe bei Flörsheim am Main Das vorrangige Bestreben einer neu gegründeten jüdischen Gemeinde war die Anlegung eines Friedhofes. Erst in zweiter Linie folgte der Bau einer Synagoge oder die Einrichtung einer Gebetsstube. Denn die Thora konnte überall gelesen werden, wo zehn religiös mündige Männer zusammenkamen. Die Anlegung eines Friedhofes galt auch als besonders verdienstvolle Erfüllung religiöser Pflichten. Aus diesem Grunde war über 250 Jahre nach der Neugründung des Flörsheimer Friedhofes im Jahr 1666 die Erinnerung an Rabbi Abraham in der Gemeinde lebendig, der sich damals um den Ankauf des Geländes verdient gemacht hatte. Beit Olam, Haus der Ewigkeit, oder Beit Hachajim, Haus des Lebens, lauten die gebräuchlichsten hebräischen Bezeichnungen für den Friedhof. Seit dem frühen Mittelalter sind im europäischen Raum jüdische Friedhofsanlagen nachweisbar. Die meisten fielen den wiederholten Judenverfolgungen zum Opfer. Die Steine wurden zerstört oder fanden beim Bau von Häusern, Befestigungsanlagen und Kirchen ihre neue Verwendung. Nach dem Talmud dürfen Friedhöfe nicht innerhalb der Siedlung angelegt werden, sondern müssen — der verunreinigenden Wirkung wegen — eine Entfernung von mindestens 28 Metern von der Bebauungsgrenze einhalten. Da zudem die christliche Obrigkeit an der Anlegung jüdischer Friedhöfe nicht interessiert war, entstanden die Begräbnisstätten sehr häufig auf ödem, ansonsten unbrauchbarem Gelände, an steilen unbebaubaren Hängen und weit außerhalb der Ortschaften. Häufig wiesen Landesherren der jüdischen Gemeinde auch Plätze an „schändlichen Orten" zu. Friedhöfe in der Nähe des Galgens oder des Schindangers waren keine Seltenheit. Auch der Flörsheimer jüdische Friedhof befindet sich in der Nähe des Ortes, der früher Galgenberg genannt wurde. Mit der Beerdigung erwirbt nach jüdischem Recht der Tote diesen Platz als ewige Grabstätte. Eine spätere Umbettung verbietet sich aus Gründen der Ehrfurcht vor dem Toten und seiner Würde. Einzig bei einer Überführung der Leiche ins Land Israel ist eine Umbettung erlaubt. Eine Auflassung des Friedhofes sowie die Neubelegung ausgeräumter Gräber, wie im Christentum üblich, ist undenkbar. Nach jüdisch-rabbinischer Lehre lebt der tote Körper im Grab in einer bestimmten Weise weiter, wenn er dabei auch der Verwesung ausgesetzt ist. Bereits hieraus ist der hohe Stellenwert der Grabesruhe deutlich. Die Zerstörung eines jüdischen Friedhofes ist deshalb mehr als die Zertrümmerung von Grabsteinen und die Sachbeschädigung mittels Schmierereien. Sie ist der Bruch eines Tabus, die Wiederholung einer Vernichtung. Ein jüdischer Friedhof für Flörsheim wird erstmals im ältesten Flörsheimer Gerichtsbuch von 1447 bis 1613 erwähnt. Die dritte Eintragung für das Jahr 1448 lautet: „Item peder dusel scherers eydin haid eyn gang gegangin in eyn halb in morgen uff dem juddin Kirchoffe vnd ist geweist hen gutczuden". Hiermit wird ausgedrückt, daß Peter Dusel, der Schwiegersohn des Scherer, von Hans Gutczuden ein Grundstück im Umfang eines halben Morgens gekauft hat, das im Bereich des Judenfriedhofes lag. Weitere zwischen 1448 bis 1594 protokollierte Kaufverträge sowie Eintragungen in den Zinsregistern des Kartäuserklosters in Mainz und im Flörsheimer Stockbuch des Jahres 1656 lassen die Lage dieses Friedhofes deutlich eingrenzen.
Ein jüdischer Friedhof (juddin Kirchoffe) wird für Flörsheim erstmals 1448 genannt. Auszug aus dem ältesten Flörsheimer Gerichtsbuch von 1447-1613 im Stadtarchiv Flörsheim. Er befand sich im Gebiet zwischen dem Wickerbach und der Gemarkungsgrenze zu Hochheim. Dies ist die Flur, in der auch der jetzt noch vorhandene jüdische Friedhof liegt. Der Beweis der Identität, wie vielfach angenommen, ist damit aber nicht geführt. Im Gegenteil ist aus den Quellen nachweisbar, daß der 1448 erwähnte Friedhof nur in der Nähe des jetzigen lag. In den Folgejahren nach 1666 tauchen nicht nur die Bezeichnungen Judenkirchhof, Judensand und Judenbegräbnis als Bezeichnung des Friedhofes auf, sondern in den Jahren 1686 bis 1751 in sieben verschiedenen Eintragungen auch ein „alter Judenkirchhof. Letztmals wird dieses Gelände 1771 als „alter Judensand" genannt. Als Unterscheidung zum neuen, nunmehr genutzten Friedhof ist dies ein Indiz für das Vorhandensein zweier verschiedener Anwesen. Vor 1666 wird hingegen der Ausdruck „alter Judenfriedhof" in den Gerichtsbüchern nicht verwendet. Eintragungen aus den Jahren 1693, 1701 und 1704 untermauern die nahe, aber doch nicht identische Lage der Friedhöfe. Die Auswertung sämtlicher Quellen erlaubt den Rückschluß, den ersten jüdischen Friedhof weiter im Süden zu suchen, in einem Gebiet, das im Norden von der Straße nach Hochheim, im Süden von der späteren Eisenbahnlinie, im Westen von der Gemarkungsgrenze zu Hochheim und im Osten vom Wickerbach begrenzt wird. In welcher Zeit die in Flörsheim lebenden Juden ihre Toten auf dem ersten Friedhof beerdigt haben, ist mit der Festlegung des Ortes noch nicht beantwortet und wird wahrscheinlich auch nicht mehr zu klären sein. Bei ihrem Gesuch um Überlassung eines geeigneten Geländes für die Anlegung eines Friedhofes im Jahr 1666 wiesen die Juden darauf hin, daß sie bisher ihre Toten nach Mainz auf den dortigen Judensand überführen mußten. Zumindest seit der Neugründung einer jüdischen Gemeinde in Flörsheim am Ende des 16. Jahrhunderts dürfte dies der Fall gewesen sein. Aber auch für den hier urkundlich nachgewiesenen Zeitraum der Existenz des Geländes ab 1448 gibt es keinen Nachweis einer Belegung durch Flörsheimer Juden. Im Gegenteil ist eher anzunehmen, daß der Friedhof bereits in der Mitte des 15. Jahrhunderts gar nicht mehr als Begräbnisstätte benutzt wurde bzw. genutzt werden durfte. Die Wortwahl in den Flörsheimer Gerichtsbüchern und in den Zinsregistern der Mainzer Klöster läßt — ungeachtet der unzulänglichen Quellenlage im übrigen — keinen anderen Rückschluß zu. Eine Reihe der dort aufgelisteten Grundstücke wird nicht nur als „neben" oder „am Judenfriedhof gelegen bezeichnet, sondern als „auf" oder „im Judenkirchhof liegend". Die gleichzeitige Nutzung als Weinberg und Friedhof war jedoch weder möglich noch aus religiösen Gründen denkbar. Auch wäre die jüdische Gemeinde dem Grundherrn für den Friedhof zinspflichtig gewesen, wie dies für die Zeit nach 1666 belegt ist. In den Zinsregistern der Gemeinde Flörsheim, der Pfarrei und der in der Gemarkung über Grundbesitz verfügenden Frankfurter und Mainzer Klöster sind derartige Zinszahlungen einer jüdischen Gemeinde nicht nachweisbar. Hingegen sind in den Zinsregistern zweier Mainzer Klöster für die Jahre 1460 bis 1466, 1564 und vor 1661 mehrere Privatpersonen als Zinspflichtige für Äcker und Weinberge auf oder im Judenfriedhof vermerkt. Dies bedeutet, daß der jüdische Friedhof in diesem Zeitraum bereits landwirtschaftlich genutzt war und als Begräbnisstätte nicht mehr zur Verfügung stand. Dies rechtfertigt auch den Rückschluß, daß der erste jüdische Friedhof bedeutend älter war, möglicherweise schon im 14. Jahrhundert oder früher angelegt worden ist. Am 16. Juni 1666 brach in Flörsheim die Pest aus. Noch bevor der erste Jude an der Seuche starb, richtete die jüdische Gemeinde am 1. Juli 1666 die Bitte an das Mainzer Domkapitel, einen Begräbnisplatz in Flörsheim erwerben zu dürfen. Die Bittschrift hatte folgenden Wortlaut: „Hochwürdig Hochedelgebohrner Herr Dhombdechant undt Statthalter gnädiger Herr. Euer Hochwohlgebohren geruhen gnädig zu vernehmen, wie daß bishero die gemeine Schutzverwandte Judenschaft zu Hochheim und Flehrsheim berechtigt gewesen, daß ihr verstorbene nacher Maintz fuhren undt auf den Judensandt begraben mögte. Inzwischen aber bey dieser contagiosen Zeit — die Gott der allmächtige gnädig abwenden wolle — keine toden anhero zu bestatten, wiewohl gottlob noch keine bißhero dißen Schwachheit gehabt, auß erheblichen ursach nicht gebührest noch zu gelassen würdt. Alß gelanget ahn Euer Hochwohlgebohren gnädig undthänig gehorsame bitt, dieselbe Herrn Schultheysen undt gericht der orth ahnzubefehlen gnädig geruhen wollen, damit uns einiger orth in deren gemarckung uns zur begräbnis saluis tamen et illusis iurisductionalibus und der gebühr assignirt mögen werde. Euer Hoch wohlgebohren undthänig gehorsame schutz Judenschaft zu Hocheim und Flersheim".
Das Mainzer Domkapitel genehmigte am 9. September 1666 den Ankauf eines Grundstückes zur anlage des jüdischen Friedhofes auf ewige Zeiten. Auszug aus dem Föorsheimer Gerichtsbuch von 1665 - 1673 im Stadtarchiv Flörsheim. Bereits wenige Wochen später hatte der Domdechant nach Rücksprache mit dem Flörsheimer Schultheißen der Bitte entsprochen und den Ankauf genehmigt. Im Flörsheimer Gerichtsbuch 1665 bis 1673 ist unter dem 9. September 1666 folgender Eintrag erfolgt: „Ist hiesig Juden flörsheim und Hochheim Dhomb Capitularisch Schutz Verwandte auf ihr unterthänig Ahnsuchen vergünstiget worden, das sie Juden einen Kirchhof in flörsheimer terminey zu ewig zeiten haben sollen, dero wegen mehrgemelten Juden nunmehr von Andreas Klemm sl hinterlassener Wittib den halben theil auß 5 rutten Ackers über der bach gelegen bey den Eychbaumen. Ist getrumbt das unterst stück welches auf die rich zeugt. Vor undt vmb 3 fl 15 alb bahrgelt erkauft. Vnd auf obgemelten dato alhier zu flörsheim bey E. E. Gericht protokollieren vndt einschreiben lassen werden, deswegen kraft dises immitirt Johannes Newman Gerichtsschreiber". Bemerkenswert ist, daß das Domkapitel die jüdische Tradition der Unverletzlichkeit des Friedhofes respektierte und die Überlassung des Geländes auf ewige Zeiten bewilligte Die Verkäuferin des Grundstuckes, die Witwe des Andreas Klein, war kurz zuvor von zwei Schicksalsschlagen getroffen worden. Ihre Schwester Maria war am 29. Juli, ihr Ehemann am 16 August an der Pest verstorben. Der ursprünglich 125 qm große Friedhof umfaßte den im oberen Bereich des Hanges gelegenen Teil des jetzigen Areals. Die unmittelbar an den Wickerbach angrenzenden Flächen kamen erst später bei der Vergrößerung des Geländes hinzu. Aus dem 1832 verbrannten Memorbuch der jüdischen Gemeinde konnte ein Dokument aus dem Jahr 1670 gerettet werden, das vagen Aufschluß darüber gibt, daß der Ankauf des Friedhofsgeländes sich schwierig gestaltet hatte. Ansonsten geben die überlieferten Urkunden zum Verfahrensablauf keine Auskünfte. Die Eintragung im alten Memorbuch lautete: Aus einer Umfrage der Landesherrschaft aus dem Jahr 1780 ist bekannt, daß auch die Weilbacher und Wickerer Juden ihre Toten auf dem Flörsheimer Friedhof begruben. Fortwährende Auseinandersetzungen gab es m der Folgezeit mit der jüdischen Gemeinde Hochheim, die ihre Beitrage zur Vergrößerung und Erhaltung des Friedhofes nicht zahlen wollte. 1909 erwarben die Hochheimer Juden ein eigenes Gelände und schieden aus dem Flörsheimer Friedhofsverband aus. 1869 begannen die Baumaßnahmen zur Errichtung einer Umfassungsmauer um den Friedhof. Die aus Bruchsteinen gefertigte Mauer umschließt auch heute noch ein Gelände von 3606 qm. Im Sommer 1938, mehrere Monate vor dem Novemberpogrom, verwüsteten Flörsheimer Einwohner die Anlage und zerschlugen eine Vielzahl von Grabsteinen. Die kunstvoll gehauenen Grabsteine aus Granit, Porphyr und Sandstein wurden auf brachiale Weise zertrümmert Als ein Flörsheimer Bürger im Jahr 1946 den Grabstein der Familie Altmaier suchte, fand er noch nicht einmal Bruchstucke, die groß genug gewesen waren, eine Zuordnung zu diesem Namen vorzunehmen. Nach dem Novemberpogrom 1938 erfolgte die systematische Vernichtung der jüdischen Existenzen, die Ausplünderung jüdischer Gemeinden und Privatpersonen. Die in den Verordnungen ausdrücklich so genannte „Entjudung des Grundbesitzes" machte auch vor dem Ehrfurcht gebietenden Friedhof nicht halt. Das Friedhofsgelände wurde in zwei Teilstücken am 11. Oktober 1940 und 3. März 1943 an einen Flörsheimer Gärtner verkauft. Dieser beseitigte die Grabsteintrümmer, planierte das Gelände und baute in der Folgezeit Getreide an. Die zerschlagenen Steine stapelte er an der rückwärtigen, nördlichen Umfassungsmauer auf. Diese am Wickerbach gelegene Mauer brach nach kurzer Zeit, auch unter dem Druck der aufgeschichteten Grabsteine, zusammen. Bei den landwirtschaftlichen Arbeiten auf dem Gelände wurden Leichenteile an die Oberfläche gepflügt. In der Siedlung Keramag spielten Kinder einige Zeit mit Schädeln, die auf dem Friedhof gefunden wurden. Die Zivilgemeinde ließ im Jahr 1946 drei der vier Umfassungsmauern reparieren und die Torpfeiler aufmauern. Außerdem gaben Überlebende des Holocausts die Anfertigungen neuer Grabsteine für ihre Angehörigen in Auftrag. Diese Grabsteine wurden sodann an einer Stelle des Friedhofes zentriert aufgestellt. An der ursprünglichen Stelle der jeweiligen Gräber stehen die Steine nicht. Sie sind auch nicht nach Osten gen Jerusalem ausgerichtet, sondern bilden eine rein dekorative Gedenkgruppe. Am 17. August 1947 wurde der Friedhof unter zahlreicher Teilnahme der Flörsheimer Bevölkerung erneut geweiht. Jakob Altmaier kam aus Paris zu dieser Feier, die Landesregierung war durch den Minister für Wiederaufbau und politische Befreiung, Gottlob Binder, vertreten. Aus den Lagern von Wiesbaden und Zeilsheim erschienen jüdische displaced persons. Gleichzeitig wurde ein Gedenkstein enthüllt. Die letzte Beerdigung auf dem Friedhof und die einzige nach Ende des Krieges fand am 13. Februar 1963 statt. Jakob Altmaier, Ehrenbürger der Stadt Flörsheim, war am 8. Februar am Schreibtisch seines Büros im Deutschen Bundestag in Bonn einem Herzschlag erlegen. Unter großer Anteilnahme der Bevölkerung und im Beisein der Repräsentanten des politischen, gesellschaftlichen und religiösen Lebens wurde er bei winterlichen Witterungsverhältnissen begraben. Zu seinen Ehren hielten Prof. Carlo Schmid, Herbert Wehner und der Botschafter Israels, Dr. Shinnar, die Traueransprachen. Nur wenige Wochen nach den Gedenkfeiern zum 100. Geburtstag Jakob Altmaiers im November 1989 schändeten unbekannt gebliebene Täter erstmals nach Ende der NS-Herrschaft den Friedhof. Am 14. Dezember 1989 wurden die Verwüstungen entdeckt. Sämtliche Grabsteine waren mit Hakenkreuzen und antisemitischen Parolen beschmiert. Nach der umgehenden Beseitigung der Schäden dauerte es nur drei Jahre bis zum nächsten Übergriff. Im Januar 1993 rissen ebenfalls unbekannt gebliebene Täter mehrere Grabsteine aus der Verankerung. Einen der Steine schleppten die Täter über eine größere Distanz und warfen ihn die Böschung zum Wickerbach hinab. Der einst dicht mit Gräbern und Grabsteinen belegte Friedhof am Wickerbach ist heute leer. An der westlichen Umfassungsmauer stehen vor dem 1947 errichteten Mahnmal neun einsam wirkende Grabsteine. Der größte ist derjenige der Familie Altmaier, den Jakob Altmaier für drei Generationen seiner Familie hat anfertigen lassen. Auf der Rückseite ist zu lesen: Die Seelen der Gerechten
Der jüdische Friedhof bei Flörsheim. Im Vordergrund der Grabstein der Familie Altmaier.
Quellen: Stadtarchiv Flörsheim: Gerichtsbücher 1447-1613, 1645-1674, 1665-1673, 1674-1718, 1690-1706, Stockbuch 1656, Zinsregister 1666-1810, Hypothekenbuch 1748-1811; Aus: Zwischen Main und Taunus – MTK-Jahrbuch 1999 – mit freundlicher Erlaubnis des Autors |