Das Weilbacher Kriegskassengerücht

Hermann Lixenfeld

Als in den ersten Septembertagen des Jahres 1960 die alte Hofreite der Familie Remsperger abgerissen wurde, versammelten sich auf und an der Bachbrücke ungewöhnlich viele alte Weilbacher Bürger. Die einzelnen Gruppen machten geheimnisvolle Andeutungen, die von den jüngeren Zuschauern nicht verstanden wurden und schließlich erfuhr der Autor in den Folgetagen von seinem Großvater Philipp Lang haarsträubende Geschichten über Napoleons Kriegskasse, die am Abend des 1. November 1813 hier eingefahren worden sein soll, aber nie mehr den Hof verlassen hätte. Der ehemalige napoleonische Armeeangehörige Georg Philipp Müller soll die gesamte Bewachermannschaft ermordet, die Leichen unter dem Haus verscharrt und den Schatz versteckt haben. Nachdem der geduldige Zuhörer diese Geschichte an befreundete Heimatgeschichtskundige aus dem Umland weitererzählt hatte, erfuhr er von weiteren aufgebrochenen Geldkassetten, die man in anderen Dörfern fand und viele glaubten, daß auch ihr Fund mit Napoleons Kriegskasse identisch sei. Bei der Fülle dieser Funde entschloß sich der Autor, wenigstens dem Weilbacher Gerücht nachzugehen und die eventuell noch vorhandenen Spuren zu sichern.

Erzählung als Spurensicherung

Vor langer Zeit, so erzählte man, sagten die Weilbacher: „Unter dem Krummstab ist gut leben" und meinten damit die Mainzer geistliche, kurfürstliche Regierungsform. Fast alle Bürger waren nach Mainz orientiert. Die Bauern verkauften dort ihre Erträge, Mainz bestimmte den Amtmann und Schultheiß und selbst die Frauen kannten nur Mainz als Einkaufsstadt. So manche Fuhre landwirtschaftlicher Produkte verließ Weilbach in früher Morgenstunde, auf der auch Frauen und Kinder mit aufsaßen, die fröhlich dem „Abenteuer Stadt" entgegen sahen. Nach dem Revolutionsjahr 1789 liebäugelten auch viele Mainzer Bürger mit der Abschaffung von Feudalrechten und somit erfuhren auch Weilbacher Bürger von den „Französischen Verhältnissen". Für den Großteil der Bevölkerung waren die Franzosen „Erbfeinde". Dieses Empfinden verstärkte sich erheblich, als im August 1792 Weilbacher Burschen rekrutiert wurden und nach der Eroberung von Speyer am 30.09.1792 als vermißt galten. Wenige Tage bevor der Sieger General Custine mit „klingendem Spiel" in Mainz einzog, rumpelte die Kutsche des Kurfürsten und Erzbischofs Friedrich Karl Joseph von Erthal durch Weilbach und die Menschen fragten sich: „Wo sind unsere Buben verblieben?"

Nachdem dann in den Folgejahren Freund und Feind das Dorf ausgeplündert hatten, haßte man nicht nur die Franzosen, sondern auch franzosenfreundliche Dorfgenossen. Somit war das Vorurteil über das Ehepaar Müller/Sandel geprägt, weil Georg Philipp Müller in der französischen Armee gedient hatte und sein Schwiegervater Philipp Sandel als „Franzosenfreund" bekannt war. Andere nannten in diesem Zusammenhang jedoch auch einen Christian Müller. Der Ortsplan von 1869 und Anmerkungen von Berthold Auerbach in seinem „Tagebuch von Weilbach" sprechen jedoch eindeutig für Georg Philipp Müller.

Nachdem nun Napoleon die Truppen für seine letzten Feldzüge in Mainz zusammenstellte, waren Weilbach und alle Anrainer mit Militär belegt. In dieser Situation gehörte es dann zur Normalität, daß sich ehemalige Kameraden von Georg Philipp Müller in Weilbach einfanden, um Wiedersehen oder Abschied zu feiern. Die Dorfgemeinschaft empfand dies als Verrat und da man auch noch Vorteile des Verräters zu erkennen glaubte, steigerte sich dieses Empfinden zum Neidsyndrom. In jener Zeit erfuhren die Weilbacher durch Kriegsabgaben, Plünderungen, Hungersnot und eingeschleppte Seuchen die Hölle auf Erden und das angebliche „Verschwinden der Kriegskasse" nach der Völkerschlacht bei Leipzig und dem Scharmützel bei Hanau ließ den „Hass pur" aktiv werden. Zu allem Frust kam dann laut Überlieferung die Angst der Bürger hinzu, die Repressalien befürchteten, wenn der Diebstahl heraus kommen sollte. So soll es dann geschehen sein, daß die Dorfgemeinschaft jene Familie ächtete und terrorisierte. Man erzählte, daß die Kinder der Müllers von den Gleichaltrigen schikaniert und verprügelt wurden, ohne daß ein Erwachsener für sie eintrat und sie in Schutz nahm. Sie verließen nur gemeinsam den Schutz ihres Hofes und die Eltern konnten weder in Weilbach noch im Umland ein Wirtshaus betreten, ohne daß sie beschimpft und provoziert wurden. Die heranwachsenden Kinder konnten im gesamten Umland kein Fest besuchen und somit auch keine Lebenspartner finden. Wer kennt nicht die kleinen menschlichen Gemeinheiten und Verletzungen, die Menschen einer schutzlosen Minderheit antun können wenn sie keine Strafe zu befürchten hatten. Aus Langeweile, Großtuerei, Hass oder angeberischer Selbstherrlichkeit erfand man unter dem Beifall der Gleichgesinnten ausgefeilte psychologische Quälereien, die jene Betroffenen bis in den geheimsten Winkel ihrer Seele trafen. Gemäß Kurgast B. Auerbach war der Dorftreffpunkt (Dalles) für jung und alt auf der Brücke Hauptstraße/Bach, ca. zehn Meter von dem Wohngebäude der Familie Müller entfernt. Ein geradezu idealer Treff, um die Familie stundenlang mit Schmähreden und Gesängen zu attackieren.

Der Familie wurde allergrößte Frömmigkeit nachgesagt, was durchaus verständlich ist. Schließlich hatten sie nur ihren Glauben und den Pfarrer als Freund. Ausgehend von dieser Isolation, sollen alle Familienmitglieder merkwürdige Verhaltensweisen angenommen haben, was besonders bei der letztlebenden Tochter Margareta sichtbar wurde. Die Großelterngeneration erzählte von Zornausbrüchen und Schreiorgien gegen den Pfarrer, welchen sie von ihrem Fenster aus um 1874 attackierte, weil er sie um Geldspenden für den Kirchenbau ersuchte. „Der Lump, der Drecksack will mei ganz Geld" soll sie öfter geschrieen haben. und beim nächsten Gottesdienst saß sie wieder in der ersten Reihe auf ihrem Stammplatz. Die Bürger sagten: „Die warn all besandelt" und meinten damit, sie seien verrückt. Jener Begriff „besandelt" wurde bis um 1950 in Weilbach benutzt. Zu guter letzt aber ging Margareta Müller als „große Wohltäterin der Weilbacher Kirche" in die Kirchengeschichte ein. Ihr Name wurde zusammen mit dem Namen des Kirchenerbauers, Pfarrer Wilhelm Hans auf dem Friedhofskreuz am alten Friedhof verewigt. Wie viel genau sie in Raten und als Festbetrag gegeben hatte, bleibt ein Geheimnis. Es wurde aber allseits behauptet, daß ein Großteil des aus Geldmangel ins Stocken geratenen Kirchenbaues von ihrem Geld finanziert wurde. In Gersbachs Buch ist auf Seite 41 von einem „namhaften Legat der Margareta Müller" die Rede. Wegen dieser großen Geldspende glaubten die alten Weilbacher an das blutige Drama um die Kriegskasse von 1813.

Ermittlungen aus Gemeindeunterlagen

Es bestätigt sich ja immer wieder, daß solche Dorferzählungen einem wahren Kernereignis entsprechen. Die bluttriefenden Berichtsvarianten sollten hier allerdings etwas sortiert werden. Einige Zuschauer erwarteten 1960 gespannt, daß beim Abriß die Leichen der Bewachermannschaft unter dem Fußboden gefunden würden und wichen nicht von ihrem Beobachtungsplatz. Nachdem man nichts zutage förderte, diskutierten die Alten noch lange über den Verbleib von Wagenteilen, Geldtruhe und Menschenknochen. Was war damals also geschehen?

Das Anwesen, auf dem heute die Metzgerei Press steht, gehörte einem Philipp Sandel. Nach dem Urkundenbuch des Jahres 1811 kann man Sandels Besitz, verglichen mit dem anderer Bauern, als mittelmäßig einordnen. Die Rechnungsbücher von 1800 bis 1817 weisen ihn unter Schultheiß Breckheimer und Bürgermeister Johann Schäfer als Gemeinderatsmitglied aus. In der Dorfüberlieferung wurde er, mit wenigen anderen Weilbachern als „franzosenfreundlich" geschildert und schließlich schrieb der Schriftsteller Auerbach 1842: „An General Custine haften hier (in Weilbach) noch viele Erinnerungen, mehrere begeisterte Männer riefen ihm bei seinem Durchzuge nach Hanau aus den Fenstern „Vivat" zu, bald darauf wurde ihnen aber von den Reichstruppen alles kurz und klein geschlagen". Hier kann es sich nur um das Anwesen Sandel/Müller handeln. Die Abneigung gegen Franzosenfreunde war also bereits lange vor dem Kriegskassenereignis akut.

Nun berichtete die Dorfüberlieferung weiter, daß Anna Maria Sandel einen Weilbacher Georg Philipp Müller heiratete, der sich unter Napoleon bis zum Offizier hochgedient hätte. Die Erzähler brachten Philipps Militärlaufbahn mit der Verordnung des Kurmainzischen Hofgerichtsrates in Verbindung, wonach sich alle wehrpflichtigen Männer einen Zopf wachsen lassen mußten. Dann stellte man Mitte August 1792 eine Artillerieabteilung und zwei Infanteriebataillone zusammen, die am 30. September 1792 in Speyer die Schlacht verloren und in Gefangenschaft gerieten. Philipps Rekrutierung kann aber auch genau so gut durch die Truppenaushebungen in unseren Dörfern erfolgt sein, die in den Folgejahren stattfanden. Nach über zehnjähriger Dienstzeit in der Französischen Armee ist es denkbar, daß sich ein intelligenter Deutscher in den unteren Offiziersrang diente und im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts entlassen wurde. Bis zu dieser Stelle ist die Überlieferung glaubhaft. Wie aber ist G. Philipps späterer Reichtum erklärbar?

Selbst wenn man ihm sehr gute Ernten in den wenigen friedlichen Jahren in Mainz vergoldet hätte, hätten ihm die Kriegsabgaben und Plünderungen der Folgejahre seinen Gewinn wieder eliminiert. Außerdem zog er sich durch die Vorteile, die er durch die Franzosen genoß, den Hass vieler Weilbacher zu. Nach den Gemeinderechnungsbüchern erwirtschafteten die Weilbacher Bauern im 19. Jahrhundert keine großen Gewinne. Wolfgang Metternich führte am 17. April 2004 in seinem Vortrag „Die Koalitionskriege von 1792 bis 1813" an, daß Kommunen und Bürger erst 40 Jahre nach dieser Zeit ihre Schuldenrückzahlungen abgeschlossen hätten. Aber auch die alten Überlieferer hielten das Ertragsvolumen von Müllers mittlerem Besitz nicht für fähig, eine solche Spende zu tätigen. Neben der Kirchenspende ordnete ja der Volksmund dem G. P. Müller auch noch die 1853 gestiftete wertvolle Kreuzigungsgruppe am Speckweg zu, die heute in der Leichenhalle steht. Nach den Plänen der Preußischen Landvermessung von 1869 hatten Müllers Namensvettern gemäß Ortsplan auf Seite 65 weit größere Anwesen und die reichsten Bauern hießen Allendorf und Orth.

Die Beweisführung als Hypothese

Man sagt oft: „Die Wahrheit liegt in der Mitte"; doch in diesem Falle erscheint sie mehr als Hypothese. Es ist einfach unwahrscheinlich, daß in diesem Dörfchen umfangreiche Kriegsgelder abhanden kamen. Solche Einlagen sind registriert und spätere Revisoren hätten dies bemerkt und hätten dementsprechend recherchiert. Allerdings könnte eine in den Kriegswirren nicht mehr eingetragene Kassette mit Kontributionsgeldern oder gestohlenes Geld hier verschwunden sein. Es ist denkbar, daß ein erfahrener Offizier und ehemaliger Kamerad von Müller das Geld in der Kutsche hatte. Man wurde handelseinig, versteckte den Wagen irgendwo, der Soldat setzte seine Flucht nach Mainz zu Pferd fort und holte nach seiner Entlassung seinen Anteil ab. Aber wie es nun mal ist, wird man immer von Mitbürgern gesehen, obwohl das Dorf und die Straßen an jenem Abend voller flüchtender Soldaten waren. Es herrschte absolutes Chaos im Dorf und die vor Hunger äußerst aggressiven Soldaten waren auf ihrer Flucht vor den nachrückenden Kosaken völlig unberechenbar. Spät abends verließen die verängstigten französischen Truppen das Dorf und früh Morgens ritten die Kosaken voller Tatendrang ein.

Da nun die menschliche Fantasie unendlich überreagieren kann, wurde aus dem Ereignis eine blutige Horrorgeschichte, die noch 150 Jahre später die Gemüter erhitzte. Der Großvater des Autoren verbrachte seine Kinder- und Jugendzeit in jenem Haus, welches im Nachhinein einer Familie Remsperger gehörte. Seine Gespräche kreisten nach dem Abriß über mehrere Wochen um dieses Ereignis, und der Enkel bekam diese Geschichten, ob er wollte oder nicht, mit. Der Autor benutzte hier absichtlich die gängigen Begriffe „Spurensicherung, Ermittlung und Beweisführung" weil es sich hier womöglich um ein echtes strafbares „Eigentumsdelikt" handelte. Dabei legte er, wie bei vielen seiner Arbeiten, den Schwerpunkt auf die Spurensicherung aus „mündlicher Überlieferung", weil sich hier ein bedeutendes Dorfereignis ableiten läßt. Die Ermittlungen aus zeitgemäßen Gemeindeunterlagen gestatteten dem „Nachforscher" schließlich nur kleine Einblicke und wenige Stichworte durch winzige Zeitfenster, die gerade einmal wenige Details der Spurensicherung bestätigten.

Da es sich bei diesem Ereignis um eine kriminelle Handlung handelte, die niemals geahndet wurde, kann man auch keine weitere dokumentierte Wahrheitsfindung betreiben. So ähnlich jedenfalls äußerte sich auch ein Mitarbeiter des französischen Militärarchivs dem Autoren gegenüber. Es ist und bleibt aber für unsere Nachfahren eine unterhaltsame Erzählung, deren „wahrer Kern" durchaus im realen Ereignisbereich anzunehmen ist.
Die alten Weilbacher jedenfalls waren fest überzeugt, daß hier Geld widerrechtlich den Besitzer wechselte.

Quellen

  • Auerbach, Berthold; Tagebuch von Weilbach; in: Der Freihafen, 6. Jahrgang, 1843
  • Gersbach J. Pfarrer, „Aus Weilbachs vergangenen Tagen", 1925
  • Hensche Albert, Alt Nassau, „Beilage zum Wiesbadener Tageblatt", August 1930
  • Lauck (Bürgermeister), "Heimsuchung Flörsheims in den verschiedenen Kriegen", 1917
  • Lixenfeld Hermann, „Erzählungen aus dem neuen Weilbach", 1990
  • Metternich Wolfgang, Vortrag 17.04.2004 in Sindlingen
  • Preußischer Ortsplan von Weilbach, 1869
  • Rechnungsbücher Weilbach 1800 bis 1817
  • Schüler Th. (Archivsekretär), Alt Nassau „Beilage zum Wiesbadener Tageblatt "
  • Urkundenbuch Weilbach von 1811.

Aus:
MTK-Jahrbuch 2010
MTK2010 002

Bitte beachten Sie unbedingt die detaillierten Zeichnungen des Autors - und den Ortsplan!