Soden 1875 und 1876
Ein Kurgast schreibt nach Hause

GUNTHER KRAUSKOPF

Es war eine Überraschung, als sich im Juli 2008 ein Mann beim Stadtarchiv Bad Soden meldete, der über ein umfangreiches Briefarchiv seiner Vorfahren verfügte. Es war Joachim Brandt aus Münster in Westfalen, der anfragte, ob das Stadtarchiv nicht Interesse an den brieflichen Schilderungen der Kuraufenthalte seines Urgroßvaters Wilhelm Stevecken in Soden haben könnte. Darauf gab es nur ein entschiedenes Ja von Seiten des Stadtarchivs. Es hat sich gelohnt, denn Dank dieses Briefwechsels eröffnen sich Einblicke in das Sodener Kurleben, wie man sie aus Büchern der Zeit oder der Fremdenliste nicht gewinnen kann.

Wer war Wilhelm Stevecken?
Kurgast Soden 1875 001

Das Ehepaar Henriette geb. Schulze Vellinghausen und Wilhelm Stevecken um 1870. Wilhelm Stevecken war 1875 und 1876 in den Bädern Soden und Lippspringe wegen seines Hustens zur Kur. (Familienarchiv Brandt, Münster)

Er lebte damals in Langendreer, heute zu Bochum gehörig, führte ein Lebensmittelgeschäft verbunden mit einer kleinen Landwirtschaft und war gleichzeitig Sparkassenrendant am

Ort. Hinter dieser heute nicht mehr gebräuchlichen Bezeichnung verbirgt sich der Mitarbeiter einer Sparkasse auf dem Lande oder in kleineren Orten, wo es genügte, einen Vertreter zu haben, der aber absolut vertrauenswürdig und zuverlässig sein mußte.

Stevecken war also Rechnungsführer oder Kassenverwalter. Er nahm Geld ein und zahlte aus, vergab Kredite und kassierte die fälligen Zinsen. Seine Frau Henriette unterstützte ihn dabei tüchtig. Während seiner Kuraufenthalte 1875 und 1876 in Soden lag alles in ihren Händen. Beide stammten von sehr großen Bauernhöfen im Raum Dortmund-Unna. Stevecken war das älteste von 14 Kindern, seine spätere Frau das achte von sechzehn. Die wenigsten erreichten ein höheres Alter, so auch seine eigenen Kinder nicht. Über allen Menschen jener Zeit schwebte das Damoklesschwert einer Krankheit, der Tuberkulose, die damals nicht zu heilen, höchstens zu lindern war.

Wilhelm Stevecken fährt zur Kur

Mit seiner Gesundheit stand es also nicht zum Besten und deshalb fuhr er nach Soden zur Kur, von dem er vielleicht gehört hatte, daß seine Quellen helfen könnten. Die Anreise war damals etwas umständlich, aber so wie er reiste, war sie wohl überlegt. Von seinem Wohnort Langendreer nahm er am 9. August 1875 den Zug Nr. 281 der Rheinischen Eisenbahn nach Oberlahnstein. Die Fahrt kostete 11,30 Mark. Da es entlang des Rheins noch keine durchgehende Bahnverbindung gab, nahm er hier ein Schiff der Kölnischen & Düsseldorfer Gesellschaft, das ihn nach Rüdesheim brachte. Es war ein heißer Tag und weitere sollten noch folgen. Er übernachtete im Hotel Jung für 2,50 Mark, wo er Kalbsbraten mit Kartoffeln für 1,05 Mark aß und dazu zwei halbe Flaschen Rüdesheimer Wein trank, die ihn zwei Mark kosteten. Die Unterbrechung war ihm sicherlich willkommen. Am nächsten Morgen machte er nach dem Frühstück, komplett für eine Mark, einen Spaziergang durch die Weinberge in die Gegend des späteren Niederwalddenkmals. Bevor er die Weiterfahrt um halb Zwei antrat, stärkte er sich bei einem Kotelett für eine Mark, einer halben Flasche Rüdesheimer und einer halben Selters.

In Höchst a. M. wird er umgestiegen sein in die Eisenbahn nach Soden, wo er nachmittags um vier Uhr mit vielen Badegästen eintraf. Als gelernter Kaufmann und erfahrener Handlungsreisender ließ er in Anbetracht der zahlreichen Neuankömmlinge seinen Koffer am Bahnhof zurück und begab sich auf die Suche nach einer Unterkunft.

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Kopf eines Briefs aus dem Jahre 1875, den Wilhelm Stevecken an seine Frau schrieb. Der Bogen zeigt vier Sodener Ansichten aus der Zeit um 1870 und je eine von Kronberg und Königstein. Wahrscheinlich ist er das einzige erhaltene Exemplar seiner Art, hergestellt von der Druckerei Knatz in Frankfurt. (Familienarchiv Brandt, Münster, jetzt Stadtarchiv Bad Soden a. Ts.)

Eine vorteilhafte Zimmerwahl

Unterwegs sah er fast an jedem Haus ein Schild hängen: „Zimmer zu vermiethen". Im Hause des Bezirkstierarztes Johann Haßler [heute Königsteiner Straße 60] handelte er den Zimmerpreis von 11 auf 5 [süddeutsche] Gulden die Woche herunter, was sehr billig war, wie er seiner Frau Henriette, von ihm zärtlich Jettchen genannt, schrieb. Von 13 Zimmern waren nur zwei besetzt. Rechnungen von Haßler sind erhalten. „Mein Zimmer ist möbliert, [reines] gutes Bett, worauf ich meine [Reise-]Decke gebrauche. Sopha, altmodisch mit 4 Kissen, runden Tisch mit rother Decke, schöne Commode, Mantelstock [Kleiderständer], einen Waschtisch, Nachttisch, 2 gepolsterte Stühle." So schrieb er an sein Jettchen am Samstag, dem 14. August 1875. Schon am 11. August hatte er Jettchen und seinen drei Kindern, von denen Anna und Clärchen schon zur Schule gingen, begeistert die Atmosphäre des Hauses Haßler geschildert: „...ich habe eine ... aufmerksame Bedienung, einen prachtvollen Garten bei Hause, der mit rothen, gelben, grünen Eierpflaumen, Pfirsichen, Aprikosen, Quitten, Pflaumen, Birnen und Äpfel bespickt ist, daß die Zweige brechen. Ich habe die Erlaubniß, an die Bäume zu gehen und möchte nur wünschen, die lieben Kinder wären 1 Tag hier." Beide Töchter antworten dem Vater recht liebevoll und das kleine Clärchen endet mit dem Satz: „Jetzt muß ich schließen, weil mein Händchen müde iß." Die kleinste, Alma, wurde von ihrem Vater Almaken genannt. Eine weitere Tochter war kurz vor seiner Abreise verstorben.

In den darauf folgenden Tagen beobachtete er den Tagesablauf im Hause: „Es scheint, als wenn mein Hauseigenthümer in guten Verhältnißen lebte, der alte Herr fährt täglich mit seinem eigenen Wagen aus, die beiden Töchter sind noch hier, eine scheint ziemlich fleißig zu sein, die andere sieht man selten und nur fast unter den Obstbäumen. Die Leute sind nicht katholisch." Wahrscheinlich hingen die täglichen Ausfahrten auch mit dem Beruf Haßlers zusammen, der ja Bezirkstierarzt war und einen größeren Umkreis zu betreuen hatte.

Ein alter Bekannter in der Fremdenliste

In der Sodener Fremdenliste entdeckt er bereits am Ankunftstag einen alten Bekannten, Marx aus Herdecke, einen Mann der sich an der Börse auskannte. Er sucht ihn in seiner leider ungenannten Pension auf, wo er hört, daß er ausgegangen sei. Zur beiderseitigen Freude findet er ihn im Kurgarten, dem heutigen Alten Kurpark, beim abendlichen Konzert. Er war schon zum sechsten Mal hier und schwor auf die Sodener Kur. Für Stevecken waren seine Erfahrungen und Ortskenntnisse von Vorteil. „Er weiß genau von Allem Bescheid, er weiß, wo es am billigsten und am Besten ist, ... und hat mir manchen Groschen gespart." Klagen über hohe Preise in Soden tauchen in seinen Briefen immer wieder auf. Marx führte ihn auch bei seinem Badearzt ein.

Badearzt Dr. Bröcking weiß Rat

Gleich am nächsten Tag, dem 11. August, holte ihn Marx um 6 Uhr morgens ab, denn die Kur begann früh: „... wir gingen nach den Brunnen [vermutlich im Quellenpark] und habe ich schon tüchtig mit getrunken, es war hier ein Gewimmel von Menschen, die in ihrer sonderbarsten Morgengarderobe mit dem Glase in der Hand spazierten, unter den Klängen der Musik. Um 8 Uhr gingen wir zum Doctor Bröcking, den Marx gut kennt und auch gebraucht." Der Arzt hatte seine Praxis im Haus Landlust, Ecke Wiesenweg und früherer Hauptstraße [jetzt Zum Quellenpark], in der 1860 die beiden Brüder von Leo Tolstoi, Sergej und Nikolai, gewohnt hatten. Hier zeigte sich nun das Vorteilhafte für Stevecken. „Als wir kamen, war das ganze Wartezimmer voll, Marx schickte seine Karte hin und bat, einen Freund von ihm vor zu lassen, was auch sofort geschah."

„Der Doctor frug alles nach, untersuchte mich hierauf aber so genau, wie noch kein Arzt gethan, er verordnete mir hierauf, von einer Quelle Nr. 3 jeden Morgen zwei Glas zu trinken, nichts Fettes zu essen und nur täglich 1/2 Flasche leichten Rotwein, wenn möglich mit Selterswasser verdünnt, zu trinken. Man bekommt nach dem Brunnenwasser Durst. Der Doctor notierte sich alles genau und sagte noch, ich möchte tüchtig Milch trinken, wenn ich sie möchte, ich habe schon den Anfang gemacht, die hiesige Milch ist aber viel fetter

Der Tagesablauf

Mit der Zeit findet Stevecken seinen Rhythmus, wie er seiner Frau schreibt: „Ich habe meine Lebensweise jetzt gut eingerichtet, des Morgens, da es kühler wird, von 1/2 7 bis 8 Uhr gehen, um 9 Uhr Kaffee trinken, dann schreibe ich Briefe oder sitze im Garten und lese. Von 12 bis 1 Uhr im Curgarten spazieren, 1 Uhr bis 1/2 3 Essen, bis 4 sitze ich dann auf der Stube, von 4 bis 6 gehe ich in den Wald, der Herr hier aus dem Hause geht mit, um 6 Uhr trinken wir beiden Milch, eher wird nicht gemolken, es sind hier viele Leute, die Kühe haben und darauf eingerichtet sind, Milch abzugeben, und sind die Kuhställe dann förmlich belagert von Curgästen, vornehm und gering, jung und alt, die Milch wird warm wie sie von der Kuh kommt getrunken, ist sehr fett und kostet das Glas ungefähr 1 Liter groß 1 1/2 Sgr [Silbergroschen], ich trinke mich jedes Mal satt, dann gehen wir wieder spazieren bis 1/2 8 oder 8 Uhr je nachdem wir müde sind oder die Witterung ist." Der „Herr aus dem Hause" war ein Kurgast aus Sachsen, Verwalter eines großen Landgutes.

Von Frankfurt beeindruckt

Am 12. August 1875 fuhr Stevecken mit Marx nach Frankfurt, das damals 103.136 Einwohner zählte. Er war sehr beeindruckt: „... an Großartigkeit der Gebäude und Läden übertrifft diese Stadt alle, die ich gesehen habe. Von dieser reichen Stadt ist ein Garten angelegt, der sogenannte Palmengarten. Diese Blumenbeete, dieser Blumenflor an Verschiedenartigkeit, wie sie nur auf der Erde wachsen, sind hier zu finden, ein großer Glaspalast ist errichtet, in demselben sind Bäume eingepflanzt, die im Winter und Sommer egal warm stehen müssen, besonders sind große Palmbäume vorhanden, daher auch der Name des Gartens." Die Welt ist klein. Im Palmengarten trifft er auf einen weiteren Bekannten, den äußerst überraschten Pastor Lohoff aus Aplerbeck, der bei seinem Bruder, Pfarrer in Höchst am Main, zu Besuch war.

Gesundheit besser, Essen mäßig

Sein Husten habe schon nachgelassen, der Auswurf sei weg, schreibt er am 14.August nach Hause. Aber: „Mein Körper ist ganz aus der Reihe, dies kommt von dem vielen Schwitzen [es war sehr heiß in der Zeit], Wassertrinken und Durchfall, Appetit leidlich, Müdigkeit groß, was alles bei jedem Fremden in den ersten 8 Tagen der Fall ist."

„Wir essen in einer Restauration bei einem vollständigen Mittagstisch, derselbe ist gewiss von 100 Personen besetzt, andere Leute nennen das Essen gut, ich aber nicht. Wir bekommen: Frische Suppe ganz ohne Fett mit Griesmehl, dann Rindfleisch mit schlechten Kartoffeln, hierauf Mell od. Würsing mit Eierkuchen und Schinken, dann Schüsseln gekochte Eierpflaumen mit Hammelbraten, dann einen guten Pudding, auch noch wohl Obst, wovon wenig gegessen wird, da man das Obst durch das viele Wassertrinken leid wird. Das Essen kostet 21 Sgr, des Abends werde ich wohl nicht mehr essen, denn das Fleisch, das man bekommt, ist nicht gar." Leider geht aus den Briefen nicht hervor, welches Haus kritisiert wurde.
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Briefumschlag, gestempelt 25.8.[18]75 in Langendreer, adressiert an Wilhelm Stevecken per Adresse Herrn Thierarzt Haßler in Soden. (Familienarchiv Brandt, Münster, jetzt Stadtarchiv Bad Soden a.Ts.)

Wirtschaftskrise, Aktienkurse, Geldwechsel

Im Deutschen Reich galten 1875 neben der neu eingeführten Währung von Mark und Pfennig zunächst noch zwei weitere. In Norddeutschland Thaler, Silbergroschen und Pfennig, in Süddeutschland Gulden, Kreuzer und Pfennig. Behörden und Verwaltungen stellten 1875 auf die Mark um. Stevecken mußte also fortwährend umdenken und scheint auch die eine oder andere schlechte Erfahrung mit Sodener Umrechnungsgepflogenheiten gemacht zu haben. Wechselkurse waren festgelegt, doch scheint es schwarze Schafe gegeben zu haben, die sich ihr Taschengeld etwas aufbesserten, was Stevecken bemerkte.

Er hatte mit seiner Frau korrespondiert, ob sie ihn nicht am Ende seiner Kur abholen könne, um gemeinsam auf der Rückreise einige Städte wie etwa Köln zu besuchen. Deshalb schrieb er ihr: „wenn Du mich abholst, dann bringe soviel wie möglich neues Geld mit, halte alles, was kommt, fest, besonders die Markstücke. Wenn man nicht besonders gut aufpaßt, wird man mit unserem Geld geschnitten. 2 1/2 Sgr werden für 25 Pfund 5 Sgr für 50 Pf angenommen."

Nach dem Französisch-Deutschen Krieg von 1870/71 war es zunächst zu einem Aufschwung der Wirtschaft gekommen, danach verschlechterte sich die Lage. Das machte sich auch in Soden bemerkbar, wie an dem großen Angebot freier Zimmer erkennbar war. Doch im August 1875 scheint es wieder aufwärts zu gehen, zumindest an den Börsen.
 

Das Börsenfieber beendet eine Kur

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Briefumschlag, gestempelt 3.9.[18]76 in Soden, adressiert an Frau Wilh. Stevecken in Langendreer. (Familienarchiv Brandt, Münster, jetzt Stadtarchiv Bad Soden a.Ts.)

Marx wurde unruhig. Er wollte in den nächsten Tagen abreisen. „Er muß handeln. Er sagte mir heute Morgen, er hätte seine Badereise dadurch schon verdient," schreibt Stevecken nach Hause. Auch ein anderer Bekannter, der Kreisrichter Hosson, scheint abgereist zu sein: „... ich habe ihn in 2 Tage nicht gesehen."

Stevecken wirkt geradezu erleichtert, als er seiner Frau am 23. August 1875 mitteilen konnte:
„Marx ist heute abgereiset, ich bin gerade nicht verlegen darum, denn ich war fast in der letzten Zeit mein eigener Herr nicht, dann ging es hier hin, dann da hin. Die Hälfte der Curgäste sind Juden, er kannte sie zuletzt alle, dann saß er stundenlang bei dieser Frau, 5 Schritt weiter stand er bei einer anderen, heute beginnt deshalb die Molkenkur erst richtig.

Die Kurmusik nervt

Ganz unerwartet kritisiert er die Musik, lobt sie aber auch: „Musik bin ich auch leide, jeden Tag 2 mal Concert, des Morgens ist es schön, denn das Concert beginnt immer mit einem Chorale, wobei ich nie fehle, denn es lautet zu feierlich. Einen Morgen wurde gespielt: „Ach bleib mit Deiner Gnade" den anderen: „Wer nur den lieben Gott läßt den dritten: Jesu hilf siegen, Fürste des Lebens ...", heute : „Allein Gott in der Höh sei Ehr."

Die Hitze macht ihm zu schaffen. Er hat dicke Leinenhemden dabei und fordert nun dünne an. Doctor Bröcking empfahl ihm, sich ganz ruhig zu verhalten.

Gutes Land, faule Leute

Außer Frankfurt hatte er noch nichts gesehen. „Soden ist ein schöner Ort, es sind sehr schöne Gebäude darin, auch gutes Land in der Umgebung, aber die Leute sind zu faul, um etwas darauf zu erzielen. Der Hafer ist an vielen Stellen noch nicht gemäht. "
Auf seine wiederholten Fragen nach geschäftlichen Dingen und der Entwicklung der Sparkasse kann ihn seine Frau beruhigen. Es läuft alles normal.

Noch nie so guten Caffee getrunken

Am 23. August 1875 schreibt er bei besserer Laune. Seit zwei Tagen geht es ihm ganz gut, Erkältung und Durchfall sind weg und er hat guten Appetit. „Des Morgens zwischen 8 und 9 Uhr trinke ich Caffee, derselbe ist ausgezeichnet, ich habe noch nie so guten Caffee getrunken wie hier in Soden, dazu esse ich mit dem größten Appetit 2 Brödchen. Punkt 1 Uhr wird gegessen, ich kann Dir versichern, daß ich dann hungerig bin, wir bekommen 5 Gänge, ich halte sie alle mit durch, Braten und Suppenfleisch nehme ich immer doppelt. Das Essen ist auch immer reichlich, gestern auf Sonntag nicht mal Kartoffeln, Gemüse besteht aus Blumenkohl, Colerabi, Nudeln, Schnitzbohnen, Wurzeln, der unvermeidliche Spinat ist auch noch nicht ganz fort, alles ohne Salz." Stevecken hat das Speiselokal nicht gewechselt, denn er bemerkt am 20. August: „Unser Mittagstisch hat sich sehr gebessert, bei uns essen die meisten Curgäste." Aber: „Sehr theuer ist es hier."

Des Abends bei Haßlers

„Des Nachmittags trinke ich eine Tasse Caffee, wo ich gerade bin. Des Abends wieder guten Appetit, aber wohin? Doch ich bin jetzt des Abends gut geborgen. Die Leute hier im Hause haben mir angeboten, ich könnte des Abends Cottelets oder Braten hier haben mit Compot. Eier habe ich schon einige Male hier gegessen, die waren ausgezeichnet. ... Mit dem heutigen Abend fange ich hier auch an, ... die Leute sind darauf eingerichtet, haben auch guten Wein und gutes Flaschenbier für ihre Curgäste im Keller."

Ein Manöver bringt AbKurgast Soden 1875 005wechslung

Programmzettel eines Militärkonzertes in den Kuranlagen in Bad Soden am Mittwoch, dem 11. August 1875. Offiziell wurde dem Kurort der Namenszusatz Bad erst 1922 erteilt. (Familienarchiv Brandt, Münster, jetzt Stadtarchiv Bad Soden a.Ts.)

Am 20. August berichtet Stevecken von beginnender Langeweile, denn jeden Tag reisen Leute ab. Es geht auf das Ende der Kurzeit zu. Doch schon drei Tage später weiß er von bevorstehender Abwechslung zu berichten: „Ende dieser Woche bekommen wir auf 5 Tage Einquartierung, hier in der Nähe findet ein Manöver statt, worauf ich mich sehr freue. Soden bekommt den ganzen Generalstab, 108 Offiziere und die Regimentsmusick, die Sedanfeier wird ausgezeichnet werden." Stevecken hatte in seiner Jugend Militärdienst geleistet. Die Sedanfeier wurde im Kaiserreich zur Erinnerung an die Kapitulation der französischen Festung Sedan am 2. September 1870 begangen.

Die Einquartierungen betrafen auch die Nachbarorte, u. a. Neuenhain. In der Rechnung der Gemeinde Neuenhain für das Jahr 1875 finden sich mehrere Entgeltbelege für Transportleistungen Neuenhainer Fuhrleute, Lebensmittellieferungen und Zahlungen für Einquartierungen bei Bauern.

Das Mädchenpensionat in Neuenhain

Ein großes Haus erregte Steveckens Aufmerksamkeit bei seinen Spaziergängen, das ihn an seine Tochter Anna denken ließ: „Hier in der Nähe liegt ein schönes Gebäude, fast ein Schloß zwischen Weinbergen und Obstgärten, in diesem Hause ist ein Mädchen-Pensionat, ich gehe da häufig vorbei spazieren und sehe in dem großen Garten viele Pensionärinnen. Soweit ich habe erfahren können, ist die Pension gut, ich werde mich noch näher erkundigen, auch mal zu der Vorsteherin gehen und Rücksprache nehmen mit derselben. Wenn uns Alles gefällt, dann wollen wir Anna auf 1 Jahr hier hinthun, es würde ihr gut sein, die Luft hier auf eine solche Zeit zu genießen, auch ist die Gegend hier reizend."

Das Mädchenpensionat, das Stevecken auffiel, wurde von der Professorentochter Hillebrand gegründet und geführt und genoß allgemeine Anerkennung. Seine Frau Henriette war durchaus dafür, denn sie antwortete ihm: „... wenn es Dir eben möglich ist, dann sprich doch mal mit der Vorsteherin, es wäre für Anna gewiß recht gut, weil sie doch jetzt schon Driburger Wasser trinken muß." Driburg bei Minden verfügte über Mineralquellen, die u.a. auch bei chronischen Schleimhautkatarrhen helfen sollten. Ob es überhaupt zu einem Gespräch kam, geht aus dem Briefwechsel leider nicht hervor. Anna litt wie ihr Vater an Tuberkulose und starb kurze Zeit nach diesem.

Ehefrau Jettchen ist in Sorge

Seine Frau rät ihm ahnungsvoll, seine Kur zu verlängern, wenn es ihm möglich sei und der Arzt es für gut hielte. „Die schlimmste Zeit hast Du überstanden und auf Kosten mußt Du gar nicht sehen, die Gesundheit geht doch vor Alles. Wir sind doch beide noch so jung und können doch noch recht lange zusammen leben, die Kinder sind auch so besorgt um Dich."

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Betrieb an der Quelle VI im Kurgarten, dem heutigen Alten Kurpark. Holzstich aus dem Jahre 1875. Hier haben sich Stevecken und seine Bekannten öfters aufgehalten. (Repro: Gunther Krauskopf)

Stevecken wird kurmüde

Es wird ihm allmählich langweilig. Am 26. August bemerkt er: „Curgäste reisen jeden Tag viele ab, und wird das Häuflein immer kleiner und Soden ungemüthlicher. ... Glaube nur sicher und gewiß," schreibt er seiner Frau, „daß ich jeden Brief mit Freude begrüße und aus Langeweile 2 bis 3 mal durchlese."

Im Brief vom 1. September glaubt er feststellen zu können, daß seine Kur Erfolge zeige: „... der Husten ist fast ganz weg, er ist aber hartnäckig, denn bei der geringsten Veranlassung ist immer etwas Reiz da, was sich mit jedem Tag mehr verliert". Auch Dr. Bröcking hat gegen die Rückkehr nichts einzuwenden. Er schmiedet Pläne, daß ihm seine Frau ein Stück bis Königswinter entgegenkomme und beide noch Köln besichtigen könnten.

Am 2. September meint er: „Ich bin es hier herzlich leid, ...". Und im Nachsatz schlägt er seiner Frau vor: „Bringe uns ein Körbchen mit, damit wir in Bonn Trauben p. p. einkaufen können, hier ist alles fürchterlich theuer."

In seinem letzten Brief aus Soden, datiert am 9. September 1875, drückt sich seine ganze Ungeduld aus, endlich nach Hause zu kommen: „Liebes Jettchen! Gott sei Dank, daß dies der letzte Brief ist, den ich Dir von hier schreibe, ich habe es hier nun satt." Der Brief ist kurz gehalten, aber er vergißt nicht zu erwähnen, daß er den Pastor Lohoff in Höchst besucht hat und am Tag zuvor Wiesbaden. „Dort habe ich viel gesehen." Das Manöver ist noch nicht vorbei: „... heute ist bei Soden großes Biwack." Am Samstag, dem 11.9.1875, reist er von Soden ab und trifft sich am Sonntagmorgen mit seiner Frau in Königswinter zur gemeinsamen Heimreise.

Stevecken muß 1876 erneut zur Kur

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Das Haus „Thierarzt Haßler", Königsteiner Straße 60, Jahre später auch als „Metropole" bekannt. Hier nahm sich Stevecken 1875 ein Zimmer. Die Villa „Alleehaus", Brunnenstraße 9, in der er sich 1876 aufhielt, wurde 1972 abgerissen. (Foto: Gunther Krauskopf, August 2009)

Der scheinbare Heilerfolg in Soden hielt nicht lange an, denn im Frühsommer 1876 reiste er zu einer mehrwöchigen Kur nach Lippspringe. Inwieweit sie erfolgreich war, ist nicht bekannt. Jedenfalls schreibt er unter dem 24. August 1876 aus Soden, wo er mit seinem ebenfalls tuberkulosekranken Bruder Adolf „des Abends 1/2 11 ganz müde und hungerig", wohl am 22. August, ankam. In der vorgesehen Unterkunft, der Villa Westfalia, an der heutigen Alleestraße/Ecke Brunnenstraße konnten sie nicht unterkommen, da sie voll belegt war. Man verschaffte ihnen sofort in der Pension „Alleehaus " zwei Zimmer mit einem gemeinsamen Wohnzimmer und Balkon, von wildem Wein umwachsen. Die Woche kostete pro Person nur „2 1/2 Thaler, ein äußerst billiger Preis".

Das Mittagessen ließen sie sich aus der „Villa Westfalia" kommen. Es kostete nur 10 Silbergroschen, war aber ganz gut. „Des Abends können wir es gerade hier im Hause haben wie bei Haßlers, wir trinken hier viel Milch, die Leute haben Oekonomie [Landwirtschaft], sind damit billig, auch sind die Leute ganz gut." Die Pension „Alleehaus" befand sich Brunnenstraße 9, Ecke Wiesenweg und wurde um 1965 abgerissen und durch einen Wohnblock ersetzt. „Westfalia" und „Alleehaus" lagen nur weniger als 100 Meter voneinander entfernt.


Dr. Bröcking wird erneut konsultiert

Seiner Frau schreibt er im gleichen Brief: „Nun liebes Jettchen, die Hauptsache: eben war ich beim Doctor, er spricht sich nicht ungünstig aus und sagte, Lippspringe hätte mir keinen Schaden gethan, meine Lunge wäre freier wie früher, die wunde Stelle würde sich schon verlieren, ich habe merkwürdigerweise keinen Auswurf mehr, in 8 Tagen will er mich wieder genau untersuchen." Es war diesmal nicht heiß in Soden, sondern es regnete. Die Witterung war schlecht. Deshalb riet der Badearzt auch dazu, nicht zu früh aus dem Haus zu gehen und die Trinkkur erst später zu beginnen.

Bruder Adolf hat die gleiche Krankheit

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Das Mädchenpensionat der Professorentochter Marie Hillebrand in Neuenhain. Wilhelm Stevecken erwog, seine lungenkranke Tochter auf ein Jahr hierher zu schicken. Es kam nicht dazu. Das Haus wurde 1972 abgerissen. (Postkarte: Sammlung Krauskopf)

Dr. Bröcking untersuchte auch seinen Bruder. Das Ergebnis konnte nicht überraschen: „Adolf leidet am selbigen Hebel wie ich, Entzündung der rechten Lungenspitze, der Doctor sagte, da die Krankheit erst im Entstehen wäre, würde sie wahrscheinlich durch diese Cur schon beseitigt, Adolf fühlt sich ganz wohl, er hat schon ein ganz anderes Aussehen bekommen, er hat sehr guten Appetit und schläft die halbe Zeit." Eine glatte Fehldiagnose des Dr. Bröcking. Adolfs Tuberkulose war schon weit fortgeschritten. Ein Jahr später verstarb er.

Wieder finden sich Bekannte

„Als wir den ersten Morgen aufstanden trafen wir Kreine von Werne, der zufällig auch hier im Hause wohnt". Ein weiterer Bekannter, Dr. Baum, hatte ein Zimmer bei Dr. Bröcking gemietet. Gemeinsam trank man mit dem Badearzt „einige Flaschen Wein".

„Dr. Baum ist fast den ganzen Tag bei uns, er weicht seinem Hausherrn viel aus, denn es kostet ihn hier viel Geld, da er immer mit demselben im ersten Gasthofe verkehrt." Ein weiterer Bekannter stößt zu ihnen, Kranei. Und nachdem dieser einmal das gute und preiswerte Mittagessen für 10 Sgr aus der „Villa Westfalia" gesehen hatte, schließt er sich Adolf und Wilhelm an. Nun essen sie also zu dritt. Im Gasthof hatte Kranei dafür 25 Sgr bezahlt. Nach dem Abendessen gehen sie mit Baum in die Restauration, wo Wilhelm Stevecken im Vorjahr gegessen hatte.

Auch 1876 wenige Kurgäste

Von Dr. Bröcking erfuhren die Brüder Stevecken, daß sie preiswert wohnten, was ihnen auch klar war. Denn sie hatten, um die günstige Miete zu bekommen, angedeutet, sie gingen dann eben zu Haßlers. Darauf stimmten die Vermieter zu. Es waren Peter Uhrich II. und seine Frau Elisabeth, geb. Dinges, von denen in Steveckens Briefnachlaß eine Rechnung vorhanden ist.

Schlechtes Wetter verkürzt die Kur

Am 3. September 1876 schreibt Stevecken an seine Frau: „Wir haben eine traurige Woche verlebt, sehr viel Regen ...". „Wir denken schon bald an die Abreise und werden wohl in 8 Tagen damit im Begriff sein, ich bin es hier herzlich leid." „Die Curgäste sind hier dünn geworden. Das Sedanfest ist hier gar nicht gefeiert worden. Heute ist Kirmeß, wird auch nichts auf sich haben, denn bis gestern Abend war eine Bude hier."

Die Abreise wird angekündigt

Am 7. September 1876 kündigt Wilhelm Stevecken seine und des Bruders Rückfahrt über Koblenz, wo sie übernachten werden und sonntags weiter nach Köln reisen, an. Offensichtlich reisen ihnen ihre Ehefrauen Jettchen und Lina dorthin entgegen.

„Mit dem Doctor sind wir fertig, er hat uns gestern noch untersucht, gegen meine Abreise hat er nichts einzuwenden, Adolf soll aber unbedingt noch 14 Tage hierbleiben, er will dies absolut nicht. Mein Auswurf ist weg, Husten augenblicklich etwas, aber nur Erkältung, ...da es noch täglich hier regnet und wir doch mitunter davon erfaßt werden „Am 15. ds. [dieses] hört die Musick auf hier zu spielen, dann wird wohl alles gehen."

Wilhelm Steveckens Abschied von der Welt

Für den treusorgenden Ehemann und liebevollen Vater sollte bald der bittere Abschied von seinen Lieben kommen. Die ärztliche Kunst des Dr. Bröcking hatte ihm wie seinem Bruder keine Heilung bringen können, nur Linderung. Schon im Dezember des Jahres 1876 verschied er. Tochter Anna folgte ihm bald nach. Seine Frau Henriette muß eine vorbildliche Ehefrau und Mutter gewesen sein. Sie fand als Witwe noch einmal einen Ehemann.

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Eintritts- und Fahrkarten von oben nach unten:

- Eisenbahnfahrkarte 2. Klasse der Rheinischen Bahn vom 9.8.1875 von Langendreer nach Oberlahnstein.

- Tageskarte der Wiesbadener Kurverwaltung vom 8.9.1875.

- Links Abriß Wiesbadener Tramway (wahrscheinlich Pferdebahn) 25 Pfennige.

- Rechts Abriß Frankfurter Trambahn (Pferdebahn) 20 Pfennige.

- Eintrittskarte des Frankfurter Palmengartens 1875. (Familienarchiv Brandt, Münster, jetzt Stadtarchiv Bad Soden a.Ts.)

Aus:
MTK-Jahrbuch 2010
MTK-Jahrbuch 2010 002