Das Mainzer Domkapitel als Ortsherrschaft in Flörsheim und Hochheim
FRANZ LUSCHBERGER

Über 500 Jahre war das Domkapitel des Erzstiftes Kurmainz Landesherr in den Orten Flörsheim und Hochheim. Mit dem Übergang der beiden Gemeinden, die am Anfang das Dechaneiamt Mainz, später das domkapitelische Amt Hochheim bildeten, repräsentierte der Domdechant, Leiter der inneren Angelegenheiten des Kapitels, in diesem Verwaltungsbezirk als Amtmann oder Oberamtmann den Landesherrn. Die Domdechanten nahmen entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung der beiden Orte.

Im Königssunderngau gelegen, werden erstmalig Hochheim 754 und Flörsheim zwischen 780 und 817 als Flaritesheim in Urkunden genannt. Der Königssunderngau, ein Landbesitz zur Verfügung des Königs ausgesondert, wurde in jener Zeit von Grafen verwaltet, die vom König ernannt wurden und dessen Befehle für die öffentliche Sicherheit auszuführen, Abgaben und Steuern zu erheben, die Rechtsprechung auszuüben und Strafgelder und Bußen zu empfangen hatten. Nur dann war der Amtsgewalt dieser Gaugrafen eine Grenze gesetzt, wenn der König einem Bezirk innerhalb der Grafschaft eine Sonderstellung einräumte, deren sich häufig die geistlichen Herren mit ihrem darin liegenden Grundbesitz erfreuten.

Die Lehnsherren

Im 12. Jahrhundert wurden die Grafen des Königssunderngaues nicht mehr ernannt, die Grafschaftsverfassung verfiel, das Amt wurde erblich und haftete nicht mehr an einem geschlossenen Bezirk. Die erblichen Grafengeschlechter erhielten das Land zu Lehen, in dem die Kirche zu Höfen und Rechten, die Klöster und geistlichen Institutionen schon zu reichem Besitz gekommen waren. 1270 waren die Herren von Eppstein Herren von Flörsheim, als sie das „Dorff Viersheim" samt der Gerichtsbarkeit an das Mainzer Domkapitel verkauften. Damit wurde auch die Zuständigkeit des Landgerichts Mechtildshausen für das Dorf gelöst. Statt dessen führte der neue Landesherr das „halbe Schöffengericht", ein, das für Flörsheim die Hochgerichtsbarkeit ausübte. Richter war der vom Domkapitel ernannte Schultheiß, dem sieben Schöffen zur Seite standen. Für Hochheim dagegen, das sich im Besitz des Kölner Domkapitels befand und von diesem am 4. November 1273 dem Mainzer Domkapitel verkauft wurde, das nunmehr die Ortsherrschaft übernahm, war weiterhin die peinliche Gerichtsbarkeit in Mechtildshausen zuständig. Da hier die Grafen von Sponheim Lehnsherren waren, die Vogteigefälle erhoben, ihre Rechte als örtliche Gerichtsherren ausübten und die für das Lehen vereinbarten Gegenleistungen beanspruchten, blieben Streitigkeiten nicht aus, auch nachdem 1313 Sponheim zugunsten der Herren von Eppstein auf die Lehnsherrlichkeit verzichtet hatte.

Das Domkapitel

Das Domkapitel, von den „Geistlichen einer Bischofskirche" gebildet, hatte im Erzstift Mainz eine starke Stellung. Diese gegenüber den Erzbischöfen, die seit Willigis (975-1011) zugleich die geistlichen Oberhirten als auch in ihrer weltlichen Funktion Landesfürsten waren. Die Mainzer Erzbischöfe übernahmen dazu ab 1125 das für die deutsche Königswahl entscheidende Amt des Kurfürsten und nahmen bis in die napoleonische Zeit das Amt eines deutschen Erz- und Reichskanzlers ein. Das Domkapitel wählte den Erzbischof und erlangte in allen Bereichen der erzbischöflichen Verwaltung eine verhältnismäßig starke Stellung. Domkapitulare bildeten das oberste Gericht der Diözese, das nicht nur für Geistliche zuständig war, sondern auch in Zivilsachen tätig werden konnte. Ein Domkapitular war in Abwesenheit des Erzbischofs als Vertreter mit voller Befugnis ausgestattet. Die Beamten und Einwohner im Erzstift mußten dem Erzbischof und dem Domkapitel Treue schwören und waren beiden zu gleichem Gehorsam verpflichtet.
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Grundriß (1805) des Mainzer Domdechanei- bzw. Domherrenhofes in Hochheim, Kirchstraße (heute Staatsweingut). Hier war der Amtssitz des Domdechanten (Hess. Hauptstaatsarchiv Wiesbaden 3011, 3662 H).


Der Besitz des Domkapitels war beträchtlich und bestand zum überwiegenden Teil aus Grundeigentum. Andere Einkünfte kamen aus bestimmten Rechten der Domherren. Der Besitz war nicht einheitlich; Vermögensrechte standen sowohl den oberen Domherren wie Propst, Dekan, Kustos, Scholaster und Kantor zu wie auch den übrigen Domkapitularen Erträge anderer Vermögensteile. Der Propst, ursprünglich mit der obersten Leitung und Vermögensverwaltung des Kapitels betraut, wurde in seiner Bedeutung vom Dekan abgelöst, dem Leiter der inneren Angelegenheiten des Domkapitels.

Der Domdechant

Das Domkapitel ließ seine landesherrlichen Rechte in Hochheim und Flörsheim durch seinen Dekan wahrnehmen. Der Domdechant hatte seinen Amtssitz im Hochheimer Fron- und Domherrenhof, der zusammen mit den Präsenzhöfen - die Dompräsenzkammer war eine Zusammenfassung von Stiftungen, deren Erträge nicht nur den Domherren, sondern allen am Dom angestellten Geistlichen zustanden, wenn sie den Gottesdienst besuchten und Chordienst leisteten - und weiteren Anwesen mit Weinbergen und Ackerland in Hochheim und Flörsheim den ansehnlichen Besitz des Domkapitels und seiner Behörden repräsentierte. Daneben waren Stifte und Klöster im Amt Hochheim reich begütert.

Der Domdechant bediente sich häufig in seiner Funktion als Amtmann eines Stellvertreters, des Amtmannverwesers, der vom Domkapitel ernannt wurde. Auch die vom Domkapitel ernannten örtlichen Schultheißen konnten mit den Aufgaben des Amtmannes betraut werden. Der Amtmann nahm die Rechte und Interessen des Landesherrn wahr. Die peinliche Gerichtsbarkeit dürfte er erst nach 1600 ausgeübt haben, denn bis 1482 war noch das Landgericht Mechtildshausen und danach bis um 1600 das domkapitelische Vogteigericht in Bingen zuständig. Flörsheims Kriminalfälle wurden ab 1600 eigenartigerweise im kurfürstlichen Oberamt Höchst-Hofheim verhandelt. Vorher war ebenfalls das Binger Vogteigericht zuständig, das anstelle des halben Schöffengerichtes in Flörsheim getreten war.

Das Domkapitel legte großen Wert auf die ständige Präsenz des Domdechanten oder seines Vertreters in Hochheim und Flörsheim. Dieser hatte das Recht, bei Verhandlungen in gemeindlichen Angelegenheiten anwesend zu sein und die Ratssitzungen zu besuchen. Er kontrollierte die Gemeinden, war Berufungsinstanz für die örtlichen Gerichte, schlichtete Streitigkeiten und traf die Entscheidungen über die Steuererhebung. Wurden neue Schöffen berufen, so hatte das Domkapitel das Auswahlrecht, es folgte in der Regel den Empfehlungen des Domdechanten. Der Domdechant war Herbstherr. Während der Traubenreife beging er die Weinberge, er setzte den Beginn der Weinlese fest. Verständlich, daß er besonders besorgt um den ansehnlichen Weinbergsbesitz des Domkapitels war, außerdem bestand der größte Teil des Zehnten, der dem Domkapitel als Landesherrn zustand, in Weinlieferungen.
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Wappenstein des Domkapitels am Torbogen des ehem. Hochheimer Domherrenhofes in der Kirchstraße.

Die Verwaltung

Zum Amt Hochheim gehörte außer Flörsheim ab 1569 noch der Ort Astheim bei Trebur. Gerichtsschreiber, Domsekretär, allenfalls Zöllner und Physicus bildeten die Amtsverwaltung. Ein Amtskeller für die fiskalischen Belange ist nicht bekannt. Offensichtlich wurden diese Aufgaben in Mainz wahrgenommen. In den Gemeinden bildeten die Schultheißen, nach 1600 Oberschultheißen, und die Schöffen mit dem aus ihrer Mitte gewählten Unterschultheiß den Ortsvorstand. Dazu kamen die Geschworenen, auch gemeine Vorgänger genannt, die für bestimmte gemeindliche Aufgaben gewählten Bürgermeister, die Letzen- oder Viertelsmeister, Schreiber, Büttel, Kirchenjuraten, Feuerläufer, Feldgeschworenen, Flur- und Weingartsschützen, Schröter, Tor- und Nachtwächter, Hirten, Aicher, Brot- und Fleischschätzer, Fleischbeschauer und Mehlwieger. Die Letzen- oder Viertelmeister waren Vermittler für die Einwohner ihres Ortsviertels mit dem Ortsvorstand, die Kirchenjuraten nahmen die Aufgaben des Kirchenvorstandes wahr, waren aber auch Mitglieder des Ortsgerichtes, so des „Ungebotenen Ding" von 1654 bis 1695. Die Dienste der Schröter (Faßküfer) waren zeitweise ständige, zeitweise unter den Gemeindemitgliedern wechselnde.

                                                            Domdechant      Erzbischof

Berthold Graf von Henneberg
Jakob von Liebenstein

 

1474-1484
1497-1504

 

1484-1504
1504-1508

 

Uriel von Gemmingen
Johann Schweikhard von Kronberg
Emmerich Joseph von Breidbach zu Bürresheim

 

1505-1508
1595-1604
1758-1763

 

1508-1514
1604-1626

1763-1774

 


Das Amt Hochheim war neben dem Rheingau und Rheinhessen wegen seiner Weinberge, aber auch wegen der Nähe zu Mainz und der günstigen Verkehrslage ein Kleinod des Mainzer Domkapitels. So war hier ein begehrter Aufenthaltsort für die Domherren, die in den Sommermonaten gerne die vom Volk so genannte Dechantenruhe aufsuchten, ein zwischen Hochheim und Flörsheim im Distrikt „Kahlenberg" nahe dem Mainufer an einer Quelle befindliches, mit Kastanienbäumen bestandenes, schattiges Plätzchen. Es ist die nämliche Stelle, an der nach dem Besuch der Königin Victoria im Jahre 1850 dieser Monarchin zu Ehren 1854 ein Denkmal errichtet wurde.

Erzbischöfe und Statthalter

Im Rahmen dieses Beitrages ist es nicht möglich, die für das Amt Hochheim verantwortlichen Domdechanten, ihre Tätigkeiten und Leistungen und die Begebenheiten ihrer Zeit, die für die Entwicklung der beiden Orte von 1270 bis 1802 bedeutungsvoll waren, umfassend dazustellen. Immerhin wurden fünf der insgesamt 51 Ortsherren in der domkapitelischen Zeit zu Erzbischöfen und Kurfürsten gewählt.

Ein Domdechant hat nach dem Dreißigjährigen Krieg vortreffliche Aufbau- und Verwaltungsarbeit geleistet, die bis heute ihre Spuren hinterlassen hat, und als Statthalter des Erzbischofs im Pestjahr 1666 von Mainz aus dazu beigetragen, daß nicht noch mehr Menschen dem schwarzen Tod zum Opfer gefallen sind: Domdechant Johann von Heppenheim genannt von Saal (1653-1668).

Diesem Domdechanten wurde eine große Nähe zu seinem Amt und den Untertanen nachgesagt. Schon im Jahre seines Amtsantrittes erließ er in Hochheim eine erneuerte Feldmessereiordnung. Er hielt die „Feldmesserei und Steinsetzung der Feldgüter ganz notwendig" und ihm war „merklich daran gelegen, auf daß auch damit ordentlich und gebührlich umgegangen werde". In 15 Abschnitten sind alle Regeln für die Feldmesserei beschrieben, die „durch niemand anders als den dazu verordneten, geschworenen Landscheider oder Feldgeschworenen zu geschehen hat".

Für Hochheim und Flörsheim führte er 1654 das Gericht des „ungebotenen Dings" ein, das er des öfteren selbst abhielt. Er hörte die Beschwerden der Leute an, ließ sich über die Ortsverhältnisse unterrichten und prüfte die Verhältnisse neu zugezogener Bürger. Nach den Wirren und Grausamkeiten des Dreißigjährigen Krieges bemühte er sich, die alte Ordnung wieder herzustellen. Für unlautere Elemente kannte er keine Rücksicht, Übeltäter und Frevler erhielten willkürlich hohe Geldstrafen. Den Wiederaufbau der in den Kriegsjahren verwüsteten beiden Orte trieb er tatkräftig voran, auch den Neubau der Flörsheimer Pfarrkirche St. Gallus 1664 bis 1666, die trotz ständiger Renovierungsarbeiten im Krieg sehr gelitten hatte. Als er am Ostermontag 1665 an der Baustelle weilte, wurde das Kurfürstentum schon von der Pest bedroht. Sie forderte noch im gleichen Jahr ihre Opfer. Als sie sich 1666 in Mainz und Umgebung verbreitete, verließen Kurfürst, Adel und die meisten Domkapitulare die Stadt. Dagegen blieb der Domdechant zurück und nahm als Statthalter des Erzbistums anstelle des in Würzburg weilenden und auf Besserung der Lage hoffenden Kurfürsten Johann Philipp von Schönborn mit Umsicht und Ausdauer den Kampf mit dem schwarzen Tod auf.

Eine Reihe von Anordnungen und Maßnahmen sind diesem mutigen und couragierten Mann zu danken: die Universität wurde geschlossen, die Aufsicht an den Stadttoren verschärft, aus Ärzten, geistlichen und weltlichen Personen eine Gesundheitsbehörde eingerichtet, verseuchte Häuser gekennzeichnet und verschlossen, öffentliche Zusammenkünfte aller Art verboten, der Gottesdienst eingeschränkt, Hochzeiten und öffentliche Trauungen untersagt, Medikamente kostenlos ausgegeben, elternlos gewordene Kinder versorgt, die Testamentserrichtung erleichtert, die Zahl der Krankenpfleger erhöht, die Zahl der Totengräber vermehrt und gewisse Steuern erlassen. Auch mußten alle Haustiere abgeschafft werden und die Pfarrer täglich die Erkrankungen und Todesfälle in ihrem Bezirk melden. Diese und weitere Maßnahmen verhalfen dazu, die Pest Ende 1666 zum Erlöschen zu bringen. Immerhin sind nach den Eintragungen in den Kirchenbüchern und in den Protokollen der Gesundheitsbehörde in Mainz 2200 Menschen, etwa ein Viertel der damaligen Einwohner, gestorben, in Kastel und Gau-Algesheim je 500, in Flörsheim 250 und in Hochheim über 80. Noch heute wird in Flörsheim mit dem „Verlobten Tag" an diese schreckliche Zeit erinnert.

Neubeginn und Rückblick

Nach der Auflösung des Kurfürstentums Mainz und der Säkularisation der geistlichen Güter übernahm Fürst Karl Wilhelm von Nassau-Usingen 1802 die ihm zugesprochenen Orte Hochheim und Flörsheim und ließ sich in den darauffolgenden Monaten von den Einwohnern huldigen. Anfangs hatten die beiden katholischen Orte Besorgnisse wegen ihres Glaubens; als aber die nassauischen Kommissionäre beruhigende Erklärungen abgaben und versicherten, daß die Religion unangetastet bleibe und geschützt werde, war man vollkommen befriedigt. Es entstand sogar lebhafte Freude, denn die Einwohner erhofften nach der Abkehr von der hochadeligen Verfassung von Kurmainz eine bessere Vertretung der Menschen.
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Wappenstein des Domkapitels am Torbogen des ehem. Hochheimer Dompräsenzhofes, Kirchstr. 38.

Wurden die Erwartungen erfüllt? Noch lange Zeit erinnerte man sich an den Ausspruch „Unter dem Krummstab läßt sich gut leben". Gut leben in einer Feudalherrschaft, in Zeiten von vielen Kriegen, Nöten und Ängsten? Man mag sich daran erinnert haben, daß die geistlichen Staaten in der Barockzeit im allgemeinen mit ihren Untertanen rücksichtsvoller umgingen. Vom Chronisten ist jedenfalls überliefert, daß das Untertanenverhältnis zum Domkapitel und zu den Domdechanten ein gutes gewesen sein soll, besonders „in der letzten Zeit seiner Herrschaft". Mit diesem Beitrag wird die Erinnerung an ihre Zeit wachgerufen. Heute noch sind sie gegenwärtig in der „Domdechanei", der berühmtesten Hochheimer Weinbergslage, die sie angelegt und mit ihrem Namen versehen haben. So leben die Domherren weiter im funkelnden Rheingauer.
 

Literatur:

Theodor Schüler, Geschichte der Stadt Hochheim a. Main, Hochheim 1887
Irmtraud Liebeherr, Der Besitz der Mainzer Domkapitels im Spätmittelalter, Mainz 1971
Heinz   Leitermann,   Zweitausend  Jahre   Mainz, Mainz 1962

Aus: Zwischen Main und Taunus – MTK-Jahrbuch 1994 – mit freundlicher Erlaubnis des Autors