Sind die „Old Ladies" denkmalsreif?
Eine Betrachtung über die Bauten der Jahrhundertwende im Main- Taunus-Kreis
FRIEDRICH E. ROSENBERG

Jahrhundertwende - Gründerzeit. Die Zeit, - in der die Eisenbahnen die Pferdekutschen ersetzten - in der die Kolonialwarenläden sich mit Bananen füllten - die Städte zu Großstädten und die Dörfer um die Städte zu Vorstädten wurden. Zu dieser letzten Entwicklung gehörte auch der Main-Taunus-Kreis.

Der östliche Teil des heutigen Main-Taunus-Kreises mit den Städten wie Eppstein, Kelkheim, Schwalbach gehörte damals zum Obertaunuskreis. Landrat von Marx versuchte, mit einem Besiedlungsprogramm ein Stück von dem wachsenden Wohlstand der Städte auch speziell für diesen Teil des Taunusrandes zu ermöglichen. Mit der Werbeschrift „AUF IN DEN TAUNUS" wollte er „. . . dem vom modernen Leben angestrengten Großstädter eine Stätte der Erholung und Zufriedenheit" schaffen. Dieses 1908 erschienene großformatige, 150-seitige Buch gibt einen überaus interessanten Einblick in die Situation der Zeit, die wir heute Jahrhundertwende nennen. Daher sollen Auszüge aus dieser Veröffentlichung, bei dem es hauptsächlich um das Thema Neubauten geht, das Entstehen der ersten großen Ortserweiterung der Neuzeit beschreiben.

„Es war eine neue und eigenartige Völkerwanderung, die mit dem Emporblühen der Großindustrie sich entfaltete, das flache Land entvölkerte und die Großstädte überflutete. Wenn wir freilich sehen, wie in England in der Umgebung der Großstädte, in erster Linie Londons, auf Meilen hinaus das Land mit Ansiedlungen jeder Art, von den herrschaftlichen Besitzungen bis herunter zu den kleinsten Villen und Cottages geradezu übersät ist, die dem Städter nicht nur während einiger Sommermonate, sondern das ganze Jahr über zur Erholung dienen, so müssen wir uns eingestehen, daß bei uns der Zug der Städter nach dem Land zur Zeit noch ein schwacher ist."
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Entwurf für ein Wohnhaus mit 175 m2 zum Festpreis von 16.000 Mark.

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Entwurf für ein Wohnhaus mit 196 m2 zum Festpreis von 18.000 Mark einschließlich Terrasse und Einbaumöbel.
 

Die Schwierigkeiten, mit denen die Großstädter, in unserem Falle die Frankfurter, konfrontiert waren, wenn sie dem englischen Beispiel folgen wollten, beschreiben folgende Auszüge, wobei die gewählte Sprache ebenfalls als ein Attribut der Zeit mitgesehen werden sollte.

„Die erste Schwierigkeit entsteht bereits bei der Erwerbung des Grund und Bodens. Man hat sich ein idyllisches Plätzchen in herrlicher Lage mit schöner Fernsicht in der Nähe des Waldes ausgesucht; man hat die derzeitigen Besitzer ausfindig gemacht und beginnt, wegen Ankaufs zu verhandeln. Bei dem hier bestehenden geteilten und zerstückelten ländlichen Kleinbesitz erfährt man zu seinem Schrecken, daß man es mit einem Dutzend Verkäufern zu tun hat. Mit dem ersten wird man zu einem mäßigen Preis einig, der zweite und dritte verlangt schon bedeutend mehr, die übrigen stellen, in der Erkenntnis, daß ihre Parzellen für die Arrondierung unbedingt erforderlich sind, fast unerschwingliche Preise . . . Sind aber erst diese Schwierigkeiten nach langen Verhandlungen und schweren Opfern überwunden, dann kommen die Verhandlungen mit den Gemeinden wegen Anlegung der Wege, Wasser, Licht etc."

„So kommt es, wie gesagt, daß eine große Anzahl Derjenigen, die sich am Lande anzusiedeln wünschen, die aber die vielen Mühen scheuen und sich auch nicht mit unbegrenzten Summen festzulegen wünschen, von ihrem Vorhaben abstehen und dem Taunus fernbleiben… Daß dadurch die Leute unserer Gegend fernbleiben, denen mehr wie anderen der Aufenthalt in gesunder Gegend not täte, die durch ihre Berufsarbeit stark in Anspruch genommen werden, sich nach häufiger, wenn auch kurzer Erholung sehnen, ist doppelt bedauerlich, sowohl in deren Interesse als auch in dem der Gemeinden. Sie wären nicht in der Lage, in den verschiedenen Bereichen Einfluß zu gewinnen, sie kämen auch für die steuerliche und finanzielle Kräftigung der Gemeinden in gewichtigem Maße in betracht - wohl ebenso sehr wie die zuziehenden Großkapitalisten. Denn wenn letztere auch durch den teueren Ankauf von Land, durch Errichtung kostspieliger Landhäuser Einzelnen einmalige große Vorteile zuwenden, sie bleiben vereinzelt, sie suchen gerade durch möglichste Ausdehnung ihres Besitzes eine stärkere dichtere Ansiedlung hintanzuhalten und wie häufig richten sie ihren Aufenthalt so ein, daß sie nicht zur Steuer herangezogen werden können und decken nicht einmal ihren Konsum bei den angesessenen Gewerbetreibenden."

„So willkommen diese Herrschaften uns immerhin sind, was wir jedoch vor allem wünschen müssen, ist, Leute des Mittelstandes heranzuziehen, die hier einen größeren Teil des Jahres, womöglich das ganze Jahr hindurch leben, unsere Gewerbetreibenden in Nahrung setzen, an unserem Gemeindeleben teilnehmen und unsere Aufwendungen mit tragen helfen."

Mit Fotos, lokalen Informationen und Stadtplänen wirbt die Schrift für die Vorteile des Taunusrandes. Diese Vorzüge werden nicht nur durch die hervorragende Lage gerechtfertigt, sondern insbesondere auch durch den „… regelmäßigen Besuch Seiner Majestät des Kaisers am Taunus". Im Anhang dieser Schrift werden den Interessierten noch Beispiele von Wohnhäusern gezeigt, von denen zwei wiedergegeben sind. Besondere Nostalgie für die „gute alte Zeit" entsteht beim Studium der Baukosten von damals.

Wir finden die Bauten der Jahrhundertwende heute meist in der Nähe der Bahnhöfe. Die Bahnhöfe sind oft der Beginn der baulichen Ortserweiterung und sind ein Teil dieser Entwicklung. In jedem Ort unseres Kreises gibt es Bauten dieser Zeit. Es ist anzunehmen, daß die Bevölkerung diesen „Neubauten" besondere Beachtung schenkte, denn auf alten Postkarten werden diese Bauten als Sehenswürdigkeiten der Stadt herausgestellt.

Innerhalb des Main-Taunus-Kreises unterscheiden sich die Bauten durch ihre Lage. Die Jahrhundertwendebauten, die sich in den Orten am Taunusrand befinden, zeigen bevorzugt Erker, Giebel und Türme unter Verwendung von Motiven des Fachwerkbaus. Die Bauten entlang dem Main zeigen bei ihren Schmuckformen Ornamente aus dem Ziegel- und Bruchsteinbau. Durch diese Anpassung wurde ein Kompliment an die vorhandene gewachsene Architektur des Ortes gegeben.
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Türgriff eines Hauses im Lorsbachtal.

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Detail eines Hauses in Sulzbach (1906). Beispiel der Umsetzung eines Jugendstilornaments in Backstein.

Teilansicht eines Hauses
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in Hofheim mit Balkon und Erker, die streng gegliedert sind.
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Haus in Kelkheim: eine durch Turmanbauten und Balkone reich gegliederte Villa.
 

Bewertet man die Bauten der Jahrhundertwende weiterhin nach heutigem Kenntnisstand, so war der Maßstab durch die unverhältnismäßig hohen Bauten ein städtebauliches Problem. Den Bauten der alten Ortskerne lagen kleine, niedrige Räume zugrunde, während die Jahrhundertwende ganz hohe und große Räume bevorzugte. Durch starke Gliederung wurde jedoch meist erfolgreich versucht, diesem Mißverhältnis zu begegnen. Hoher Baumbestand wurde inzwischen zum besonderen Kennzeichen dieser Bauten. Die frühen Villen erscheinen uns heute als kleine, dunkelgrüne Parks.

Durch Terrassen, Loggien und Veranden - alles Bauelemente aus den südlichen Ländern - wurde die Beziehung des Hauses zum Garten betont. Einflußreich waren sicher auch die Vorbilder der benachbarten Bäderstädte, die schon früher mit dieser Naturbeziehung angefangen hatten. Die Ausrichtung des Wohnens zur Sonne stand damals noch nicht so im Mittelpunkt der Entwurfsideen. Es war immer die Straßenfront, die das Haus von seiner besten Seite repräsentierte, ohne Beachtung der Himmelsrichtung. Repräsentation war auch sicherlich ein Merkmal, das noch in die Zeit fiel, die wir auch die „Wilhelminische" nennen. Auch die Bauten reflektierten den vorherrschenden Konservatismus dieser Zeit.

Im Gegensatz hierzu stand der Jugendstil, der die progressiven Ideen des Wohnens und Gestaltens auf sich zog. Bauten des Jugendstils sind in Deutschland selten. Im Main-Taunus-Kreis gibt es kein besonders erwähnenswertes Beispiel. Natürlich waren die Grenzen der Stilrichtungen fließend. Ideen des Jugendstils wurden teilweise auch in den Jahrhundertwendebauten übernommen, in den Vorstädten stärker als in der Stadt. Insbesondere betraf das die Bauteile, die von Künstlern bearbeitet wurden, wie Balkongeländer, Türeingänge und vor allem Bleiverglasungen.

Von der geplanten Besiedlung der Vorstädte dieser Zeit wurde nur ein kleiner Teil verwirklicht. Der Erste Weltkrieg beendete die Entwicklung im Anfangsstadium. Für die Entwicklung der Städte unseres Kreises stellen diese Bauten jedoch eine wichtige Epoche dar. Sie sind der Beginn der neuen industrialisierten Zeit. Sie zeigen den Charakter der Unverwechselbarkeit und ein hohes Maß von handwerklichem Können. Deswegen müssen diese „Alten Damen" - wie die Villen dieser Zeit im englischen genannt werden - erhalten und behutsam behandelt werden.

Aus: Zwischen Main und Taunus – MTK-Jahrbuch 1994 – mit freundlicher Erlaubnis des Autors