Ehemalige Synagogen im Main-Taunus-Kreis
Orte jüdischen Lebens und Glaubens
WOLFGANG ZINK

Zentrum und Sitz jüdischen Lebens wie Glaubens waren auch im Main-Taunus-Kreis zu allen Zeiten die Familie und die Synagogen. Sieben Synagogen gab es im heutigen Kreisgebiet um 1850: in Bad Soden, Flörsheim, Hattersheim, Hochheim, Hofheim, Niederhofheim und Wallau. Zwei Synagogen zählen dazu, die heute außerhalb des Kreisgebietes liegen: in Breckenheim und Höchst. Noch 1770 gab es eine weitere in Okriftel. Juden lebten aber auch in: Delkenheim, Diedenbergen, Eddersheim, Eppstein, Eschborn, Igstadt, Kriftel, Langenhain, Unter- / Oberliederbach, Lorsbach, Marxheim, Massenheim, Medenbach, Münster, Neuenhain, Nordenstadt, Vockenhausen, Weilbach, Wicker und Wildsachsen.

Nun konnten Juden nicht überall, wo sie irgendwann lebten, einfach eine Synagoge eröffnen. Dazu war mindestens eine „Kehilla" (= Gemeinde") von 10 Männern (= Minjan), notwendig. Als z. B. in Bad Soden 1780 oder Niederhofheim 1908 kein Minjan mehr zustande kam, mußten die Synagogen schließen, die Sodener Juden nach Niederhofheim und die Hattersheimer z. B. nach Hofheim gehen. Und als 1788 die Hofheimer Juden eigene G'ttesdienste abhalten wollten, mußten sie zwei Männer aus Diedenbergen (= jüd. Gemeinde Wallau) „hinzukaufen", die „Restgemeinde" von acht Männern in Hattersheim zwei Juden aus Okriftel. Selbst wenn jedoch wie 1761 in Okriftel und 1835 in Massenheim und Bad Soden ein Minjan vorhanden war, durften sie nicht: die Finanzierung mußte gesichert sein und die christliche Obrigkeit Lage und Bau gestatten. Die lehnt zunächst z.B. das Okrifteler wie Sodener Gesuch ab; und das Massenheimer Gesuch generell.

Ein zweites Problem: eine Synagoge ist auch im theologischen Sinn keine Kirche, wie schon die Namen verraten. Das griechische „synagogae" ist eine Übersetzung des hebräischen „Beth HaKnesseth" und das heißt: „Haus des Zusammenkommens". Das christliche „Kirche" ist ein Lehnwort, das vom griechischen „kyriosarchae" herkommt, das wiederum nichts anderes als die Übersetzung des jüdischen Namens für den Tempel ist. Dementsprechend haben Christen ihre Kirchengebäude innerlich und äußerlich stets als Nachfolger des Tempels wie als „heiliger Ort" verstanden, Juden aber ihre Synagogen nicht. Heilige Orte im Judentum sind drei: der ehemalige Tempel, die Friedhöfe und das Erez Jisrae'el (= Land Israel). Das Ganze wird noch komplizierter: eine Synagoge bedarf keines eigenen Gebäudes.

Auch ein geeigneter Raum in jedem jüdischen Privathaus konnte „Synagoge" sein: In Flörsheim bis 1718, Okriftel 1765-1776, Wallau bis 1835, Höchst bis 1806, in Breckenheim bis 1835. In Hochheim diente 1800-1869 gar ein Stall als Synagoge.

Was ist nun eigentlich eine Synagoge? Welche Namen, Funktionen hatte sie im Lauf der jüdischen Geschichte, welche im Main-Taunus-Kreis? Gab es jüdisch-religiöse Vorschriften für ihre Lage und Architektur? Gab es einschränkende Gesetze der christlichen Obrigkeit? Beginnen wir, diese und andere Schlüsselfragen zu beantworten, durch die die „Heimatgeschichte" der Synagogen im Main-Taunus-Kreis erst voll verständlich wird.

Synagoge und Schabat

Archäologisch ist die Existenz von Synagogen durch eine Tonscherbe aus Eilath schon für das 6. Jahrhundert v.d.Z. mit der Inschrift: „Beth Kenissa bi Jeruschalajim" (= Synagoge in Jerusalem) nachgewiesen. Dies deckt sich mit einem anderen Hinweis im Talmud, die in der Bibel häufig erwähnte „Versammlung der Weisen" aus der Zeit vor dem Propheten Jezechiel (= Hesekiel) um 580 v. d. Z. sei der Ursprung der Synagoge.

Nun war zu Zeiten der Tempel das dortige Erscheinen zur Opferung, Abgabe des Zehnten, an den drei Wallfahrtsfesten (= Pessach, Schawuot/Wochenfest, Sukkot/Laubhüttenfest) und am Jom Kippur (= Versöhnungstag) allen Juden biblisch geboten (3. Mose 23). Dies erwies sich aber in der Praxis als undurchführbar, weil sonst z.B. zur Erntezeit ganze Dörfer und Landstriche entvölkert gewesen wären. Deshalb wurde es Sitte, aus jedem Ort eine Delegation zum Tempel in Jeruschalajim zu entsenden, während zuhause zu dem Zeitpunkt, an dem die Opferung vorgesehen war, eine Gebetsversammlung stattfand. Das ist ein Entstehungsmotiv der Synagoge. Ein zweites war der Wunsch, das tägliche Morgen-, Mittag- und Abendgebet nicht nur alleine, sondern in Gemeinschaft zu sprechen und die Feier der Feste nicht nur im Kreis der Familie, sondern mit anderen Dorfbewohnern zu begehen. Dazu genügte bei der Klimatik Israels ein zentraler Treffpunkt im Freien. Nur: In der winterlichen Regenzeit war ein geeigneter Raum erforderlich, der die Beter fassen und in dem man zugleich regelungsbedürftige Dorfangelegenheiten besprechen konnte. Dieser Versammlungsort mußte bestimmte geographische Voraussetzungen erfüllen, die jedwede Verletzung religiöser Gebote ausschlössen, wie z.B. das Gebot der Schabatheiligung. Zu dieser gehörte nicht nur das später ins Christentum übernommene totale Arbeitsverbot, der Umgang mit Geld z.B., sondern auch das Gehen über Stadtgrenzen oder bestimmte Maximalentfernungen hinweg. So mußte der zu wählende Raum unter Einhaltung der biblischen Lebensregeln für alle zu Fuß erreichbar sein. Fahren hieß ja, Tieren den ihnen vom Ewigen selbst zugestandenen Schabat, Ruhetag, zu nehmen (vgl. 2. Mose 21,10).

All dies zu beachten, fiel insbesondere Landjuden schwer, dennoch wurde es - wann immer möglich - versucht. So war die Hofheimer Synagoge im Wehrturm an der ehemaligen Stadtmauer untergebracht, um den bis etwa 1840 üblichen Leibzoll beim Betreten der Stadt an Schabaten, Fest- und Feiertagen zu vermeiden. Aus demselben Grund wollten 1761 die isenburgischen Okrifteler Juden nicht länger ins kurmainzische Hattersheim: dazwischen lag die Grenze mit Steuern und Leibzoll. Um 1800 wollten die Sodener Juden nicht mehr ins reichsritterliche „Ausland" nach Niederhofheim. Besonders schwer hatten es die Neuenhainer Juden, die „amtlich" zur Königsteiner Judengemeinde gehörten. Deren Synagoge in Falkenstein lag außerhalb jeder Schabat- und Festtagsgrenze; das nähere Soden hatte seit 1780 die Synagoge geschlossen.

Besondere Bedeutung erhielt die Synagoge bei jeder Entweihung und Zerstörung des Tempels oder im Falle der Galuth (= Verbannung), wie es 720 v.d.Z. nach der Vernichtung des Königreich Israel, 586 v.d.Z. nach dem Untergang des Königreiches Juda, 168 v.d.Z. durch die Griechen, 70 und 135 n. d. Z. durch die Römer geschah.

Mit dem Bau des 2. Tempels ab 444 v. d. Z., wurden unter Esra und Nechemjah (= Nehemia) die drei Grundelemente der Schabatfeier festgehalten: Amidah, das zentrale, im Stehen gesprochene 18-Bitten-Gebet jedes G'ttesdienstes, Kiddusch, der besondere Schabatsegen über den Wein, Havdala, der Unterscheidungssegen zwischen Schabat und Alltag. Auch das öffentliche Vorlesen / Vorsingen der Thora an Schabat stammt - bis heute gültig - aus dieser Zeit und wird um 165 v. d. Z. als Teil des G'ttesdienstes mit dem Singen bestimmter Lobpsalmen erwähnt (1. Makk. 3,45/4,24). Mit diesen Grundelementen jeder G'ttesdienstordnung wird zum einen die theologische Verbindung zwischen Schabat und Synagoge hergestellt. Zum anderen wird klar, daß Synagogen inner- und außerhalb Israels zeitgleich zum 2. Tempel existierten, wie Josephus, der berühmte, antike Geschichtsschreiber, Evangelien und Apostelgeschichte es berichten. Zur Zeit der Zerstörung dieses Tempels 70 n. d. Z. gab es allein in Jeruschalajim 394, selbst im heutigen Marokko, Irak und in Rom wurden Synagogen nachgewiesen.

Da die Errichtung eines 3. Tempels nach den Worten der Propheten dem kommenden Meschiach (= Messias) und seinem Zeitalter vorbehalten bleiben muß, hatte diese letzte Zerstörung entscheidende Folgen für die Familie und Synagogen in Festfeier und Gebet: die talmudischen Gelehrten erklärten den häuslichen Tisch zum Ersatz des Tempelaltars und das Gebet in der Synagoge zum Ersatz für Opfer. Wir Juden waren wieder in Glaubensformen vor der Existenz der Tempel zurückgeworfen. Aber es galt zugleich, die Erinnerung an diese sichtbare Mitte jüdischen Glaubens für zukünftige Generationen auch sichtbar zu bewahren. Aus dem einen Zentrum wurde in die vielen Mittelpunkte eingefügt:

- Als Ersatz für die mit der Zerstörung 587 v. d. Z. entwendete Bundeslade, darin die steinernen Tafeln Mosche Rabbenus mit den 10 Geboten, wurden die bisher lose aufbewahrten Thorarollen in einem zunächst mobilen Schrein (= Aron Kodesch) verwahrt, dessen Türen von einem reich bestickten Vorhang (= Parochet) verhüllt werden, der einstmals im Tempel den Blick auf die Bundeslade verhüllte.

- Später erhielt dieser Schrein seinen festen Platz an der Ostwand der Synagoge durch eine fensterlose Nische (in Deutschland erstmalig in Speyer um 1100 belegt), der an das fensterlose Allerheiligste des Tempels erinnerte.

- Das „Ner Tamid" (= Ewiges Licht) des Tempels wird fester Bestandteil jeder Synagoge; sie erhalten, dem Frauenhof des Tempels entsprechend, Galerien, um Frauen die G'ttesdienstteilnahme zu ermöglichen.

- Wie im Tempel wird nun auch in den Synagogen das Schofar (= Widderhorn) zu den vorgeschriebenen Festtagen geblasen.

- An Sukkot erscheint man nun mit dem biblisch gebotenen Lulav (= Feststrauß aus Zweigen der vier Pflanzengattungen: Myrte, Dattelpalme, Bachweide sowie Zedratzitrone = Etrog) zum G'ttesdienst in der Synagoge statt im Tempel.

- Die Nachbildung und religiöse Benutzung ritueller Geräte des Tempelkultes, wie z.B. des 7-armigen Leuchters, wird verboten.

- Am 9. Av (= Juli/August) wird ein Fasttag zur trauernden Erinnerung an die an diesem Tag und Monat erfolgte Zerstörung des 1. wie 2. Tempels in den jüdischen Festkalender eingeschaltet.

Mit dieser Erklärung wird auch die mobile „Heiligkeit" einer Synagoge verständlich: waren Minjan (10 männliche Beter ab dem 13./14. Lebensjahr) und Aron Kodesch im Raum, dann war dieser „Synagoge". Ohne Minjan und Aron Kodesch war jedes Zimmer nur ein Raum und eine Synagoge nur ein Gebäude. Deshalb konnten jüdische Gemeinden im Gegensatz zum heiligen Ort „Friedhof" Privatgebäude kaufen oder mieten und zur „Synagoge" umbauen. Sie durften sogar ehemalige Synagogen auch an Nichtjuden wieder verkaufen. Im Main-Taunus waren die Wallauer und Breckenheimer Beträume z. B. noch 1859 „angemietete Stuben", wie der zuständige Bezirksrabbiner Dr. Süßkind aus Wiesbaden feststellt. Wiederverkäufe an Nichtjuden fanden beispielsweise 1869 in Hochheim und um 1918 in Niederhofheim statt.

Die „Zwangsverkäufe" der Jahre 1935-1938 sind an dieser Stelle aus gutem Grund bewußt ausgelassen, weil diese eigentlich sittenwidrig waren und deshalb - wo möglich - „rückabgewickelt" werden mußten, wie z.B. in Hochheim nach 1945.
Aus heutiger Sicht sind die Synagogenabrisse in Niederhofheim/1963, Bad Soden/ 1974 mehr als bedauerlich.

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 Die wohl 1734 erbaute Synagoge in Niederhofheim (im Bild rechts) kam nach dem Ersten Weltkrieg in Privatbesitz, Abbruch 1962/63.

Namen, Lage und Funktionen jüdischer Gebetshäuser

Heimatgeschichtliche Verwirrungen entstehen dadurch, daß die jeweilige Verwaltung unabhängig von den präzisen jüdischen Namen in ihren Akten und Katastern „offizielle" Begriffe verwandte, die jeweilige Funktionen eines Raumes / Gebäudes nur unvollständig wiedergaben und sich im Lauf der Zeit verändern konnten. Die meist bitterarmen jüdischen Landgemeinden des ausgehenden Mittelalters konnten sich, wie im Main-Taunus-Kreis, ein eigenes G'ttesdienstgebäude nicht leisten. So bestand ihre Synagoge aus einer Stube, im Jiddischen „Schtibl" (= Stübchen), das in einem Privathaus untergebracht war, oft im Obergeschoß (Hochheim/Höchst/Wallau), weil schon Daniel (586 v. d. Z.) im oberen Stockwerk betete (6,11). Offiziell hieß dieses Beth Tefilla (= Gebetshaus) Betstube, Betraum, Betsaal oder gar „Betlocal"; „Bethaus" in Höchst. Dieser Name bedeutete eine Verkürzung der Funktion: stets war dieser Raum zugleich Synagoge, Versammlungsort für Vorstand und Gemeinde. Schon zu Zeiten der Makkabäer (ab 165 v. d. Z.) wurden Synagogen auch als Beth Midrasch (= Haus des Lehrens) benutzt, obwohl es eigene „Lehrhäuser" gab. Im Mittelalter hieß dieser Raum dann „Cheder" (= Zimmer, Stube), in Jiddisch: „Schil" / „Schul", christlicherseits „Judenschule". De facto diente er zugleich als Bibliothek, in der nicht nur die „Siddurim" (= Gebetbücher) und „Machsorim" (= Gebetbücher für hohe Feiertage), Urkunden der Gemeinde, „Memorbücher" (= Erinnerung) mit den Namen aller Märtyrer und verstorbenen (1746 in Wallau, 1852 in Flörsheim bezeugt), „Chumaschim" (= 5 Bücher Mosches mit den wichtigsten rabbinischen Kommentaren), Talmudausgaben oder der „Schulchan Aruch" (= Lehrbuch zu allen Fragen jüdischen Glaubens) standen. Dort wurden auch jüdische Kinder im „Aleph-Bet" (= Alphabet), der hebräischen Sprache, Thoralesen und Erlernen der vielen Segenssprüche, in Alltags- und Festbrauch wie in jüdischer Geschichte unterrichtet. 1857 sah z.B. der Niederhofheimer Stundenplan folgende Fächer vor:

Sonntags 13h Religion, 14h Thoraübersetzung, 15h Hebräische Sprache, 16-17h Biblische Geschichte; mittwochs 13h Religion, 14h Gebetsübersetzung, 15h Biblische Geschichte 16-17h Leseübungen und Segenssprüche.

In Flörsheim fanden bis 1672 G'ttesdienst, Versammlungen und Unterricht in einem solchen Raum eines Privathauses statt, in Höchst, Albanusstr. 2 von ca. 1775-1806 („Judenhaus"), in Okriftel von 1765-ca. 1774, in Hochheim, Neudorfstr. 8 (ca. 1800 bis 1869: „Juddeschul"), ebenso in Wallau, Enggasse 4, bis 1886 („Judenschule") und Breckenheim ab 1772.
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Grundriß der 1870 erbauten Synagoge in Hochheim, Rathausstraße.

Seit etwa 300 n.d.Z. dienen solche Räume auch als „Beth Din" (= Haus des Gerichts). Dort wurden von den juristischen Institutionen jüdischen Glaubens: Rabbinatsgremium und Gemeindevorstand, religiöse und weltliche Streitigkeiten geregelt, Urteile gesprochen und Strafen verhängt, z.B. wegen Besitz, Geschäften, Ehevertrag und -Scheidung, Mißachtung halachischer (= mündliche Lehre) Vorschriften, der G'ttesdienstordnung u.a.m. 1788 gab es z. B. zwischen den Gemeinden Hofheim und Hattersheim Streit, in Niederhofheim 1734, Hochheim 1840, Wallau 1847 aktenkundig gewordene Raufereien und lautstarkes Gebrüll während G'ttesdiensten, die jüdischer, später staatlicher Gerichtsbarkeit bedurften.

Wie z. B. die Niederhofheimer „Judenschulordnung" 1734 und oft ein 8- oder 12-zackiger Traustein an der Gebäudeaußenwand bezeugten, fanden auch Hochzeiten im Synagogenhof statt. Kamen fremde, insbesondere arme Juden und waren ohne Bleibe, dann wurden sie dort verköstigt und übernachteten darin. Dies ist nichts Außergewöhnliches, denn an Jom Kippur ist es heute noch für fromme Juden Brauch, die ganze Nacht fastend und schlafend, an Schavuoth lernend in der Synagoge zu verbringen, an Schabat, Pessach und Sukkot fröhlich essend und trinkend, an Purim sich betrinkend, an Simchat Thora mit den Thorarollen tanzend oder Chanukka mit Glückspiel um Geld religiös zu feiern.

Generell wurden Synagogen in unmittelbarer Nähe von „lebendigem Wasser" (= Bachläufe, hohes Grundwaser, Quellen) angelegt, um eine wichtige Zeremonie des Neujahrsfestes vollziehen oder gar eine „Mikwe" (= Judenbad) im Keller ausheben und so auch hygienischen Geboten jüdischen Glaubens entsprechen zu können. Dies ist sofort auffällig in Niederhofheim und Höchst, wo die Jüdische Gemeinde 1806 den Badstubenturm der Stadt neben der Mikwe kauft und zur Synagoge umbaut.

Da die nichtjüdische Obrigkeit bei der Genehmigung der Einrichtung jüdischer Beträume deren religiöse Vorschriften nicht interessierten, wurden die bis etwas 1850 ausschließlich orthodoxen Juden auch im Main-Taunus-Kreis manchmal gezwungen, an nicht genehmigter Stelle G'ttesdienste abzuhalten. Diese hießen dann im Amtsdeutsch „Winkelg'ttesdienste" und das Gebäude „Winkelsynagoge". Der älteste Höchster Betraum war ein solcher Fall: 1779 gehörten die Höchster Juden zur Gemeinde Niederhofheim, hielten aber dennoch in der Albanusstraße nachweislich G'ttesdienste ab. Wurde in einem Nebenort einer jüdischen Gemeinde ein nichtoffizieller, zweiter Betraum eingerichtet, war dies eine „Privatsynagoge", wie z. B. in Okriftel 1765, Breckenheim 1772 und nach dem Verbot des Amtsvogtes in Hattersheim 1788. Jüdischer-seits gab es natürlich keine entsprechenden Ausdrücke: entweder waren Minjan und Thoraschrein vorhanden, dann waren G'ttesdienst und Betraum aus jüdischer Sicht „koscher", also „legal". Fehlte eines von beiden, konnte auch nichts stattfinden. Deshalb „kauften" ja 1788 Hattersheim und Hofheim je zwei Juden von „auswärts", später auch Hochheim.

„Synagoge" ist also ein Sammelbegriff für einen multifunktionalen Raum. Außer als Beth Tefilla, Bet Midrasch wurde sie benutzt als:

- Versammlungsort zur Besprechung von Angelegenheiten, für Sitzungen,
- Gebetsraum für G'ttesdienste,
- Bibliothek und zur Aufbewahrung religiöser Geräte,
- Ort für private Feste wie Hochzeit, Bar Mizwa (= daher Konfirmation) sowie Festtage des Glaubens mit Trinken, Essen, Musik, Tanz, Glücksspiel.
- Schule und Lernzentrum für Kinder, Jugendliche und Erwachsene,
- Verhandlungsort für juristische Verfahren, Gerichtsstätte,
- Wohnung für den Schamasch / Schammes (= Gemeindediener) wie in Hochheim,
- Herberge für fremde, arme, durchreisende Juden,
- Küche zur Zubereitung koscherer Speisen, insbesondere für den „Oneg" / „Kiddusch" (= Abend- und Mittagessen) an Schabat und religiösen Festtagen wie zu Familienfeiern,
- Rituelles Reinigungszentrum für Menschen, bestimmte Geschirre und Geräte. Synagogen waren also auch im Main-Taunus-Kreis neben der Familie das kollektive Zentrum jüdischen Lebens und Glaubens für Kinder und Erwachsene. Zu G'ttesdiensten waren - anders als im Christentum
- keine Rabbiner oder Chasan (= Vorsänger) notwendig. Ein G'ttesdienst begann, wenn 10 Männer anwesend waren. Jeder männliche Jude konnte als Vorbeter fungieren und hatte das dazu erforderliche Wissen zu seiner Bar Mizwah erlernt und einige dieses Lernen lebenslang fortgesetzt. Daß die Praxis dennoch ganz anders aussah, hing von persönlichen Fähig- oder Unfähigkeiten ab, die jedem Menschen eigen sind. In allen jüdischen Gemeinden des Main-Taunus-Kreises übten seit frühester Zeit meist die demokratisch gewählten Gemeindevorsitzenden (= Vorsteher) das Amt des Vorbeters / -sängers ehrenamtlich aus. Erst mit der Anstellung eigener Religionslehrer wurde diesen häufig dieses Amt mitübertragen. Gleichzeitig konnten sie auch als Maschkiach/Schochet (Schächter für rituelles Schlachten), wie in Hochheim, oder als Mohel (= Beschneider für jüdische Knaben am 8. Lebenstag) dienen, wie in Niederhofheim. Ein Schächter war nicht einfach Metzger, sondern mußte ebenso wie der Mohel bei der religiös vorgeschriebenen Präszision und Schnelligkeit der Schnitte extreme feinmechanische Fähigkeiten besitzen, ein theologisches Grundstudium und Fachwissen über Kaschrut (= Lehre von Rein und Unrein) in einer Prüfung nachweisen.

Die jüdische Gemeinde Bad Soden leistete sich 1849 einen solchen Lehrer, mußte aber bald danach ihre Kinder von Lehrern der Gemeinden Königstein oder Kronberg unterrichten lassen. Flörsheim hatte einen Lehrer ab 1870, der Schulunterricht wurde 1808-1870 vom Hochheimer Lehrer gegeben. Danach erteilten in Hochheim Lehrer aus Mainz und Wiesbaden den Unterricht. 1844-1850 amtierte auch in Niederhofheim ein eigener Religionslehrer, zugleich die Höchster Kinder lehrend, später vom Hattersheimer Lehrer unterrichtet, der auch für Okriftel und Hofheim zuständig war. Ab 1821 bezahlte Breckenheim „seinen" Lehrer, bis es mit Wallau 1842 einen gemeinsamen Schulbezirk bildete.

Standort, Bauweise und Geschichte der ehemaligen Synagogen

Die bisherigen Kriterien für den Standort ehemaliger Synagogen im Main-Taunus-Kreis waren aus jüdischer Sicht:

1. Sie wurden dann eingerichtet, wenn eine „Gemeinde" vorhanden war
2. Sie wurden dort eingerichtet, wo Glaubensgebote nicht verletzt wurden.
3. Sie wurden so eingerichtet, daß sie möglichst viele Funktionen abdeckten. Hinzu kamen aber noch weitere jüdische Bauvorschriften des Talmud:
4. Eine Synagoge sollte das höchste jüdische Gebäude einer Gemeinde sein.
5. Der Eingang sollte auf der Westseite sein, der Aron Kodesch im Osten als generelle Ausrichtung nach Jeruschalajim, wohin schon Daniel betete.
6. Sie soll von der Straßenseite her einen Vorraum enthalten.
7. Sie sollte 12 Fenster haben und deren Mindestentfernung zu Nachbargebäuden mindestens 2 Meter betragen, wenn die Wand nicht abzureißen ist. Hinzu kamen weitere Vorschriften, die die Rabbinen im Mittelalter erneuerten:
8. Die Abbildung von Menschen, meist auch Tieren, sei es als Bild oder Skulptur, ist außen wie innen gemäß dem 2. der 10 Gebote verboten.
9. Eine Mechiza (= Teilung) zur Trennung von Männern und Frauen muß eingebaut werden, z.B. durch eine Quertrennung, wie generell im Main-Taunus-Kreis.

Durch päpstliche Dekrete war es aber auch verboten, eine Synagoge höher als jede Kirche zu bauen. Gleichzeitig konnten landesherrliche Erlasse das Aussehen des Gebäudes und seinen Standort einschränken, z.B. um Christen nicht zu stören oder um sie den übrigen Gebäuden anzupassen. Insbesondere diese Restriktionen führten neben der Armut der meisten jüdischen Landgemeinden im Main-Taunus dazu (nur Niederhofheim und Flörsheim galten als reich), daß diese kleine, unauffällige, separate Synagogengebäude einrichteten. Außerdem war durch die bis 1806 vom jeweiligen „Eigentümer" der Juden gegen hohes Entgelt und noch im Spätmittelalter nach entwürdigenden Eideszeremonien zu erteilenden Schutzbriefe die Anzahl jüdischer Familien auch in Städten lange strikt beschränkt. So lebten z.B. in Bad Soden bis 1869 nur 7 Familien, m Hattersheim ab 1715 nur 3, in Hofheim ab 1656 3-5, in Hochheim noch 1821 nur 5. Und: ein kurmainzischer Schutzbrief von Hofheim hatte in der Kellerei Neuenhain ebensowenig Gültigkeit wie im reichsritterlichen Niederhofheim oder hessen-darmstädtischen Wallau. In Flörsheim waren die Lebensbedingungen für Juden erheblich besser: schon 1639 lebten dort 9 Familien, um 1750 14. Gleiches in Wallau, wo 1774 allein für die „Filiale" Breckenheim 9 Familien amtlich erfaßt sind. Und Niederhofheim hieß im Volksmund gar „Judenhofheim", weil ab 1706 10 jüdische Familien unter 28 christlichen lebten.
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Hofheimer Synagoge im Stadtmauerturm am Burggraben. Foto um 1935.

Nach diesem Überblick über die jüdische Bevölkerungsstatistik von 1600-1800 ist es umso erstaunlicher, daß fünf Synagogengebäude in diesem Zeitraum belegt sind: ab etwa 1680 in Hofheim und Hattersheim, ab 1718 in Flörsheim und Niederhofheim sowie ab ca. 1730 in Bad Soden. Dabei muß die Hattersheimer im Kreisgebiet nach Bekunden der dortigen jüdischen Gemeinde gegenüber dem Amtsvogt 1788 noch älter als die Hofheimer gewesen sein. Sie lag nach dessen Feststellungen im Hinterhof „in einem elenden Winkel bei einer Judenwitwe", nicht an offener Straße. Dieser Standort wird nur verständlich, wenn wir die „Judenordnungen" kennen: die Obrigkeit empfand jüdisches Beten, g'ttesdienstliches Singen und Unterrichten der Kinder als Ruhestörung. Noch 1847 mußten die Juden von Bad Soden ihre Synagoge in der Neugasse 2/früher Enggasse errichten, weil die Regierung den Plan einer größeren in schönerer Lage nicht genehmigt und zugleich bestimmt hatte, daß das Synagogengebäude sich äußerlich keinesfalls von anderen Altstadthäusern unterscheiden dürfe. Äußerlich trugen alle Beträume wie Synagogengebäude im Kreisgebiet diesem Petitum sowieso bereits Rechnung: Fachwerk z.B. in Hochheim und Hattersheim, Ziegelmauerwerk in Wallau, Bruchsteinmauer- und Fachwerk in Hofheim, Massivsteinbau in Niederhofheim und Höchst.
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Westgiebel der 1886 in Wallau erbauten Synagoge, Abbruch 1974. Foto vor 1938.

Konnten jüdische Gemeinden in der Frage der Gebäudehöhe zwischen ihrer Glaubensvorschrift und päpstlichem Verbot noch dadurch einen Ausweg finden, daß sie entweder als Gebäude wie in Hofheim und Höchst ehemalige Wehrtürme wählten oder daß sie das Dach ihrer Synagogen durch einen fest installierten Aufsatz, z. B. in Form einer Metallstange mit dem 6-zackigen Davidsstern bzw. einer Menorah (= 7-armiger Leuchter), gegenüber den übrigen jüdischen Häusern „erhöhten" oder den Synagogenraum in das Obergeschoß legten, wurde das in der Frage der 12 Fenster durch den Standort ebenso meist unmöglich wie in der Frage des Mindestabstandes zu Nachbargebäuden. Als Minimallösung wurde dieser wenigstens bei der Ostwand mit dem Aron Kodesch gewahrt. Und wo immer möglich, wurden in ein neu erworbenes Synagogengebäude möglichst viele zusätzliche Fenster eingebaut, wie uns das z.B. Franz Luschberger vom Hochheimer Umbau 1870 anschaulich berichtet.

Vermutlich hatten die einfachen Beträume im Main-Taunus ursprünglich keine Mechiza (= Teilung von Männern und Frauen), hielten also Jüdinnen vom G'ttesdienst fern. Dies beruhte einerseits auf der Adaption der frauenfeindlichen Gesellschaftsordnung des gesamten Mittelalters, andererseits auf der jüdischen Glaubenspraxis, nach der Jüdinnen damals - zu talmudischer Zeit zur Wahrung weiblicher Ruhepausen und aus Rücksichtnahme auf die arbeitsintensiven Festvorbereitungen für die Familie als Festzentrum festgelegt - nur drei der 613 Ge- und Verbote der Thora beachten mußten: die Absonderung der Teigehebe, das Entzünden der Schabatlichter und das Küssen der Mesusa (= Türpfostenkapsel). Die repräsentativ-öffentliche Religiosität war - anders als noch zu Zeiten des 2. Tempels - reine „Männersache". Dies hing in besonderem Maße von den Gebetszeiten ab, die sich bis heute nicht nach menschlichen, sondern nach natürlichen Abläufen richteten: den sich täglich verändernden Sonnen- und Mondständen. Zwar gab es im Haus einer Betstube auch im Main-Taunus-Kreis den vorgeschriebenen Vorraum, doch der ließ dank seiner Lage selbst eine passive G'ttesdienstteilnahme nur bedingt zu. In all dem unterschieden sich jüdische Gemeinden im Kreisgebiet in nichts von anderen Landgemeinden. Interessant ist jedoch, daß selbst bei Umbauten und Renovierungen die Mechiza nicht durch eine Galerie wie schon zu Zeiten des 2. Tempels und in den Synagogen der mittelalterlichen Stadtgemeinden vollzogen wurde, sondern noch im 19. und 20. Jahrhundert durch eine Abtrennung des hinteren Synagogenraumes. Hier Beispiele für diese Besonderheit im Main-Taunus:

Bad Soden:
      Renovierungen um 1890 und 1927, 26 Männer- und 7 Frauenplätze.
Hochheim:
      Erbaut 1870, 38 Männer- und 12 Frauenplätze.
Hofheim:
      Renovierung 1925, erst seitdem 20 Männer- und 10 Frauenplätze.
Wallau:
      Umgebaut 1886, renoviert nach 1920, 40 Männer- und 24 Frauenplätze.

An den Frauenplätzen läßt sich - wie anhand der Grabsteine der betreffenden jüdischen Friedhöfe - für Bad Soden, Hofheim und Wallau eine nicht unwichtige religiöse Entwicklung dieser Jüdischen Gemeinden ablesen: sie waren nicht länger orthodox, sondern zur Reformbewegung hin orientiert. Der regelmäßige Synagogenbesuch nahm dennoch ab, G'ttesdienste fanden oft nur noch an Festtagen statt.

Die allgemeine Landflucht führte 1908 zu Auflösung und Synagogenverkauf einer der bedeutendsten jüdischen Gemeinden im Kreisgebiet: Niederhofheim. 1930 folgte Hattersheim. Dazwischen lagen andernorts kostspielige Synagogenrenovierungen. Die Reichspogromnacht November 1938 machte aber alle jüdischen Assimilationsbemühungen zur bitteren Farce und löschte auch im Main-Taunus-Kreis die Zentren jüdischen Lebens und Glaubens nach fast 650 Jahren Geschichte für immer aus.
Nachfolgend eine Kurzstatistik nationalsozialistischen Hasses:
Bad Soden: innen zerstört,
Flörsheim: zerstört, die Thorarollen verbrannt, abgerissen 1939,
Höchst: 1905 erbaut, zerstört, danach abgerissen,
Hofheim: innen zerstört,
Wallau: innen zerstört, geplündert.

Aus Hochheim erinnert sich der Augenzeuge Franz Luschberger, wie er bei Einbruch der Dämmerung an aufgestellten Wachen vorbeischlüpfte: „ . . . Am Tor zum Synagogengrundstück verschafften sich gerade einige Männer gewaltsam Einlaß. . . Ich hörte, wie es oben im Betsaal krachte und klirrte, wie offenbar Einrichtungen und Fenster zerstört wurden. . .". In Höchst wurden die wenigen Juden, die Thorarollen aus der Synagoge retten wollten, beschimpft, bespuckt, getreten und blutig geprügelt. All diese Bethäuser rettete ein Phänomen vor dem z.B. in Königstein oder Bad Homburg folgenden Anzünden, das bei ihrer Errichtung große religiöse Probleme bereitet hatte: ihre Enge und Nähe zu christlichen Nachbargebäuden. In Niederhofheim war die Synagoge schon lange veräußert, in Hattersheim um 1935 „arisiert". So blieben sie von allem verschont.

Wie anderswo begleitete diese Zerstörung die Ausrottung alles jüdischen Lebens. Seitdem gibt es im Main-Taunus-Kreis keine jüdischen Gemeinden mehr, auch wenn heute wieder einige Juden im Kreisgebiet leben, wie schon 1955-1963 der berühmte jüdische Maler und Schriftsteller Ludwig Meidner in Marxheim.

Dankenswerterweise erinnern in Bad Soden, Flörsheim, Hattersheim, Hochheim, Höchst und Hofheim Gedenktafeln an die ehemaligen Stätten jüdischen Lebens und Glaubens. Sie legen Zeugnis von Ereignissen ab, die uns Juden in unserer jahrtausendalten Geschichte immer wieder heimsuchten.

Was bleibt? Es gilt, die Erinnerung wachzuhalten. Zum bleibenden Gedenken an die jüdischen Gemeinden könnte der Main-Taunus-Kreis gemeinsam mit einer Kommune die Möglichkeit prüfen, wenigstens eine Synagoge als Kulturdenkmal wiederherzustellen, um so künftigen Generationen ein sichtbares Beispiel von der meist armseligen, mühevollen, aber auch reichen Geschichte jüdischen Glaubens und Lebens im Kreisgebiet zu hinterlassen. Der Einsatz jüdischer Mitbürger auch für das Wohl ihrer „Heimat" hat dies verdient. Die ehemalige Hofheimer Synagoge böte sich z. B. dazu an - inhaltlich und konzeptionell auf Dauer betreut von der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit im Main-Taunus-Kreis e. V.

Aus: Zwischen Main und Taunus – MTK-Jahrbuch 1994