Wenn die Seele ohnmächtig wird
Hofheim: Holocaust-Überlebende Trude Simonsohn erzählt von ihrem Schicksal

Von Stephan Degenhardt

Mit wachen Augen sitzt Trude Simonsohn vor den Schülern. Die Jahre haben nur wenige Falten in ihrem Gesicht hinterlassen. Innerlich aber gruben die Schrecken und Qualen, die sie als junge Erwachsene erleben mußte, tiefe Furchen in ihre Seele. „Ich erzähle mein persönliches Schicksal", sagt sie. Die 89-jährige Jüdin hat Auschwitz überlebt.

In der Aula der Main-Taunus-Schule spricht Simonsohn am Montagvormittag über Dinge, die unfaßbar sind. Etwa, wie sie mit dem Gesicht zur Wand stand und jeden Moment damit rechnete, von hinten erschossen zu werden. „Ich kann nicht beschreiben, wie man sich in einer solchen Situation fühlt", sagt sie. Die Mienen der Schüler, Jahrgang 13, sind versteinert.

Simonsohn wurde 1921 im tschechischen Olmütz geboren, wuchs in einer multikulturellen Gesellschaft auf. Deutsche und Tschechen lebten im damaligen Mähren. Simonsohn, die Jüdin, war bestens integriert. In der Schule spielten sie und ihre Klassenkameraden den Lehrern Streiche. „Ich hatte eine gute Kindheit", sagt sie. Dann veränderte sich das Klima schlagartig.

Am 15. März 1939 marschierten Truppen der Wehrmacht in Prag ein. Die in Olmütz lebenden Deutschen, einen Tag zuvor noch Freunde, wollten mit Simonssohn nichts mehr zu tun haben.

Ihr eigenes Überleben hat sie vielen kleinen Zufällen zu verdanken

„Sie schauten weg, wenn sie mich sahen", sagt sie. Es begannen sechs Jahre, in denen Simonssohn durch die Hölle ging. Ihr Vater wurde gleich zu Kriegsbeginn verhaftet und ins KZ Buchenwald deportiert. „Danach habe ich ihn nie mehr lebend gesehen." Ihre Stimme wird leiser, sie senkt den Kopf.
Ihr eigenes Überleben hat sie vielen kleinen Zufällen, überraschenden Wendungen zu verdanken. „Mosaiksteine" nennt sie die Vorfälle, die sie vor dem sicher geglaubten Tod bewahrten. So wie im Sommer 1942, als sie nach ihrer Verhaftung wegen angeblichem Hochverrat für sechs Monate in Einzelhaft mußte.

Im Olmützer Gefängnis erfuhr sie, daß die Nazis ihren Vater getötet hatten. Ihre Mutter war zur gleichen Zeit im KZ Theresienstadt interniert. „Ich hatte das Gefühl, niemandem mehr im Leben zu haben", sagt sie. Simonsohn dachte an Selbstmord, als eines Tages ein Maurer die Gefängniswände erneuerte und ihr durch die Gitter Mut zusprach.

Kurze Zeit später half ihr überraschenderweise der deutsche Polizeipräsident von Olmütz, nach Theresienstadt zu ihrer Mutter zu kommen. „Das KZ Theresienstadt war für mich eine Erlösung, so paradox das klingen mag." Dort war sie nicht mehr in Einzelhaft, lernte ihren späteren Mann kennen und schaffte es mit anderen Häftlingen, so etwas wie ein kulturelles Leben aufzubauen. Sie führten etwa das Requiem von Verdi auf zum Gefallen der KZ-Aufseher. „Auch wenn man täglich Tausende Menschen vergast, hört man Verdi", sagt sie.

Anschließend wurde Simonsohn nach Auschwitz deportiert. Mit gebrochener Stimme erzählt sie, wie sie sich die Haare kahl scheren und stundenlang Appell stehen mußte. Dann hören die Erinnerungen an Auschwitz auf. „Wenn man große körperliche Schmerzen hat, ist es besser, wenn die Seele ohnmächtig wird."

Kurz vor Kriegsende kam Simonsohn ins KZ Merzdorf. Sie hatte Glück, daß der Lagerleiter nicht darauf bestand, daß sie einen roten Streifen auf der Jacke tragen mußte. Der hätte sie als Jüdin gekennzeichnet. Als die Rote Armee immer näher kam, wurde das Lager geräumt, die Häftlinge mußten gen Westen ziehen. Simonsohn und andere Häftlinge gaben sich als tschechische Fremdarbeiter aus. Ohne roten Streifen auf der Jacke kamen sie damit durch. Ein weiterer „Mosaikstein", der ihr das Leben rettete.

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Die 89-jährige Trude Simonsohn - vor Schülern in der Aula der Main-Taunus-Schule.
Bild: Michael Schick

Frankfurter Rundschau - 21.9.10 - mit freundlicher Erlaubnis der FR