Schwalbacher „Waldfrevel" im vorigen Jahrhundert
SIGI FAY

Über Jahrhunderte war die Nutzung des Waldes im Südwesten Deutschlands und auch in unserer Region überwiegend in Form der  „Markgenossenschaften"  geregelt. Das Märkergeding, die Versammlung aller Nutzungsberechtigten, entschied darüber, wie, wann und in welchem Umfang aus den Wäldern Holz zum Heizen und Bauen entnommen werden durfte, wann und von wem und für welches Vieh der Wald als Weide genutzt werden durfte. Wenn die jeweiligen Dorfherrschaften auch immer wieder versuchten, die Nutzungsrechte an sich zu ziehen, so gelang dies jedoch nur selten. In aller Regel saßen die Dorfherren als mehr oder weniger gleichberechtigte Genossen im Märkergeding. Hier und dort war es ihnen gelungen, eine „Obermärkerschaft" zu erringen und den „Waldbott", eine Art Oberförster, kraft eigener Macht zu stellen.

Die Markgenossenschaften waren sich zwar überall dessen bewußt, daß der Wald als natürliche und lebenswichtige Ressource eines größtmöglichen Schutzes und haushälterischen Umgangs bedurfte, allenthalben wurden strenge Regeln aufgestellt und hohe Strafen für Waldfrevel und Übernutzung festgesetzt, überwiegend gelang es ihnen jedoch nicht, eine extensive Nutzung und damit eine Ausbeutung der Wälder zu verhindern. In vielen Landschaften Deutschlands waren zumindest die leicht erreichbaren Wälder in den unteren und mittleren Höhenlagen gegen Ende des 18. Jahrhunderts deutlich übernutzt und heruntergekommen. Eine regelmäßige Wiederaufforstung gab es selten. Man überließ der Natur die Regenerierung der Forsten.

Dieser Zustand sollte sich allerdings zu Beginn des vorigen Jahrhunderts einschneidend verändern. Nach der Auflösung des alten Reiches mit dem Reichsdeputationshauptschluß 1802/03 und durch die Rheinbundakte 1806 gewannen die großen territorialen Fürsten nach Mediatisierung des kleineren Adels, der geistlichen Fürstentümer und der Reichsritterschaft allenthalben und endgültig die volle Souveränität über ihre Gebiete. Sie erkannten sehr schnell, wie wichtig die Wälder für eine florierende Staatswirtschaft waren und lösten fast überall und sehr bald die aus dem Mittelalter überkommenen Markgenossenschaften auf. So auch die „Cronberger Mark", zu der die Schwalbacher Waldungen rechneten und in der die Gemeinde Schwalbach Mitmärker war. Die Wälder wurden zwar in das Eigentum der einzelnen Gemeinden überführt, die Forsthoheit, und damit Hege, Pflege, die obere Forstaufsicht und   Nutzungsregelungen   blieben jedoch beim Staat. Rechtsgrundlage für die Auflösung der Markgenossenschaften war für Nassau das Herzogliche Edikt über die Auflösung der Markgenossenschaften aus dem Jahr 1809.

Gemäß dem herzoglich-nassauischen Forstedikt von 1816 (Verordnungsblatt f. d. Herzogtum Nassau 1816, S. 261) kamen die Schwalbacher Markwaldanteile im Taunus um den Fuchstanz und die Waldungen im eigentlichen Gebiet der Schwalbacher Gemarkung, also der heutige Sauerbornswald, unter die Verwaltung der nassauischen Oberförsterei Kronberg, die wiederum der Oberforstverwaltung in Wiesbaden unterstand.

Die Kronberger Oberförsterei bestellte für die einzelnen, zu ihrem Bereich zählenden Forstgebiete Forstbeamte, von denen die Bezirke  regelmäßig  kontrolliert  wurden. Diese „Förster" hatten vor allem auch forstpolizeiliche Befugnisse. Das bedeutete: Bei Ihren Kontrollgängen, die sie, so ist jedenfalls aus den im Schwalbacher Stadtarchiv aufbewahrten „Auszügen aus dem Frevelmanual" zu entnehmen, nahezu ein über den anderen Tag   unternahmen, konnten sie „Waldfrevler" dingfest machen, sofern sie diese „in flagranti" erwischten. Das bedeutet, sie konnten sie zur Feststellung der Person und des Umfanges des „Frevels" festhalten und bei der zuständigen „Gerichtsbehörde" anzeigen, sie „denunzieren", wie man damals sagte.

Da man zu jener Zeit im Herzogtum Nassau auf dieser örtlichen Justizebene noch keine Trennung von Justiz und Verwaltung kannte, war der örtliche Schultheiß für solche „Waldfrevel" gleichzeitig Gerichtsbehörde. Die Frevler wurden demzufolge dem Schultheißen angezeigt, der auch die Strafen zu vollziehen hatte. Deren Höhe wurde allerdings von der Oberförsterei, in der Praxis gleich vom Förster, nach den entsprechenden Strafverordnungen festgelegt. Sächliche Grundlage für die Zumessung des Strafumfanges war einmal der vom Förster taxierte „Frevelschaden". Gemeint war damit in der Regel die Menge des entwendeten Holzes. Meistens eine „Last" oder eine „halbe Last", also soviel, wie von den „Tätern" getragen werden konnte. Entscheidend für die Strafzumessung war außer der Menge des entwendeten Holzes aber auch die Art, wie der jeweilige Frevler es sich angeeignet hatte. Wer nur „dür hols" aufgelesen hatte, wie der anzeigende Förster, - in den von uns betrachteten Jahren ausschließlich ein Förster namens Freund, - es fast stereotyp formulierte, der hatte geringere Strafen zu gewärtigen als jene, die das Holz von den Bäumen oder Büschen brachen oder gar mit dem Beil abhackten. Andererseits war Rechtsgrundlage für das Strafmaß das „Strafreglement" des Herzogtums Nassau von 1816, in der die Höhe der Strafzumessung, bezogen auf den Schadensumfang und Art des Frevels, angeordnet war.

Ab dem Jahr 1849 war dann das Herzoglich-Nassauische Justizamt Königstein für die Vollstreckung der Strafen zuständig. Der örtliche Schultheiß erhielt die Auszüge aus dem „Frevelmanual" der Oberförsterei nur noch zur Kenntnisnahme.

Interessant ist nun, festzustellen, wer denn nun die eigentlichen „Frevler" waren, die Förster Freund erwischte.

Eine inhaltliche Analyse und eine einfache statistische Untersuchung von insgesamt 35 noch im Schwalbacher Stadtarchiv erhaltenen und jeweils auf unterschiedliche Monate bezogenen Auszügen aus dem Frevelmanual der Oberförsterei Kronberg für den Zeitraum von Mai 1833 bis Mai 1850, die an den damaligen Schwalbacher Schultheißen Hemmerle abgegeben worden waren, erbringen ein aufschlußreiches Ergebnis.

Zunächst fällt bei der Betrachtung der Namen der Frevler über all die Jahre auf, daß es Förster Freund zum überwiegenden Teil mit Wiederholungstätern zu tun hatte. Es sind, mit sehr geringen Abweichungen und Ausnahmen, mehr oder weniger die selben Familien, aus denen die Täter kommen. Weiter fällt auf, daß überwiegend Kinder, sowohl Mädchen wie Jungen, gefaßt werden. Allerdings mehr Mädchen als Buben. Die drittstärkste Gruppe sind Frauen. Jedenfalls schreibt Förster Freund immer wieder „die Tochter des . . ." oder „der Sohn des . . ." auf. Männer treten höchst selten als Frevler in Erscheinung.

Bezogen auf die Summe der Einzeltaten (insgesamt sind 898 in den erhaltenen Manualen aufgezeichnet) bedeutet dies:

361 mal sind Kinder  = 40,2 %
309 mal sind Frauen  = 34,4 %
215 mal sind Männer = 23,9 %
13 mal sind Mägde    =   1,5 %
als „Täter" benannt.

Nun stellt sich die Frage, warum gerade überwiegend Kinder und öfter Frauen (insgesamt 74,6%) als Männer im Wald Holz holten. Es gibt dafür mehrere Gründe. Zunächst ist die insgesamt überwiegende Zahl von Kindern und Frauen damit zu erklären, daß die Männer als Ernährer der Familie in der Regel in die alltägliche Gelderwerbstätigkeit eingebunden waren und somit selbst kaum Zeit aufbringen konnten, in den Wald zu gehen. Weiter springt die große Zahl von Kindern in die Augen, deren Mütter alleinstehende Witwen waren. Förster Freund merkt dies immer genau in seinen Verzeichnissen an. Hier scheiden in den Familien die Väter als „Täter" demnach von vornherein aus. Ferner läßt sich durchaus hinter der Tatsache „minderjähriger Straftäter" die Überlegung der Eltern vermuten, daß Kinder ja allgemein eine mildere Strafe zu gewärtigen haben als Erwachsene. Und eine Jahrhunderte alte Tradition spielt eine weitere Rolle:

Es war weit bis in unser Jahrhundert im ländlichen Gebiet ganz „normal", daß Kinder je nach Leistungsfähigkeit schon früh in den Versorgungsprozeß der Familie einbezogen waren. Hier bei der Beschaffung des Brennholzes. Alleinstehende Frauen oder Frauen mit Kleinkindern mußten die Aufgabe der Holzbeschaffung eben alleine übernehmen. Grundsätzlich fällt jedoch die hohe Zahl der „Waldfrevel" insgesamt ins Auge. Wir müssen uns fragen, warum das im vorigen Jahrhundert so war.

Auch hierfür gibt es wiederum mehrere Ursachen. Zunächst wird man wohl feststellen müssen, daß es hinsichtlich der Brennholzbeschaffung im nahen Wald in der überwiegenden Zahl der Dorfbevölkerung noch kein „Unrechtsbewußtsein" gab, wie man heutzutage sagen würde. Man muß immerhin wissen, daß es in den dreißiger- und vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ja gerade erst ein oder zwei Jahrzehnte her war, daß die Nutzung der Waldmarken aufgrund der neuen herzoglich-nassauischen Gesetzgebung nicht mehr genossenschaftlich geregelt war. Was bedeutete, daß zuvor, wenn auch nach bestimmten Regeln, die Wälder allgemein zur Brennholzbeschaffung genutzt werden durften. Viele konnten nicht begreifen, daß jetzt neues Recht und nicht mehr die alten, noch aus dem Mittelalter herrührenden, „guten Gewohnheiten" galten. So mag mancher unter den ehemals nutzungsberechtigten Bauern im Dorf durchaus eine Art Protesthaltung eingenommen haben, weil er nicht begreifen wollte und konnte, weshalb er sich nun sein gutes altes und seit Generationen überkommenes Recht durch den neuen Staat einschränken lassen sollte. Folge: er schickte seine Kinder und Mägde nach wie vor in den Wald zum Holz holen, obwohl er es sich durchaus wirtschaftlich hätte leisten können, beim durchfahrenden Händler Holz und Kohle zu kaufen. Das wird nicht zuletzt dadurch bestätigt, daß wir eine große Zahl von Namen von Haushaltsvorständen in den Manualen des Försters Freund finden, von denen genau nachzuweisen ist, daß sie zumindest nicht zu den Armen im Dorf, sondern eher zu den Wohlbegüterten gehörten. (Förster Freund nennt in seinem Manual immer den Namen des Haushaltsvorstandes der Familie, aus der die Frevler stammen.) Ein Vergleich mit den Eintragungen in den Schwalbacher Zehnt- und den Grundzinsablösungskatastern hat dies in den meisten Fällen bestätigt. In den Katastern, die aus der selben Zeit stammen, sind nämlich die Besitzverhältnisse der einzelnen Schwalbacher Haus- und Grundbesitzer exakt aufgezeichnet.

Ein anderer Grund war aber auch ganz real drückende Armut. Wir vermuten sicher zu Recht, daß die große Gruppe der Kinder von Witwen und die Witwen selbst, die im Wald ertappt werden, von ihrer Armut dazu gezwungen wurden, sich Brennholz aus dem Wald zu holen. Insgesamt sind in den erhaltenen Frevelmanualen 174 Freveltaten von Witwenkindern und Witwen festgehalten. Im Verhältnis zur Gesamtzahl der Taten sind dies 19,4 Prozent. Hinzu kommt eine größere Anzahl von Fällen, für die der wirtschaftliche Zustand der jeweiligen Familie nicht zu erschließen ist. Auch hier wird mit einer zusätzlichen Zahl von Armutsfällen zu rechnen sein.

Nicht uninteressant sind einige besondere Fälle von Waldfrevel, die Förster Freund notierte. Besonders ärgerlich für ihn scheint die Selbstherrlichkeit des Pächters auf dem unmittelbar neben dem Schwalbacher Wald liegenden, aber zur Kronberger Gemarkung gehörenden, Schafhof zu sein. Der gehört zu den „besseren Leuten" und meint, sich aufgrund dieser Tatsache allerhand Eigenmächtigkeiten herausnehmen zu dürfen. Und in der Tat hat Förster Freund keine Chance gegen ihn. Wenn der Pächter eine ganze Fuhre Wellenholz im Wald schlagen und abfahren läßt, dann zeigt ihn der Förster zwar an, setzt die gesetzlich vorgesehen Strafhöhe fest und zitiert ihn vor das Königsteiner Justizamt; durch die persönliche Intervention des Pächters direkt bei der Regierung in Wiesbaden wird das Verfahren jedoch regelmäßig „wegen Geringfügigkeit" niedergeschlagen. Der Pächter geht straffrei aus. Dies wirft ein Schlaglicht auf die „Rechtsstaatlichkeit" der nassauischen Justiz, die damals noch so recht eine Klassenjustiz ist. Was für den einen eine halbe Last Leseholz, ist für den anderen noch lange keine Fuhre Wellenholz.

Nur selten trifft der Förster Übeltäter aus anderen Gemeinden, wie beispielsweise aus Kronberg, Oberhöchstadt oder Steinbach an. Die werden aber trotzdem genauso behandelt wie die Schwalbacher. Auch die meldet der Förster dem Schwalbacher Schultheißen, der dann seinen Kollegen im betreffenden Dorf dazu auffordert, die Strafe zu vollziehen und dies zu bestätigen. Eventuelle Strafgelder müssen in die Schwalbacher Gemeindekasse gezahlt werden. Anhand von einigen in den Schwalbacher Frevelmanualen liegengebliebenen diesbezüglichen Korrespondenzen kann man dies nachvollziehen.

Mangels weiterer Quellen im Schwalbacher Stadtarchiv ist nicht mehr zu verfolgen, wie sich die „Waldfrevel" in den 50er und 60er Jahre, ab 1866 also in der preussischen Zeit, weiterentwickelten. Anzunehmen ist, daß sie bis weit in die 60er Jahre eher zunahmen. Danach allerdings ist wohl mit einem deutlichen Rückgang zu rechnen. Das erstere deshalb, weil wir aus anderen Zusammenhängen wissen, daß gerade die 50er Jahre Zeiten großer Not brachten. Das zweite deshalb, weil einerseits die neuen staatlichen Verhältnisse und gesetzlichen Verordnungen nach und nach besser akzeptiert wurden, weiterhin aber auch die verstärkt einsetzende Gründung von Gewerbe- und Industrieunternehmen in der nahen Umgebung bessere Verdienstmöglichkeiten bot und damit, spätestens ab den 70er Jahren, die allgemeine Armut zurückging.

Aus: Zwischen Main und Taunus – MTK-Jahrbuch 1994 – mit freundlicher Erlaubnis des Autors