Historikerin erforscht Zwangsarbeit
Barbara Wieland untersucht im Auftrag des Bistums Limburg das Schicksal der Betroffenen und die Rolle der Kirche

Den Schicksalen von Zwangsarbeitern im Main-Taunus-Kreis ist Kirchenhistorikerin Barbara Wieland seit fünf Jahren auf der Spur. Im Hofheimer Stadtmuseum berichtete sie am Dienstagabend über ihre Forschungsergebnisse.

HOFHEIM/HATTERSHEIM/KELKHEIM - Genaue Zahlen gibt es nicht. Damit musste sich auch die Frankfurter Kirchenhistorikerin Barbara Wieland abfinden. Wie viele Zwangsarbeiter genau im Main-Taunus-Kreis gegen Ende des Dritten Reiches im Einsatz waren, läßt sich auch nach fünf Jahren intensiver Recherche nicht exakt belegen.

Bruchstückhaft ist aus den gefundenen Daten und Informationen ein Gesamtbild zu erkennen, das Wieland immerhin zu dem Schluss kommen lässt: „Der Main-Taunus-Kreis war in Sachen Zwangsarbeit ein Normalfall." Wieland hat im Auftrag des Bistums Limburg untersucht, inwiefern die katholische Kirche an der Beschäftigung von Zwangsarbeitern beteiligt war. „Die katholische Kirche hat sich in das nationalsozialistische System eingefügt", urteilt Wieland. Aber sie habe gleichzeitig viel dafür getan, um die Lebenssituation der Zwangsarbeiter erträglicher zu gestalten. Mit ihrer Arbeit wolle sie zum einen aufklären und zum andern konkrete Versöhnungsarbeit leisten, indem die ausfindig gemachten, noch lebenden ehemaligen Zwangsarbeiter entschädigt werden könnten.

Kirchenbücher geben der Forscherin Hinweise auf Einzelschicksale

Im Main-Taunus-Kreis gab es keine nationalsozialistischen Arbeitslager. Ausländische Kräfte wurden in der Landwirtschaft, in kleinen und mittleren Betrieben und auch in kommunalen Einrichtungen eingesetzt, um diese am Laufen zu halten. „Der Arbeitsmarkt war ab 1942 leer gefegt. Viele Firmen oder auch Krankenhäuser mussten sich in dieser Zeit entscheiden, ob sie dicht machen oder als kriegswichtig eingestufter Betrieb Zwangsarbeiter zugesprochen bekommen."

Eine offizielle Erhebung der Arbeitsämter vom 15. Mai 1943 belegt, dass es im Main-Taunus-Kreis insgesamt 21.866 Beschäftigte gab, darunter 2900 so genannte Zivil-Ausländer. Zusätzlich waren 618 Kriegsgefangene notiert. „Davon waren 40 beispielsweise in Diedenbergen untergebracht." Andere Zahlen gebe es nicht, bedauert Wieland.

Deshalb habe sie versucht, über kirchliche Institutionen Hinweise zu finden. In einem Hofheimer Taufbuch entdeckte Wieland beispielsweise das polnische Ehepaar Julius und Maria N.; die beiden waren auf

Dem Hof Hausen eingesetzt und ließen im September 1942 Zwillinge taufen.

Zwangsarbeiter wurden oft in der Landwirtschaft eingesetzt. Hier hilft ein französischer Kriegsgefangener (links) in Wallau bei der Ernte. (Bild: Stadtarchiv Hofheim)

Ebenso stieß Wieland auf eine Französin namens Odette C., die den Vermerk trug „aus Paris, zur Zeit in Hofheim". Am 3. März 1945 hatte sie ihre Tochter Michele taufen lassen.

Auch im Hofheimer Marienkrankenhaus war eine Zwangsarbeiterin beschäftigt. Dora K. hieß die junge Frau. Sie war 1921 in Russland geboren, erzählt Wieland. „Das Phänomen Zwangsarbeit muss aus der Zeit heraus gesehen und beurteilt werden", betont die Historikerin. Das Marienkrankenhaus habe sich „zum Handeln" entschieden. Ohne die Unterstützung durch Zwangsarbeiter hätten die Schwestern dort wegen der enorm angestiegenen Zahl der Patienten Anfang der 40er Jahre ihre Pflegearbeit einstellen müssen. Neben insgesamt acht Franzosen und neun Polen hielten sich allein in Hofheim nach Kriegsende 66 Russen, zwei Kroaten, acht Litauer, vier Ukrainer, 13 Belgier, drei Niederländer, vier Italiener, ein Norweger und ein Staatenloser in verschiedenen Haushalten, Höfen und Betrieben auf. Das belegt ein Bericht der Vereinten Nationen, der erstellt wurde, um die Rückführung der Zwangsarbeiter zu organisieren. „Es ist aber anzunehmen, dass das lange nicht alle waren", sagt Wieland.

Katholische Priester versuchten, durch Gottesdienste den ausländischen Christen eine „Art Heimatgefühl" zu vermitteln. In Hattersheim wurden ab 1941 in der Krypta, der Unterkirche, Messen für Zwangsarbeiter gefeiert, „zum Teil auch ohne offizielle Genehmigung". Auch in Kelkheim gab es solche Unterstützungsbemühungen. In der Kapelle des Victorheims in Hornau, einer Einrichtung der Dienerinnen des Heiligen Herzens Jesu, wurden Gottesdienste für Zwangsarbeiter auf Latein abgehalten. Der französische Priester Stephan la Trapp war Kriegsgefangener und organisierte diese Messen. „Es wird vermutet, dass la Trapp gezielt von den Franzosen eingeschleust wurde", sagt Wieland. Frankreich habe auf diesem Wege versucht, im ganzen Rhein-Main-Gebiet ein Netzwerk aufzubauen, um den betroffenen französischen Zwangsarbeitern unbemerkt praktische Hilfe zu bieten.

Wieland erstellt zur Zeit eine Publikation unter dem Titel „Kirche und Zwangsarbeit im Bistum Limburg". Sie soll Anfang 2006 erscheinen. Unabhängig von einer moralischen Wertung bilanziert sie vorläufig: Die meisten katholischen Einrichtungen hätten versucht, den Zwangsarbeitern das Leben erträglicher zu machen. Für den Main-Taunus-Kreis gebe es keine anderweitigen Hinweise. Im Gegensatz zum gesamten Bistum. Dort habe es bei der katholischen Kirche vereinzelt „krasse Fälle" gegeben, bei denen von persönlicher Schuld zu sprechen sei, beispielsweise wenn kranke Zwangsarbeiter bewusst in nationalsozialistische Arbeitslager abgeschoben wurden. BIANCA STRAUSS

HINTERGRUND - Mühsame Suche

Seit rund fünf Jahren fahndet die Kirchenhistorikerin Barbara Wieland nach Zwangsarbeitern im Bistum Limburg und damit auch im Main-Taunus-Kreis. Die Frankfurterin arbeitet im Auftrag der katholischen Kirche, die mit einer eigenen Stiftung Entschädigungs- und Versöhnungsarbeit leisten will. Insgesamt zehn Millionen Euro wurden dafür bereitgestellt. Die Suche sei schwierig, eine wahre Puzzlearbeit, berichtet Wieland.

Nur wenige Quellen beispielsweise in städtischen Archiven sind noch vorhanden. Viele Unterlagen und Listen seien von Nationalsozialisten gezielt vernichtet worden. Noch in den Nachkriegsjahren habe das Arbeitsamt Rhein-Main, das für den Main-Taunus-Kreis zuständig war, sämtliche Akten verbrannt.

Trotzdem gelang es im Bistum Limburg, bislang 500 Menschen ausfindig zu machen, darunter 150 Kriegsgefangene. Bis heute konnten laut Wieland 20 von ihnen aufgesucht werden. Sie bekamen eine Entschädigung von rund 2500 Euro, den gleichen Betrag, der auch vom Fonds der deutschen Wirtschaft ausgezahlt wird.

Die Suche nach Zwangsarbeitern im Main-Taunus-Kreis sei noch nicht abgeschlossen, sagt Barbara Wieland. Sie hofft, möglicherweise durch Zeitzeugen weitere Puzzleteile aneinander reihen zu können, um noch mehr betroffene Menschen zu erreichen.

Das Projekt der Kirchenhistorikerin ist ein Teil der Versöhnungsarbeit der katholischen Kirche. Dank Wielands Recherche konnten bereits etliche der ehemaligen Zwangsarbeiter zu Besuchen ins Bistum Limburg eingeladen werden. Einige hätten davon auch schon Gebrauch gemacht, bestätigt Wieland.

Sie selbst sei in Polen, Lettland und Weißrussland gewesen, um ehemalige Zwangsarbeiter zu treffen. Mit Unsicherheit habe sie die Reise begonnen, aber die Menschen hätten sie freundlich empfangen. „Einige sprechen das erste Mal über ihre Zeit in Deutschland. Denn als sie in ihre Heimat zurückkehrten, mussten sie schweigen, sonst wären sie als Kollaborateure verfolgt worden." BIANCA STRAUSS

FR 15.9.05 - mit freundlicher Erlaubnis der Frankfurter Rundschau