Das alamannische Gräberfeld von Eschborn
GERHARD RAISS

Im Sommer des Jahres 1983 stieß der Bagger beim Anlegen eines Wasserleitungsgrabens bei der Erweiterung des Friedhofes Eschborn auf menschliche Skelettreste, Glasperlen und Tonscherben. Der Aufmerksamkeit des Friedhofswärters Horst Kümmel war es zu verdanken, daß der Charakter des Fundes überhaupt erkannt wurde und über das örtliche Stadtarchiv die Meldung an das zuständige Landesamt für Denkmalpflege Hessen in Wiesbaden gelangte. Das angeschnittene Grab, so ergaben die Vermutungen der Archäologen, mußte anhand der gefundenen Beigaben zu einem größeren Gräberkomplex gehören, der in unmittelbarer Umgebung zu suchen war. Auf Betreiben aller Beteiligten entschloß man sich, im darauffolgenden Herbst das gesamte Gräberfeld wissenschaftlich auszugraben und zu untersuchen.

Mit Hilfe amerikanischer Pioniere vom Camp Eschborn wurde die oben liegende Schicht des Mutterbodens mit Bulldozern abgeschoben. Dabei wurden die Umrisse von fünfzig Körpergräbern sichtbar, die dann Grab für Grab in Handarbeit sorgfältig freigelegt wurden. Alle Gräber wurden fotografisch und zeichnerisch dokumentiert, beschrieben und die Funde nach Wiesbaden in die Werkstatt des Landesamtes für Denkmalpflege gebracht. Dort wurden sie, von einer von der Stadt Eschborn eingestellten Restauratorin, in einem über ein Jahr dauernden Verfahren vorzüglich gereinigt, wenn notwendig ergänzt und fachkundig restauriert. Erst dann waren die wertvollen Stücke für die Wissenschaft verwertbar.

Die Skelette aus den fünfzig Gräbern wurden vom Anthropologischen Institut der Universität Frankfurt am Main wissenschaftlich untersucht und begutachtet. So kennen wir heute die genaue Anzahl der in diesem Gräberfeld beigesetzten Männer, Frauen und Kinder; wir wissen deren Alter beim Tod - und ob sie evtl. an nachweisbaren Erkrankungen der Knochen oder Mißbildungen gelitten haben. Die wissenschaftliche Gesamtbearbeitung der Gräber unter archäologischer Sicht lag bei Prof. Dr. Hermann Ament vom Institut für Vor- und Frühgeschichte der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Prof. Ament bereitete auch eine entsprechende Veröffentlichung vor, die 1991 als ,,Eschborner Museumsschrift", Heft l, erschienen ist.

Die Zeitstellung des Eschborner Gräberfeldes läßt sich anhand der Funde auf die Spanne zwischen 400 und 500 n. Chr. festlegen; es wurde also vor etwa 1500 Jahren angelegt. Zu dieser Zeit lebte ein Volksstamm germanischen Ursprungs im Bereich des Untermaingebietes, also auch des heutigen Main-Taunus-Kreises, den man als „Alamannen" bezeichnet. Wie der Name schon ausdrückt, „Alamannen", war das Volk zusammengewürfelt und war nicht von der gleichen Herkunft. Sie bedrängten die Römer im Vorfeld der Provinzhauptstadt Mainz, die sie sogar zeitweise in ihren Besitz bringen konnten (5. Jahrh. n. Chr.). Erst das Vordringen der Franken zwang die Alamannen gegen Ende des 5. Jahrhunderts nach Süden.

Während die Alamannen in ihrer Frühzeit noch in der Tradition der germanischen Völker standen und ihre Toten verbrannten, änderten sie im 5. Jahrhundert ihre Grabsitten und bestatteten ihre Toten in Körpergräbern, die sie in regelrechten Friedhöfen nebeneinander reihten („Reihengräberfriedhöfe"). Sie glaubten an ein materielles Weiterleben nach dem Tode, weshalb sie ihre Angehörigen in ihrer Tracht, mit zahlreichen Gegenständen des täglichen Lebens und mit Nahrungsmitteln und Getränken beisetzten. Nur auf diesen Umstand läßt es sich zurückführen, daß wir heute, nach der Bergung der Beigaben, viele Informationen über die Begrabenen besitzen. Allerdings sind nur diejenigen Gegenstände auf uns gekommen, die 1500 Jahre im Erdreich überstanden haben.

Schmuckstücke, insbesondere Fibeln (d. h. Gewandnadeln) aus Edelmetall (Gold und Silber), Haarnadeln, Kämme aus Bein, aber auch eiserne Messer, Glas- und Bernsteinperlen oder bronzene Becken (Schüsseln) überwiegen in den Gräbern der Frauen. Männer wurden teilweise mit ihren Waffen, wie z. B. dem Hiebschwert (scramasax), der Wurfaxt (francisca) oder Pfeil und Bogen begraben. Nahezu allen war der Besitz eines Gürtels mit mehr oder weniger wertvoller Gürtelschnalle eigen.

Die beigegebenen Gefäße waren entweder aus Ton, Glas oder Bronze gefertigt und sicher zur Zeit der Beisetzung mit Speisen und Getränken gefüllt. Die Toten sollten im Jenseits nicht hungern müssen. Im Grab einer etwa vierzig Jahre alten Frau fand man, am Fußende abgelegt, die Überreste eines Schweineschinkens. Die Kannen, Schüsseln und Krüge stammten ihrer Form und Machart nach aus den ehemals römischen Töpfereien links des Rheines (z. B. Mayen/Eifel). Aber auch typisch alamannische Gefäße mit den dafür klassischen Verzierungen fanden sich unter den Beigaben. Einige reichere Gräber zeichneten sich durch die Mitgabe von Glasgefäßen (Spitzbecher, sog. Glockenbecher und Schalen) aus, die in Einzelfällen durch umlaufende Glasfäden besonders schön verziert waren. Alle Grabbeigaben waren entweder am Kopfende oder Fußende des Toten im Grab plaziert, in Einzelfällen auch in einer kleinen Nische, die auf der rechten Seite der Grabgrube in die Wand eingelassen war.

Ein besonderer Stellenwert unter den Beigaben kommt den Gegenständen zu, die den Frauen in der Art von Gehängen, die teils von der linken Schulter, teils vom Gürtel herab hingen, mitgegeben wurden. Dazu zählten neben Perlen aus Glas oder Bernstein auch Amulette zur Abwehr bedrohlicher Kräfte. Als Amulette dienten dabei Teile, meist Endstücke, von Hirschgeweihen, aber auch Schlüssel oder Teile davon aus Eisen und Bronze.

Gleichsam zur Grundausstattung der Frauen gehörten die oben bereits erwähnten Fibeln (Gewandnadeln) zum Zusammenhalten der Kleidung, ähnlich unseren heutigen Broschen. Diese waren notwendig, da die Kleider nicht zum Knöpfen waren, aber dennoch verschlossen werden mußten. Die Eschborner Fibeln waren überwiegend sogenannte Bügelfibeln, die meist aus vergoldetem Silber gefertigt und mit Punzen oder sogenannten Kerbschnitten reich verziert waren. Das schmal auslaufende Ende einzelner Fibeln war oft mit kleinen Tierköpfchen (Schlangenköpfchen) verziert. Unseren heutigen Sicherheitsnadeln gleich, konnten die Nadeln fixiert werden, indem sie in eine Öse eingehängt wurden. Die Fibeln sind übrigens in der Art ihrer Verzierung sowie durch ihre räumliche Verbreitung ein gutes Hilfsmittel zur Datierung der betreffenden Gräber.

Üblicherweise trugen Frauen und Männer an ihrem Gehänge am Gürtel auch ein eisernes Messer. Man kann davon ausgehen, daß es sich dabei um ein Eßgerät gehandelt hat. Bei den Männern waren die Messer größer; leider fehlen alle Griffe und Scheiden, die in der Erde vergangen sind. Sie könnten bemalt oder verziert gewesen sein.

Das Grab einer jungen Frau von Anfang zwanzig war besonders bemerkenswert. Sie war, wie bei den Frauen damals üblich, in ihrer Tracht mit den dazu gehörenden Schmuckstücken und den üblichen Gefäßen beigesetzt. Die Besonderheit bestand allerdings darin, daß sie mit einer eisernen Gliederkette an den Fußknöcheln gefesselt war. Erklären könnte man dieses Phänomen damit, daß ihre Angehörigen Angst vor ihrer Wiederkehr aus dem Grab hatten. Vielleicht gab es zu ihren Lebzeiten schon Veranlassung zu solcher Furcht.

Spätere Zeitgenossen hatten nur geringe Furcht vor den toten Alamannen, denn nicht wenige Gräber wurden bald darauf geöffnet und wertvoller Beigaben, insbesondere wohl der Schmuckstücke aus Edelmetall, wegen beraubt. Glücklicherweise fielen nicht alle Bestattungen den Grabräubern zum Opfer. Ein Gutteil der Beigesetzten konnte mit allen ihren Beigaben und ihrer Ausrüstung erst von uns geborgen werden. Sie verhelfen uns zu reichem Wissen um das Leben und die Geschichte der Alamannen des fünften nachchristlichen Jahrhunderts in unserem Raum.

Literatur:

Hermann Ament, Die Alamannenfunde von Eschborn. Eschborn 1991 (Eschborner Museumsschriften 1).
Ders., Eschborn, Main-Taunus Kreis, Grabfunde des 5. Jahrhunderts. Ein alamannisches Gräberfeld an der Wende vom Altertum zum Mittelalter. Wiesbaden 1984 (Archäologische Denkmäler in Hessen 41).
Ders., Das alamannische Gräberfeld von Eschborn (Main-Taunus-Kreis). Wiesbaden 1992 (Materialien zur Vor- und Frühgeschichte Hessens).
Gerhard Raiss, Das alamannische Gräberfeld von Eschborn, in: Kleindenkmäler in Stein- Stahl-Holz im Main-Taunus-Kreis. Hofheim am Taunus 1988 (Förderkreis Denkmalpflege Main-Taunus-Kreis e. V. Heft 17).

Aus: Zwischen Main und Taunus – MTK-Jahrbuch 1993 – mit freundlicher Erlaubnis des Autors