Das Eschborner Bonifatiuskreuz
GERHARD RAISS

Bis zum November 1933 standen am Rande der alten Elisabethenstraße in der Eschborner Gemarkung drei „Steine", die im Zuge des Ausbaues der Autostraße Frankfurt - Wiesbaden dem Straßenbau weichen mußten.

Die Flurdenkmalgruppe, die aus einem Bildstock mit der eingeritzten Jahreszahl 1513, einem Steinkreuzstumpf und einem Steinkreuz bestand, war schon seit dem Mittelalter bekannt.

In verschiedenen Güterverzeichnissen wird die Steingruppe als Merkmal und Hinweis zur näheren Lagebezeichnung von Grundstücken herangezogen, so erstmals im Jahre 1339 im Güterverzeichnis des Rudolf von Sachsenhausen, Reichsschultheiß von Frankfurt, („... apud cruces versus Esche-burne"), dann in einem Güterverzeichnis der Clara von Helmstedt, der Witwe des Kronberger Ritters Johann VII., von 1513 („... bey den Sossenheymer creutzgin") oder 1583 in einem Verzeichnis der Güter dreier Kronberger Höfe in Eschborn („... bei den Sossenheimer Creutzergen").

Man muß dazu bemerken, daß die Denkmalgruppe unmittelbar an der Eschborn- Sossenheimer Gemarkungsgrenze ihren Platz hatte, aber noch auf Eschborner Gebiet stand.

Auch in die später entstandenen Kartenwerke hat die Steingruppe Eingang gefunden, so ist in der Haas'schen Karte (1800) ebenso eine Eintragung zu finden wie z.B. in der Topographischen Karte von 1906.

Ob es sich in früherer Zeit bei der Denkmalgruppe um mehrere Kreuze gehandelt hat, können wir heute nicht mehr feststellen. Geblieben ist unter den drei Steinen zumindest ein deutlich ausgeprägtes Hochkreuz aus Bockenheimer Basalt, welches im Herbst 1933 auf Veranlassung von Dr. Heinrich Bingemer, dem damaligen Direktor des Historischen Museums Frankfurt, in seinem Museum im Leinwandhaus sichergestellt und später dort auch ausgestellt wurde.

Im Zweiten Weltkrieg erlitt das Steinkreuz bei einem Bombenangriff auf Frankfurt, bei dem auch das Museum zerstört wurde, größere Beschädigungen, die aber in der Nachkriegszeit durch eine geschickte Restaurierung weitgehend behoben wurden.

Strichzeichnung des „Bonifatiuskreuzes" von Hanny Franke, 1932. Original im Stadtarchiv Eschborn.

 

Das markante Kreuz kehrte schließlich 1979, durch die Vermittlung des damaligen Eschborner Bürgermeisters Jochen Riebel, nach Eschborn zurück und steht heute in der Ausstellung des dortigen Museums.

Die Bezeichnung „Bonifatiuskreuz" für dieses gerettete Flurdenkmal findet sich frühestens in den 20er Jahren unseres Jahrhunderts. Der bekannte Eschborner Maler und Hobbyhistoriker Hanny Franke hat sie erstmals 1930 geprägt und in einem Beitrag in einer Tageszeitung publiziert. Vorher war diese Bezeichnung unbekannt. Franke hatte bei seinen Wanderungen schon einige Jahre zuvor dem Kreuz seine Aufmerksamkeit gewidmet und seine Entstehung zu ergründen versucht. Den Ausschlag für seine Zuordnung des Kreuzes zum Hl. Bonifatius gaben die mit einem scharfen Meißel auf der Vorderseite des Kreuzes eingeritzten Zeichen, die Franke als die merowingischen Buchstaben „BBq" deutete, die er wiederum als „Beatus Bonifatius quievit" („der selige Bonifatius hat hier gerastet") auflöste. Eine andere Interpretation geht dahin, daß die Buchstaben als „HBq": „Hie Bonifatius quievit" („hier hat Bonifatius geruht") gelesen werden.

Was steckt dahinter? Bonifatius, der „Apostel der Deutschen", war auf einer Missionsreise im Juni 754 von den Friesen erschlagen worden. Sein Leichnam wurde zuerst auf dem Rhein nach Mainz, seinem

Bischofssitz, gebracht. Von da aus ging es zu Wasser weiter auf dem Main bis nach Hochheim. Dann wählte man den Landweg weiter bis nach Fulda, wo er heute noch im Dom begraben liegt.

Die Überführung des toten Bischofs geschah unter großer Anteilnahme der Bevölkerung, und es ist überliefert, daß besonders an den Stellen, wo der Leichenzug rastete, Kapellen und Kreuze errichtet wurden (so z. B. eine Kapelle bei Kriftel oder eine Kirche bei der Bonifatiusquelle bei Kalbach).

So kann man das schwarze Hochkreuz durchaus mit dem Trauerkondukt des Bonifatius in Verbindung bringen, denn mit sehr großer Wahrscheinlichkeit wählte man als Weg in Richtung Fulda in unserer Gegend die schon in römischer Zeit begangene Route der „Elisabethenstraße", die genau dort verläuft, wo man auch die Denkmalgruppe aufgestellt hatte.

Im Volksmund wurde die Steingruppe auch als „Franzosensteine" oder „Schwedensteine" bezeichnet; angeblich sollten an der Stelle im Jahre 1813 drei französische Offiziere auf der Flucht erschossen und dort begraben worden sein. Die andere Version spricht von gefallenen schwedischen Soldaten, die im 30jährigen Krieg dort umgekommen und zu deren Ehren die Steine gesetzt worden sein sollen.

Eine Untersuchung der Steine und ihrer näheren Umgebung im Jahre 1923 durch Heinz F. Friederichs ergab, daß alle drei Steine etwa 50 cm tief im gewachsenen Erdreich, unmittelbar auf dem römischen Kalksteinpflaster aufsaßen. Man darf davon ausgehen, daß das damals die ursprüngliche Situation war.

Lageskizze der Flurdenkmalgruppe „Zu den Kreuzen", 1932. Original im Stadtarchiv Eschborn.

Die auf dem Bildstock eingemeißelte Jahreszahl lautete 1513, nicht 1813. Damit ist die konstruierte Verbindung mit den drei französischen Offizieren von 1813 hinfällig. Ein Bezug zu gefallenen Schweden im 30jährigen Krieg ließ sich ebenfalls durch nichts belegen.

Aber es gibt noch eine andere gewichtige Deutungsmöglichkeit für das „Bonifatiuskreuz". Wenn im Mittelalter ein Mord oder Totschlag begangen worden war, so wurde dem Täter oftmals in einem Sühnevertrag auferlegt, daß er nicht nur den Angehörigen seines Opfers eine Geldsumme als Entschädigung für den Verlust des Ernährers zu zahlen, sondern auch zur Sühne eine Wallfahrt zu unternehmen hatte. Als sichtbares Zeichen mußte er nicht selten auch an einem häufig begangenen Ort auf seine Kosten ein sog. „Sühnekreuz" aufstellen lassen, zur mahnenden Erinnerung an seine frevelhafte Tat und zur Aufforderung, ein stilles Gebet für das Opfer zu sprechen. Diese Sühnekreuze wurden oftmals mit Zeichen und Einritzungen versehen, die einen besonderen Bezug zur Tat oder zum Opfer hatten. So gibt es z.B. Steinkreuze mit eingeritztem Pflugsech als Hinweis auf den Beruf des Erschlagenen (Bauer), oder es wird die Mordwaffe abgebildet, durch die der Getötete umkam, z.B. ein Beil.

Die Ritzzeichnungen auf der Vorderseite des hier besprochenen „Bonifatiuskreuzes" lassen sich unschwer als Umrisse eines Messers (oder als vereinfachte Form eines Flugsechs) sowie die Abbildung von zwei Gliedern einer Kette deuten, beides gegebenenfalls Anhaltspunkte für die Mordwaffe bzw. den Beruf des Getöteten (Schmied).

In der Literatur sind zahllose Beispiele solcher mittelalterlicher Sühnekreuze aus ganz Europa überliefert, auch die Tatsache, daß diese Kreuze oft vergesellschaftet mit anderen ähnlichen Steinmalen aufgestellt waren, wie in Eschborn auch.

Ob man dazu neigt, das Steinmal als „Bonifatiuskreuz" mit dem Trauerzug des Hl. Bonifatius von Mainz nach Fulda in Zusammenhang zu bringen - oder ob der Gedanke des mittelalterlichen Sühnekreuzes eher belegt scheint, ist letztlich unerheblich. Das Kreuz ist nachweislich eines der ältesten Steindenkmäler im Rhein-Main-Gebiet und verdient alleine von daher gebührende historische Beachtung.

Die Flurdenkmalgruppe an der alten „Steinernen Straße", in der Mitte das „Bonifatiuskreuz". Zeichnung von Hanny Franke 1930. Original im Stadtarchiv Eschborn.

Aus: Zwischen Main und Taunus / Jahrbuch 1995 - mit freundlicher Erlaubnis des Autors
17.8.05