Zur Person des Chronisten Siegfried Wurche

. . . der Mann, der immer alles genau wissen wollte. Das kann man unschwer als Summe seines Lebens feststellen. Eine Teilsumme nur, gewiß. Denn er ist ein wirklich vielseitiger, weltoffener Mensch. Mit vielen Talenten ausgezeichnet. Und mit solidem handwerklichen Können bei allem, was er anfaßt. Und dann auch nicht mehr losläßt. Aber wann tut er das schon - wann läßt er eine Sache los oder wann läßt ihn eine Sache los? Wann ist eine Sache wirklich "fertig"?

Sein Leben begann so, daß es ihm geradezu vorbestimmt zu sein scheint, nicht still, schweigsam, genügsam zu sein. Geboren am 9. November 1914 in Nieder- Hartmannsdorf im uns heute so fernen Schlesien, einem kleinen Dorf mit damals 1200 Einwohnern. Vater und Mutter durften nicht heiraten: eine religiöse "Mischehe" ließ das örtliche Milieu nicht zu. Der Erzeuger fiel im Krieg. "Stiefvater" Gustav, Atheist, wurde ihm ein guter Vater. Die Mutter fest in ihrer evangelischen Welt. Siegfried Wurche also "unehelich" - das sagt sich heute so leicht. Und der Vater Atheist. Leben in einem Dorf. Mit den festen Moralurteilen, wie sie für Dörfer, schon immer typisch waren. Kleiner Horizont zwischen hohen Bergen, Vorurteile wie feste Mauern.

Siegfried Wurche wuchs in einer Umgebung auf, die auch ihm, wie vielen anderen Heranwachsenden, nicht freundlich gesonnen war. Er war einer von denen, auf die im Dorf mit Fingern gezeigt wurde. Von den anderen, deren Welt ja in Ordnung war. Das war für ihn nicht leicht - es muß sich ein ganz junger Mensch wohl entscheiden, wie er seinen Lebensweg gehen will. Anpassung - oder Kampf? Amboß - oder Hammer sein?

Vielleicht half ihm die Not, die Not, sich gerade auch als Sohn eines Atheisten behaupten zu müssen, sich zu stellen gegen eine Welt voller sicherer Gewißheiten. Der anderen, der vielen. Er, - Siegfried. Aber sei es gestattet? - sein Namen ist Omen, ein gutes. Er wird Kämpfer, sein ganzes Leben lang. Und darauf aufbauend der große Frager. Warum ist das so? Und jenes anders? Und warum ist ein anderes besser? Nur weil es die anderen so sehen, weil sie stärkere Argumente haben? Durch ihre größere Zahl? Er erkennt: Auch wenn viele einer Meinung sind - sie alle können irren.

Siegfried Wurche ist ein toleranter Mensch, der die Menschen liebt. Weil er sie kennengelernt hat. Ein erster "Knorz" in seinem jungen Leben war der evangelische Pfarrer in seinem Dorf. Der hatte Vorurteile gegen den kleinen unehelichen Buben, dem nicht der rechte Glauben mit auf den Weg gegeben worden war. Wollte der junge Siegfried nicht untergehen, mußte er aus sich heraus Selbstvertrauen und Sicherheit gewinnen. Es gelang - weil seine Mutter, stark im evangelischen Glauben, ihm ein Ethos vorlebte, das ihn trotzdem an der Religion nicht verzweifeln ließ. Er setzte sich durch, war in der SAJ einer der wenigen Kirchenangehörigen. Und wurde trotzdem respektiert.

Später fand er bei seiner Trauung durch einen Widerstandspfarrer ein Grundvertrauen zu Menschen dieses Standes, das ihn nicht mehr verlassen hat: ein guter Pfarrer ist auch heute noch für ihn ein Mensch, mit dem er offen - und kritisch -, vor allem aber vertrauensvoll reden, diskutieren kann, dem er gerne Fragen stellt über alles, was ihn bewegt, aber ebenso in Frage stellt, was nur durch das Votum von "Autoritäten" postuliert ist.

Siegfried Wurche wurde ein Suchender. Aber glücklicherweise mit festen Anhaltspunkten, die ihm Orientierung gaben. Er wurde fündig in einem langen Leben. Das jedoch war kein Zufall.

Dem Arbeitersohn aus dem kleinen Dorf stand nur eine vierklassige Volksschule zur Verfügung. Danach lernte er den für viele Männer des alten "Arbeiter-Adels" typischen Beruf: er wurde Schriftsetzer, machte seine Gehilfenprüfung 1934, auf eigene Kosten, da der Lehrbetrieb nicht mehr liquide war. Gewerkschaftler wurde er schon als Lehrling, 1930, im Verband der Deutschen Buchdrucker in Görlitz. Wissen, wohin man gehört: bei manchem fängt es eben früh an.

Der Vierte Stand - Siegfried Wurche

Siegfried Wurche - 1997

Sozialdemokrat seit 1932, hatte er hinreichend Gelegenheit, den SA-Terror am eigenen Leib zu erleben - kein Wunder, daß er mit Nazis (gewiß nicht "Nationalsozialisten", wie man heute so schön cool-teilnahmslos formuliert) nichts am Hut hatte; den Terror auf den Straßen lernte er kennen, an den Einmarsch von SA-Horden in das Görlitzer Arbeiterviertel nach der "Machtergreifung" Hitlers 1933 kann er sich sehr gut erinnern, an die Maschinengewehre und die aufgepflanzten Bajonette. Die Nazis wußten eben, wo ihre wirklichen Gegner zu finden waren. Die Verhaftungen, die sie unverzüglich vornahmen, haben es auch in der Heimat von Siegfried Wurche blutig vor Augen geführt. 1934/35 arbeitslos, führte ihn sein weiterer Weg in den Arbeitsdienst, den Wehrdienst und schließlich in den Kriegsdienst. Seine Heirat 1939 gab ihm Halt, die schlimme Zeit des Krieges zu überstehen.

Sein neues, jetzt endlich selbstbestimmtes Leben fing an mit seiner Ankunft am 23. Juli 1945 in Eschborn: Krieg und Gefangenschaft waren überstanden, die Familie war glücklich vereint, er fand bald Arbeit, trat wieder in Gewerkschaft und SPD ein. Im Jahre 1948 fand der 34-jährige seine Bestimmung: er wurde Gemeindevertreter, dann Beigeordneter, schließlich Stadtrat mit eigenem Dezernat. Er wirkte von Anfang an für andere Menschen, denen er half, wo er - im Zusammenwirken mit seinen zahlreichen politischen Freunden - konnte. Zunächst die typischen Nachkriegsaufgaben: Bezugsschein-Kommission, Wohnungen, Brennstoffe, Lebensmittel. Und dann alles, was in einer zunächst kleinen Gemeinde für die Bürger, für das Gemeinwesen getan werden mußte, dann im Rahmen der immer größer, wohlhabender und erfolgreicher werdenden Stadt Eschborn. Diese Zeit endete 1974 - er wollte als 60 jähriger den Jüngeren eine Chance geben. Viele gerade dieser Jüngeren in seiner Partei haben deshalb mit ihm gehadert; sie waren zutiefst davon überzeugt, daß er noch unendlich viel an der vorderen Front hätte bewirken können.

Siegfried Wurche jedoch fing einen neuen Lebensabschnitt an (nachdem er in der kommunalpolitischen Zeit schon Mitbegründer vieler Eschborner Vereine und Organisationen gewesen war): er widmete sich jetzt seinen persönlichen Studien. Geschichte in vielen Spielarten: deutsche Geschichte überhaupt, Arbeiterschaft mit Gewerkschaften und Sozialdemokratie, Nazizeit, der Vierte Stand. In mehreren Büchern und Broschüren sind die Ergebnisse für die Öffentlichkeit dokumentiert. Mehr als eine Fußnote: Das Erforschen der Familiengeschichte hat ihn schon das Jahr 1656 erreichen lassen.

Sein Wirken ist gekennzeichnet durch seine Liebe zu den Menschen, zur Philosophie, durch seine tiefe Verbundenheit mit seiner Wahlheimat Eschborn, die ihm so viel zu verdanken hat, und durch ein festes Bewußtsein, daß der Vierte Stand nicht eine erledigte Fußnote der Vergangenheit ist, sondern daß auf die arbeitenden, fleißigen Menschen in unserem Lande noch manche Herausforderung wartet, aber auch manche Chance. Die Nachfahren des Vierten Standes haben in der Sozialdemokratie wie in den Gewerkschaften ihre starken Stützen - nur müssen die Nachfahren für die Verwirklichung ihrer berechtigten Interessen und Forderungen selbst mehr tun . . . Altruisten wird es wohl künftig immer weniger geben.

Wer wüßte das besser als Siegfried Wurche, der einen langen Weg von der Not der Weimarer Zeit in die Demokratie von heute gegangen ist. Vieles macht ihm heute wieder Sorge; und er weiß: Nie waren unsere Chancen für eine bessere Zukunft getrübter als heute! Möchten doch viele der Mächtigen in Politik und Wirtschaft, in Gesellschaft und Publizistik die Uhr der Geschichte gern um genau 100 Jahre zurückdrehen. Doch Männer wie Siegfried Wurche geben ihr Vermächtnis weiter.

                                                                                H. Steffes (1997)

Aus:

Der Vierte Stand-200-00209