Vorwort
von Gerhard Beier

Wozu Arbeiter- und Parteigeschichte?

Das Buchzeitalter scheint seinem Ende nahe zu sein. Je näher das Ende des Jahrtausends rückt, desto häufiger ist allgemein vom "Ende der Geschichte" die Rede. Allzu kluge Leute meinten gar, speziell die Sozialdemokratie sei am Ende ihres Jahrhunderts angelangt, bis das Wahlergebnis vom 27. September 1998 sie eines besseren belehrte. Gleichwohl bleibt zu fragen, welchen Sinn und Zweck es hat, Geschichte in jahrelanger Anstrengung zu schreiben, für teures Geld zu drucken, und zwar in der Erwartung, daß möglichst viele Leserinnen und Leser ihre Freizeit hergeben, um so ein dickleibiges Werk zu lesen und zu studieren - und dies nicht nur im Jubiläumsjahr, sondern bis weit in das nächste Jahrtausend.

Diese Art Geschichtsschreibung und Publizistik hat einen mehrfachen Sinn. Es geht erstens um Selbstvergewisserung, um Identitätsstiftung, um Verständigung über die gemeinsame Sache, woher wir kommen und wo wir stehen. Zweitens kann die Geschichte zur Problemlösung in der aktuellen Politik beitragen, auch wenn es schwer fällt, direkte und kurzgefaßte Lehren aus der Geschichte zu ziehen. Drittens dient die Darstellung historischer Ereignisse und Zusammenhänge der theoretischen Klärung und der geistigen Auseinandersetzung sowohl unter politischen Freunden als auch gegenüber den Gegnern der sozialen Demokratie. Letztlich hilft die Arbeiter- und Parteigeschichte der Bewußtseinsbildung. Dazu gehört sowohl das historische Selbstbewußtsein, das heißt der Stolz auf eigene Leistungen in der Geschichte, als auch die Einsicht in Fehler und Irrtümer, die jedem verantwortlich handelnden Menschen unterlaufen, und zwar um so gewisser, je mehr er sich im Besitz der reinen Lehre glaubt. Wer diese höchste Bewußtseinsstufe erklimmt, ist noch lange nicht gegen Irrtümer gefeit, weiß aber damit umzugehen, ohne selber zu verzweifeln und Andersdenkende zu verteufeln.

Ein Parteijubiläum ist nicht nur ein Gedenktag, sondern ein richtiges Fest, auf dem die Teilnehmer sich gegenseitig gratulieren dürfen zu dem, was sie gemeinsam geschaffen haben. Ein solches Fest stiftet Freude und Nutzen, stärkt den Zusammenhalt, hebt Entfremdungen auf, hilft neue Mitglieder zu integrieren und mobilisiert frische Kräfte für den politischen Kampf. Die Vergangenheit ist der Anlaß eines solchen Festes. Sein Zweck aber ist die künftige Gestaltung der Verhältnisse am Ort und darüber hinaus: in Partei und Gewerkschaft, in Genossenschaften und Kulturorganisationen. Die Vergangenheit läßt sich in Wirklichkeit nicht ändern, wohl aber die Zukunft gemeinschaftlich gestalten.

Wer vom Taunuskamm in das Rhein-Main-Gebiet blickt, staunt über die Silhouette eines Mainhattan mitten in Südhessen. Nur mit Mühe kann er den Raum ausmachen, der Eschborn heißt und seine eigene Geschichte hat. Die Kulisse der Wolkenkratzer wird von Großbanken beherrscht, der Hintergrund vom Flughafen mit den einschwebenden und startenden Großflugzeugen. Der Frankfurter Großraum wird von wirtschaftlicher Dynamik und gesellschaftlichen Integrationskräften bewegt, die im vorigen Jahrhundert zuerst durch Arbeiterschaft und Sozialwissenschaften erkannt und in den Dienst ihrer Befreiungsbewegung gestellt wurden. Wer die gegenwärtigen Probleme im vollen Bewußtsein der Geschichte der Arbeiterbewegung lösen will, sieht die Aufgabe der Zukunft nicht in einer Einschränkung der Kräfte von Wirtschaft und Technik, sondern in ihrer menschlichen Orientierung und demokratisch kontrollierten Nutzanwendung. Es geht nicht um die nackten Finanzen, nicht um den Euro als solchen und nicht um den technischen Selbstzweck, sondern um ihre Dienstbarmachung, damit Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität sich weiter entfalten können in einem freiheitlichen, demokratischen, sozialen und rechtsstaatlichen Gemeinwesen, das in Zukunft Europa heißen wird.

Der Rahmen der Geschichte ist weit gezogen, denn die Arbeiterbewegung verstand sich als Volksbewegung, und die Sozialdemokratie definiert sich als Volkspartei. Gleichwohl macht die Beschäftigung mit der Geschichte deutlich, daß nicht alles, was sich "Volkspartei" oder "Arbeiterpartei" nennt und nicht jede Bewegung, die sich als "sozialistisch" auszugeben versucht, in den Rahmen eines freiheitlichen und demokratischen Sozialismus und in den Mantel der deutschen Sozialdemokratie paßt. Bewegungen und Parteien gewinnen ihre Kraft nicht durch Aufnahme möglichst vieler Mitglieder und Mitkämpfer. Es bedarf der Verständigung und Klarheit über Grundsätze und Ziele. Dazu gehört die Auseinandersetzung mit Andersdenkenden und die positive Unterscheidung von Gruppierungen, die letztlich andere Ziele verfolgen als im Grundsatzprogramm der SPD ausformuliert.

Der Mensch ist ein bewußt sich selbst verwirklichendes Wesen, und zwar als zoon politikon, als gesellschaftlich wirkendes Subjekt, das sich zusammenschließt, sich organisiert und in sozialen Zusammenhängen agiert. Die Parteien sind durch das Grundgesetz privilegiert, um bei der politischen Meinungs- und Willensbildung mitzuwirken. Der Ortsverein Eschborn der SPD setzt durch seine Hundertjahrfeier und durch seine historische Festschrift ein Zeichen, wie diese Aufgabe bereits wahrgenommen wurde, als der Staat noch als Instrument zur Unterdrückung des Volkswillens mißbraucht wurde. Die Eschborner Sozialdemokratie kann stolz darauf sein, der Tyrannei wiederholt widerstanden zu haben, und der demokratischen Entwicklung in vorbildlicher Weise zu dienen.

Es ist viel geschafft, aber die Geschichte bleibt nicht stehen. Die Herausforderungen der Zukunft verlangen eine Kraft und ein Bewußtsein, das sich aus der Geschichte ableitet, ohne an die Geschichte gefesselt zu sein. Die "Arbeiterverbrüderung", die vor hundertfünfzig Jahren in Deutschland gegründet wurde und die erste Organisationsform der sozialen Demokratie in Mitteleuropa darstellte, folgte dem Leitsatz, einen "Verein" zu bilden, "um Menschen zu werden". Angesichts künftiger Herausforderungen durch Wissenschaft, Technik und Wirtschaft möchte ich dazu aufrufen, Menschen zu bleiben, um vereint in die Zukunft zu schreiten. Dazu gehört auch die Bereitschaft, sich lesend zu verständigen, was historisch war und geschichtlich bleiben wird.

Kronberg/Ts., im Januar 1999

Gerhard Beier

ADer Vierte Stand - das Buchus: