Vorbemerkung
von Prof. Theodor Niederquell
zur Familienforschung ganz grundsätzlich

Seit der Zeit des Nationalsozialismus, als sie zur Stützung unsinniger, rassistischer Thesen herhalten mußte, sieht sich die Genealogie in weiten Kreisen einer reservierten Betrachtung ausgesetzt. Ihre Einschätzung als überflüssig, wenn nicht gar gefährlich, ist inzwischen einer gewissen Herablassung gewichen, die sich bestenfalls als wertfreie Liebhaberei einstuft, zumal wenn sie von Laien betrieben wird. Wenn dann noch die eigene Familie als bevorzugter Forschungsgegenstand hinzukommt, und die dann auch noch eine ehemals hervorgehobene soziale Stellung innehatte, stellt sich nur zu leicht ein gedanklicher Zusammenhang mit Begriffen wie "selbstgefällig", "hochgestochen" oder "elitär" ein, verbunden mit der Neigung, Genealogen dieser Art einen großzügigen Umgang mit den überlieferten Tatsachen "zum höheren Ruhm der Familie" zu unterstellen.

Anzeichen deuten darauf hin, daß der Genealogie in absehbarer Zeit ein weiterer Widerstand zuwachsen wird, dessen Motto zwar noch nicht formuliert ist, der sich aber zwangsläufig aus der Forderung nach einer "multikulturellen Gesellschaft" ergibt, die sich nur dann verwirklichen läßt, wenn man die theoretische Gleichberechtigung der unterschiedlichsten kulturellen Erscheinungen unterstreicht und die Hervorhebung und Herleitung einer einzigen - nämlich unserer über die verwandtschaftliche Abfolge der Generationen - vermeidet.

Auch heute noch erwartet man, daß einer Veröffentlichung genealogischen Inhalts, die ernst genommen werden will, eine allgemeine und eine besondere Rechtfertigung vorausgeschickt wird, obwohl alle Argumente zu diesem Thema bis zum Überdruß längst ausgebreitet sind. Ein Verweis darauf müßte eigentlich genügen. Um sie aber nicht der Geringachtung der Fachsprache anheim fallen zu lassen, soll hier gesagt werden, was zum richtigen Verständnis nötig erscheint.

Der Vorwurf ein familien- oder standesbezogenes Material aufgearbeitet zu haben, kann den Bearbeiter [Hansjörg Ziegler] nicht treffen, seine Familie kommt darin nicht vor und die Eschborner des ausgehenden 17. bis zum beginnenden 20. Jahrhunderts bieten die gesamte Breite sozialer Erscheinungsformen der Landbevölkerung, die hier zu erwarten war. Daß er vom Ausbildungsgang her ein "Lai" ist, kann bestenfalls eine Eingangsschwierigkeit gewesen sein. Nach dem Überschreiten einer Hemmschwelle ist er sehr schnell zu einer erstaunlichen Kennerschaft auf breiter Grundlage fortgeschritten, die sich keinesfalls auf Eschborner Gegebenheiten beschränkt. Bleibt demnach eine Betrachtung des Inhalts, dem man über drei erhebliche Fragen an das vorgelegte Material näher kommen kann.

1. Hat es einen praktischen Gebrauchswert? Man ist mit einem uneingeschränkten "Nein" schnell bei der Hand, sieht man es ausschließlich unter Eschborner Gesichtspunkten, zögert aber sogleich, wenn ein erweiterter Blickwinkel angelegt wird. Wir übergehen hier die wenigen Institute, die sich unter teilweise merkwürdigen Umständen über alle Brüche in der sozialen Landschaft seit dem Ende des "Alten Reiches" hinweggerettet haben und bis heute von ihren Kandidaten einen genealogischen Nachweis über die Zugehörigkeit zu bestimmten Standesgruppen verlangen. Oder die höchst seltenen Fälle, in denen bei Erbschaftsstreitigkeiten von der Genealogie der Beweis eines näheren oder ferneren Zusammenhangs mit der Person des Erblassers geliefert werden muß. Die in jüngster Zeit nötigen Dokumente über die Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Deutschen in Osteuropa für Übersiedlungswillige jedoch zeigt, daß auch heute noch der Genealogie in gewissen Situationen ein praktischer Gebrauchswert für die Betroffenen sogar von existentieller Bedeutung zukommen kann.

2. Ist es von Bedeutung für die Wissenschaft? Diese Frage ist ohne Einschränkung zu bejahen. Besonders die Demographie, die sich mit den Veränderungen der biologischen Struktur der Bevölkerung beschäftigt, ist darauf angewiesen, daß ihr aus dem lokalen Bereich Informationen zugeleitet werden, die über die neuesten Methoden der Datenverarbeitung erfaßt einen vorhandenen und stetig wachsenden Fundus bereichern, der die Grundlage für die statistische Darstellung von Erscheinungen abgibt, wie beispielsweise das durchschnittliche Lebens- und Heiratsalter, die Dauer von Ehen, die Zahl der Geburten und Mehrfachgeburten, Säuglings- und Kindersterblichkeit, von außen auf den Bestand der Bevölkerung einwirkende Faktoren, ihre Folgen und deren Überwindung und zahlreiche weitere Fragen im Rahmen desselben Forschungsgebietes einer Klärung näher bringt. Material der hier vorgelegten Art ist in seiner Vollständigkeit und Korrektheit dafür willkommen.

Obwohl die Eschborner unter diesem Gesichtspunkt nichts zu verbergen haben, verzichtet der Bearbeiter auf individuelle Angaben zu Einzelpersonen. Von mehreren guten Gründen, die ihn dazu veranlaßten, sollen hier nur angeführt werden: durch die ungleichmäßige Überlieferung, die womöglich nur eine Berufs- oder Standesgruppe betrifft oder bei Gerichtsakten nur solche, die in einer bestimmten Hinsicht straffällig geworden sind, entziehen sich solche Angaben einer statistischen Erfassung. Das Alltägliche und Selbstverständliche war den Zeitgenossen nicht überlieferungswert, da es Jedermann bekannt war, während nur das Außergewöhnliche, Absonderliche und Auffällige in den Vordergrund drängt. Da nun - wie täglich aus den Überschriften der Boulevardzeitungen zu erfahren - das Sensationelle meist negativ geprägt ist, könnte nur zu leicht der Eindruck entstehen, die Eschborner seien weniger "gut" als andere gewesen, von denen man die Einzelheiten eben nicht kennt. Sie waren es mit Sicherheit nicht.

3. Ist es denkbar, daß die Kenntnis über die Vorfahren bei einem heutigen Mitbürger mehr hervorbringen könnte, als ein antiquarisches Interesse?

So etwa müßte man vorsichtig in der Art altmodischer Aufsatzthemen im Deutschunterricht der gymnasialen Oberstufe die Frage nach dem dritten Bereich formulieren, der dem Bearbeiter [Hansjörg Ziegler] wichtig gewesen ist.

Die Antwort würde bei einem Teil der Befragten positiv lauten, von zögernder Zustimmung bis zur Bekräftigung einer Selbstverständlichkeit, andere verhielten sich neutral und mit einer weiteren Gruppe ist mit Sicherheit zu rechnen, die für bedingungslose Ablehnung plädierten. Ein Versuch zur Vereinigung der Standpunkte wäre erfolglos.

Die Zustimmenden würden sogleich Tradition und genealogische zu untermauernde Bindungen an Familie, Heimat, Herkunftsort und -landschaft als Begründungen anführen und unterschwellige Assoziationen zu durch den Nationalsozialismus diskreditierten Begriffen wie "Blut und Boden", "angestammte Scholle" etc. hervorrufen. Sie wären aber zumindest gegen den heute vielfach erhobenen Vorwurf der Bindungs- und Geschichtslosigkeit gefeit.

Die Ablehnenden wären in zwei Gruppen zu unterteilen. In solche, die erfolgreich in der heutigen Lebens- und Arbeitswelt auf die zusätzliche Festigung ihrer Selbsteinschätzung durch eine genealogische Herleitung, verzichten können und solche, denen ohne Erfolg der dünne Faden dieser Herleitung auch keinen Anhaltspunkt zum Aufstieg in eine bessere Position bieten kann.

Als Anregung wäre allenfalls zu erwägen, um allen heutigen Eschbornern die Möglichkeit zu eröffnen, an dem - wie gering auch immer eingeschätzten - Nutzen einer örtlichen Bindung teilzunehmen, ob man nicht eine kollektive nichtgenealogische Vorfahrenschaft feststellen sollte, die jeder Eschborner für sich in Anspruch nehmen könnte, ob er nun aus einer früher wichtigen und tonangebenden Familie stammt, oder ob er oder seine Vorfahren seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts oder erst heute nach Eschborn zugezogen sind, sich aber in der einen oder anderen Weise dem Ort und seiner Bewohnern verbunden sehen und ein Heimatgefühl entwickelt haben.

In diesem Zusammenhang wird gerne ein Goethe-Zitat bemüht, das zwar die perfekte Stilisierung des Dichterfürsten für sich hat, ansonsten inhaltlich die Sache aber nicht trifft. Goethe legt der Titelheldin des Schauspiels "Iphigenie auf Tauris", II. Aufzug, 3. Auftritt, die Worte in den Mund, als sie von Thoas, dem Inselkönig, nach ihrer Herkunft gefragt wird:

    Wohl dem, der seiner Väter gern gedenkt, der froh von ihren Taten, ihrer Größe den Hörer unterhält, und still sich freuend ans Ende dieser schönen Reihe sich geschlossen sieht!

Bei ihr ist der Komplex bezüglich ihrer Vorfahren nur zu gut verständlich, da sie als Tochter des Agamemnon und der Klytämnestra zu dem verfluchten Hause des Tantalus gehörte und mit einer Schauergalerie von Schwerverbrechern als Vorfahrenschaft belastet war. Auch nicht im Entferntesten muß ein Eschborner mit einem solchen Zustand rechnen. Er sollte also "seiner Väter gern gedenken" und wenn die hier vorgelegte Abhandlung auch nur in dem einen oder anderen Falle die Motivation abgibt, es gelegentlich zu tun, ist sie bereits in sich gerechtfertigt.

Aus:
Familienbuch Eschborn