Der freiwillige / unfreiwillige Soldat Hansjörg Ziegler

Als ich im Juli 1940 meine Einberufung zum jugoslawischen Heer erhielt, flüchtete ich aus meiner damaligen Heimat Jugoslawien. Ich wurde fahnenflüchtig! Daß darauf die Todesstrafe stand, war mir bewußt. Ich flüchtete, nicht weil ich kein Soldat werden wollte - nein, ich wollte nur, wenn es schon sein mußte, kein jugoslawischer, sondern deutscher Soldat werden.Hansjörg Ziegler als Soldat

Heute frage ich mich oft, war es jugendlicher Leichtsinn oder war es Pflichtbewußtsein, was mich damals, im Sommer des Jahres 1940, bewog, mich solch einer Gefahr auszusetzen. Ich glaube, letzteres war der Fall. Auch wenn dies heute keiner mehr verstehen will und kann und man nur ein müdes Lächeln dafür übrig hat. Denn auf Fahnenflucht stand die Todesstrafe! Vor der ich mich aber nicht mehr zu fürchten brauchte, als es mir gelang, wenn auch auf allen vieren kriechend, die Grenze zu Ungarn unbemerkt von der jugoslawischen Grenzpolizei zu überwinden.

Doch kaum in Ungarn angekommen, wurde ich von der ungarischen Gendarmerie verhaftet. Nach mehreren Verhören wurde ich nach Budapest ins „Schubhaus" eingeliefert. Nach neuerlichen Verhören und Fragen nach dem Woher und Wohin wurde mir gesagt daß man die Deutsche Botschaft von meiner Anwesenheit und von meinem Wunsch, nach Deutschland einzureisen, unterrichten und daß die darüber entscheiden werde.

Doch als sich zwei Wochen lang nichts tat, trat ich in den Hungerstreik. Nach ein paar Tagen war ich so entkräftet, daß ich nicht mehr aufstehen konnte. Mein Zustand wurde der Deutschen Botschaft gemeldet, und siehe da, ein Vertreter der Botschaft erschien. Aber die Hoffnung auf eine freudige Begegnung mit einem Reichsdeutschen schlug bald in bittere Enttäuschung um. Er schrie mich aus Leibeskräften an, was ich mir einbilden würde und wer ich denn sei, daß ich nicht in Ruhe abwarten könne, in der Zeit, in der das deutsche Volk im Lebenskampf stünde und ganz andere Sorgen hätte, bis man Zeit für mich armes Würstchen hätte, und derlei Phrasen noch mehr. Als er sich etwas beruhigt und sich nach meinem Woher und nach meinen Wünschen erkundigt hatte, wurde ich auf die Deutsche Botschaft geschafft, dort ein paar Tage aufgepäppelt und in einem Sammeltransport nach Wien in ein Auffangheim gebracht.

Doch wenn ich glaubte, nun am Ziel meiner Wünsche angekommen zu sein, dann irrte ich. Zwei Tage darauf kam ich zur Musterung. Es war die Musterungskommission der Waffen-SS. Zu meinem Glück war ich für die Waffen-SS untauglich. Denn ich entsprach nicht dem „nordischen Typ". Ich war drei Zentimeter zu klein. Daß ich es heute als Glück empfinde, damals für diese Waffengattung nicht tauglich gewesen zu sein, liegt einfach in dem Gedanken, daß, wenn es umgekehrt gekommen wäre, auch ich vielleicht „den Heldentod fürs Vaterland gestorben" wäre. Und daß ich es damals als Glück empfand, lag daran, daß ich nicht zur Waffen-SS, die mir bis dahin unbekannt war, wollte. Ich wollte zu den „tollkühnen Helden", von denen die Zeitungen auch in Jugoslawien berichteten - ich wollte zu den Fallschirmjägern. Doch dafür war angeblich diese Musterungskommission nicht zuständig.

Ich kam dann mit einem Transport nach Bukow bei Küstrin in der Märkischen Schweiz, wo ich gemustert werden sollte. Doch weit gefehlt. Der Transport bestand aus Landarbeitern, die von dort zur Arbeit vermittelt wurden. Gleich am nächsten Tag hieß es, daß Arbeitsvermittler kämen und alle sich für die Vermittlung bereit halten sollten. Daß ich, da ich ja keine Arbeit wollte, auch gemeint sei, ahnte ich da noch nicht. Doch das war ein Irrtum. Ich setzte mich in den Park und las in einem Buch. Am Nachmittag wurde auch ich aufgerufen. Der Empfang vom Arbeitsvermittler war alles, nur nicht freundlich. Er war verärgert und wollte von mir gleich wissen, warum ich mich nicht melden würde, wo ich doch der einzige in dem Transport sei, der einen handwerklichen Beruf habe und noch dazu einen, wo es in der Versorgungswirtschaft an Kräften überall fehle. Und als ich ihm sagte, daß ich ja nicht da sei, weil ich Arbeit wolle, sondern gemustert werden sollte, schrie er mich an: „Was bilden Sie sich denn ein, wer sind Sie denn überhaupt? Und lassen Sie sich gesagt sein, wenn Sie das Ehrenkleid des deutschen Volkes tragen möchten, müssen Sie sich dies erst durch Arbeit verdienen."

Nach weiteren solchen Erklärungen meinte er noch, daß das Reich genügend eigene Soldaten habe und viele tausend Freiwillige aus anderen Staaten. Als ich ihm darauf erwiderte, daß auch ich solch ein „Freiwilliger" sei, gab er mir eine Meldekarte mit der Adresse eines Metzgerbetriebes in Küstrin, bei dem ich mich zur Arbeit melden sollte, und unsere Unterredung war beendet.

Doch nicht lange hielt ich es dort aus. Aber das lag nicht nur an mir. Auch von Seiten des Meisterhauses gab es Unzufriedenheiten. Nicht an meiner Person und meiner Arbeit. Nein! Sondern es fehlte mir an allem. Zu essen bekam ich, aber sie konnten keine Essenmarken für mich erhalten. Auch mit Bezugsscheinen für Kleidung und Wäsche haperte es. Ich hatte nichts zum Anziehen und keine Wäsche zum Wechseln. Nur das, was ich schon bei der Flucht auf dem Leibe trug. Und danach roch es auch! Denn inzwischen waren schon vier Wochen vergangen. Und so konnte ich in einem Lebensmittel erzeugenden Betrieb doch nicht arbeiten. In meiner Verzweiflung faßte ich den Entschluß, alles stehen und liegen zu lassen und fortzulaufen. Weit weg wollte ich. Nach Salzburg. Dort waren meine Schwester Marianne als Schneiderin und ihr Mann als Schreiner in Arbeit. Dort wollte ich hin! Doch schon auf der ersten Etappe, auf der Straße von Küstrin nach Frankfurt an der Oder, wurde mir klar, daß ich das nicht schaffen würde. Wie sollte ich auch? Keine müde Mark in der Tasche! Keine Brot-, keine Fleisch- und keine Wurstmärkchen. Und ohne diese konnte man sich nichts kaufen. Und selbst wenn ich diese gehabt hätte, hätte man mich, wenn ich mich in der Öffentlichkeit gezeigt hätte, sicher gleich verhaftet. Und ohne zu essen würde ich bestimmt nicht weit kommen. Schon an diesem ersten Tage waren nur am Straßenrand aufgelesene Falläpfel meine Verpflegung.

Gegen Abend kam ich in Frankfurt an der Oder an. Ich setzte mich etwas abseits im Park auf eine Bank und wollte dort die Nacht verbringen. Doch nach einer Weile fing es an zu regnen und ich verkroch mich in einen Hauseingang. Doch kaum war ich wieder eingeschlafen, wurde ich durch lautes Schreien geweckt. Eine Frau stand schimpfend vor mir, weil ich ihr den Eingang versperre, und drohte, die Polizei zu rufen. Da fiel mir das Unausführbare meines Wollens ein und ich gab auf. Ich versuchte sie zu beruhigen und fragte sie, wo das Polizeirevier sei und daß ich selber hingehen würde. Und als sie mir sagte, daß dies gleich um die Ecke sei, wünschte ich ihr höflich eine „Gute Nacht", was sie etwas verdutzt dreinschauen ließ, und ging zur Polizei.

Auf mein Läuten wurde ich in das Revier eingelassen, und als ich ihnen erklärte, wer ich sei, woher ich komme und wohin ich wollte und daß ich nun eine Bleibe suche, meinten sie, daß sie mir zwar glaubten, aber nicht dürften, und weil ich kein Zuhause habe, müßten sie mich so lange in Haft nehmen, bis meine Angaben überprüft und als richtig befunden würden. Ich kam in eine Haftzelle mit vier Betten, in der schon drei besetzt waren und aus denen ein Murren über die Störung zu hören war. Es sollte aber nicht die einzige Störung in dieser Nacht sein. Denn kaum waren wir eingeschlafen, gab es Fliegeralarm. Den ersten, den ich erlebte. Während der Alarmdauer durften wir die Zelle nicht verlassen.

Die Polizeihaft in Frankfurt an der Oder dauerte drei Wochen. Denn die Mühlen mahlten langsam. Es wurde in Bukow, in Küstrin und in Wien rückgefragt; von dort wurden alle meine Angaben als richtig bestätigt. In der Zeit begann, durch die Unsauberkeit, meine rechte Körperhälfte zu eitern. Am schlimmsten betroffen waren die Rißwunden an Oberarm und Schenkel, die ich mir bei der Flucht während des Robbens durch ein Weizenfeld an Brombeerranken zugezogen hatte. Ich wurde jeden zweiten Tag, begleitet von einem Posten mit aufgepflanztem Bajonett, von so manchen bösen, aber auch von mitleidigen Blicken der Vorübergehenden begleitet, durch die Hauptstraße der Stadt zum Verbandswechsel ins Krankenhaus geführt. Auch wurde ich gebadet und bekam saubere Unterwäsche und ein Hemd. Dies geschah dreimal. Die Wäsche durfte ich behalten.

In der dritten Woche wurde ich dem Haftrichter vorgeführt. Der erklärte mir, daß alle meine Angaben zur Person überprüft und für richtig befunden wurden. Er teilte mir aber auch mit, daß ich kein Soldat werden könne und Arbeit annehmen müsse. Sollte ich diese aber verweigern und weil er mich in die eigene Heimat nicht abschieben könne, müßte er mich dann in ein Arbeitslager einweisen. Zu meinem Erstaunen fügte er noch hinzu, daß ihm ein Schreiben des Vertreters der Deutschen Volksgruppe in Jugoslawien, Dr. Steyer in Berlin, an mich vorliege, aus dem hervorgehe, daß die Deutsche Volksgruppe, nachdem ich bei der Musterung als „heimatdiensttauglich" befunden wurde, andere Interessen an meiner Person habe und ein Stipendium beim VDA für eine Umschulung erwirken werde. Dazu muß gesagt werden, daß ich in der Volksgruppenarbeit als Jugendleiter tätig war und meine Flucht dem Obmann unseres Bezirks mitteilte. Der Haftrichter übergab mir den Brief, und nachdem ich ihn gelesen hatte, erklärte ich mich bereit, Arbeit anzunehmen, denn inzwischen sei mir die Lust, „das Ehrenkleid des deutschen Volkes zu tragen", vergangen.

Mein neuer Arbeitsplatz war Booßen, nicht weit von Frankfurt an der Oder. Hier verbrachte ich mehrere Monate, das heißt bis sich für mich und meine Zukunft alles geklärt hatte. Ich fuhr öfters nach Berlin zu Dr. Steyer, der mir die Wünsche der Volksgruppe mitteilte und an den auch die Pakete und Briefe von meinen Eltern, die in Wirklichkeit, wegen eventuellen staatlichen Sanktionen, nicht wissen durften, wo ich sei, über die Deutsche Botschaft in Belgrad gingen. Dr. Steyer schlug mir vor, mich zum Lehrer ausbilden zu lassen. Ich nahm den Vorschlag mit Freude an, denn es war insgeheim schon immer mein Wunsch, Lehrer zu werden. Leider wurde nichts daraus. Ich fiel bei der Prüfung in „Deutsch" durch. Dann schlug er mir vor, den Beruf Schriftsetzer zu erlernen. Gut und schön, aber was ist ein Schriftsetzer? Was macht der? Was ein Buchdrucker ist, wußte ich. Aber daß der Drucker das druckt, was ein Schriftsetzer schafft, wie es mir Dr. Steyer lächelnd erklärte, das wußte ich nicht. Ich erklärte mich zu einer Umschulung für den Beruf, den ich bis dahin nicht kannte, bereit. Dies bereue ich bis heute nicht. Denn der Beruf wurde mir zur „Berufung"!

Nach ein paar Wochen, im November 1941, war es dann soweit. Ich verließ den mir vertrauten Ort, an dem sich inzwischen sehr herzliche menschliche Beziehungen ergeben hatten, die auf mein späteres Leben nicht ohne Einfluß blieben. Ich fuhr nach Frankfurt am Main. Hier in der Weserstraße war das Junghandwerkerheim des „Vereins für das Deutschtum im Ausland", das mir für die Zeit der Umschulung mein Zuhause sein sollte. Hier im Kreise von Volksdeutschen Umschülern aus Ungarn, Jugoslawien, Rumänien, Bulgarien und den in der Hauswirtschaft tätigen drei Mädchen aus Ungarn verbrachte ich eine schöne Zeit während meiner zweieinhalbjährigen Lehrzeit. Mit einem der drei Mädchen schloß ich eine engere Freundschaft. Im Mai 1943 fuhren wir zusammen in den Urlaub nach Salzburg zu meiner Schwester Marianne und im Oktober heirateten wir im Frankfurter Römer, und bald darauf kam unsere Tochter Runhild zur Welt.

Auch ein nicht so erfreuliches Ereignis aus dieser Zeit möchte ich hier anführen. Als wir von unserem Salzburg-Urlaub zurückkamen, gab es im Heim große Aufregung, und Heimleiter Großmann sagte mir, daß mich die Gestapo suche und daß ich mich beim Sturmführer, den Namen habe ich inzwischen vergessen, in der Lindenstraße melden solle. Nichts Schlimmes ahnend ging ich hin. Doch gleich nachdem ich in sein Zimmer durfte und er mich nach meinen Personalien ausfragte und wissen wollte, wo ich die letzten vierzehn Tage überall war und ich ihm Rede und Antwort gab, fragte er erstaunt: „Übrigens, wieso sprichst du so gut Deutsch? Wo hast du das gelernt?" Nun war das Staunen auf meiner Seite, und ich konnte nicht anders und antwortete: „Von meiner Mutter!" Worauf er wütend auf den Tisch schlug und mich anschrie, was ich mir den erlaube und ob ich nicht wisse, wen ich vor mir habe. Das Verhör ging dann weiter, und als er wissen wollte, wieso ich mir erlaube, einen deutschen Namen zu führen und von wem ich den habe, war ich wiederum schockiert und sagte: „Auch wenn meine Antwort sie wieder erzürnt, aber ich kann nichts anderes sagen, als daß ich meinen Namen von meinem Vater habe." Da wurde er feuerrot im Gesicht und warf mich hinaus.

Daheim im Heim angekommen, wurde ich schon vom Heimleiter Großmann erwartet, der wissen wollte, was war und um was es ging. Als ich ihm alles erzählte, meinte er: „Hansjörg, du hast doch einen Ahnenpaß, gib mir den mal." Mit dem Ahnenpaß ging er in die Lindenstraße, und als er nach einer Weile wiederkam, gab er mir den Ahnenpaß zurück, und auf meine Frage, was nun war, meinte er nur: „Vergiß es. Es ist alles in Ordnung." Damit gab ich mich aber nicht zufrieden und wollte von ihm schon etwas Genaueres wissen, und dann sagte er, daß man mich in Verdacht hatte, daß ich ein Serbe und ein jugoslawischer Spion sei, obwohl meine Heimat seit fast zwei Jahren wieder zu Ungarn gehörte. Da habe er ihm meinen Ahnenpaß auf den Tisch gelegt und gesagt: „Volksgenosse Sturmbannführer, wenn einer solch eine Ahnenreihe vorzeigen kann, kann er niemals ein Serbe sein."

Meine Ausbildung zum Schriftsetzer erfolgte bei der „Frankfurter Zeitung" in der Großen Eschenheimer Gasse. Hier lernte ich vom ersten Tage an den Beruf zu schätzen und zu lieben. Mein Lehrmeister, Herr Behrens, und mein Berufsschullehrer, Herr Kühn, erkannten meine Schwächen und Stärken und förderten mich nach Kräften. Nach zweieinhalb Jahren, im April 1944, durfte ich die Gehilfenprüfung frühzeitig ablegen, die ich auch bestand. Ich wurde „gegautscht" und als „Jünger Gutenbergs" in die Gesellenzunft aufgenommen.

Nun galt es, so schnell als möglich nach Hause, das heißt nach Budapest zur Dienststelle der Volksgruppe zu kommen. Zusammen mit Frau und Kind, das ging nicht. Wir mußten getrennt reisen. Es bestand die Gefahr, daß ich, da ich inzwischen ungarischer Staatsbürger war, von der ungarischen Feldpolizei gleich vom Bahnhof in eine Kaserne gebracht würde. Ich bekam, da ich ja schon in Wien gemustert worden war, eine Uniform ohne Kragenspiegel und Runen verpaßt, wurde fotografiert, erhielt einen Wehrpaß mit dem Vermerk „Heimatdiensttauglich" und fuhr als Kurier nach Budapest. Bei der Gepäckausgabe am Bahnhof in Budapest gab es doch noch ein „Hallo". Der Grund war der Kinderwagen meiner Tochter, der sich unter dem militärischen Kuriergepäck befand.

Als ich mich auf der Dienststelle der Volksgruppe meldete, war man erstaunt, daß ich aus dem Reich nach Hause geschickt wurde, wo doch hier alle eingezogen würden. Auch ich sollte mich gleich unten bei dem Feldwebel der Musterungskommission melden. Da mußte ich laut lachen. Als man mich nach dem Grund meines Lachens fragte, erzählte ich ihm, daß ich nun schon fast drei Jahre lang Soldat werden wollte und man mir dies immer verwehrt und mich in die Arbeit gesteckt hatte und daß ich sogar umgeschult wurde, weil man genug Soldaten und zu wenig Arbeiter habe. Nun sei ich da und wolle arbeiten, nun dürfe ich nicht arbeiten, sondern müsse zuerst Soldat werden.

Als ich mich beim Oberscharführer Müller meldete und ihm meine Papiere gab, sagte er: „Mensch, Kollege Ziegler, dich schickt der Himmel." Nach meinem erstaunten „Wieso?" fragte er mich noch, ob ich Ungarisch und Serbisch spreche, und als ich dies bejahte, meinte er: „Auf dich habe ich schon lange gewartet!"

Dann erzählte er mir, daß er Buchdrucker sei und wir sozusagen Kollegen seien, daß er das Karteiwesen der Musterungskommission verwalte und auf eine Hilfe angewiesen sei, die Ungarisch und Serbisch spricht, weil viele Ungarn und Serben freiwillig zur Musterung kämen, und da müsse er eine Hilfe haben, die deren Sprache in Wort und Schrift versteht. Dann stellte er für mich und meine Frau eine Fahrkarte für nach Hause zu meinen Eltern aus und meinte: „Neu gemustert wirst du nicht. Wir berufen uns auf die Musterung in Wien, wie es aus deinem Wehrpaß ersichtlich ist. Du fährst jetzt nach Hause, in zwei oder drei Wochen bekommst du eine Einberufung nach hier. Du meldest dich aber nur bei mir, damit du nicht gleich woandershin kommst."

Und so kam es auch. Zwei Tage darauf kamen Frau und Kind in Budapest an. Wir fuhren zu meinen Eltern, das heißt zu Mutter, denn Vater war inzwischen auch eingezogen. Am 1. September 1944 kam der Stellungsbefehl, ich fuhr nach Budapest, während die beiden daheim bei Mutter blieben.

In Budapest meldete ich mich bei Feldwebel Müller, der mir meine Unterkunft zeigte und mich in meine Tätigkeiten einwies. Ich mußte bei Musterungen dolmetschen, Karteikarten führen, Fahrkarten ausstellen und Transporte der Gemusterten zu ihrer Garnison begleiten. Auch Kurierdienste leisten. Solch eine Kurierdienstfahrt wurde mir auch zugestanden, als bekannt wurde, daß meine Heimat geräumt würde. Ich fuhr als Kurier zum Ortskommandeur in Bácsordas, den es gar nicht gab, und wollte meiner Familie und den Eltern behilflich sein. Aber ich kam zu spät! Dreißig Kilometer vor meinem Heimatort kam mir der erste Flüchtlingstreck, den mein Taufpate Johann Fesl anführte, schon entgegen. Meine Familie war nicht darunter, und mein Pate sagte, daß sie im nächsten Treck sicher dabei sei. Ich fuhr mit einem Kradmelder bis kurz vor unseren Ortsbeginn, und da kam auch schon der nächste Treck, und dabei war meine Familie mit einem von Mutter gelenkten Planwagen. Die Kinder saßen mit auf dem Wagen, während Vater, Schwester Marianne und meine Frau Irma nebenherliefen. Es gab eine kurze, aber herzliche Begrüßung, bei der alle gegen den Tränenerguß zu kämpfen hatten.

Zwei Tage begleitete ich den Treck. Geschlafen haben meine Frau und ich auf dem Wagen, die Eltern, die Schwester und die Kinder in den von Deutschen verlassenen Häusern. Auch gekocht wurde in den Häusern. Es war ja alles noch da. Das Vieh in den Ställen und der Hof voll Geflügel. Speck, Wurst und Schinken hingen noch im Rauchfang. Bei Bezdan ging es über die Donau nach Weißkirchen. Dort trennten wir uns. Ich fuhr mit meiner Frau und unserer Tochter mit der Bahn nach Budapest. Von dort fuhren die beiden weiter zu den Schwiegereltern nach Rajka, während ich zurück auf die Dienststelle mußte.

Nach drei Monaten wurde Budapest geräumt. Über Preßburg ging es Richtung Wien. Auf einem verlassenen Gutshof übernachteten wir, und in der Frühe schlachtete ich drei Schweine, befreite sie von den Innereien, und die Kameraden luden sie auf einen Wagen. Aus dem Weinkeller haben wir etliche Flaschen guten Weines mitgenommen. Als wir am Nachmittag, es war der 31. Dezember 1944, in Wien in der Kaserne ankamen, gab es ein lautstarkes „Hallo". Was allerdings nicht uns, der zurückkehrenden Einheit, galt, sondern der Bereicherung des Küchenzettels. Und der Koch änderte sofort seinen Speiseplan für den nächsten Tag. Er wollte einen Neujahrs-Festbraten kredenzen, wie in der schönsten Friedenszeit.

Ich, der am meisten zu der Änderung des Speiseplanes beitrug, ging allerdings leer aus. Denn bald nach unserer Ankunft sollte ich mich beim wachhabenden Feldwebel melden. Der erklärte mir, daß es ihm leid tue, mir mitteilen zu müssen, daß ich wieder zurück nach Ungarn müsse. Ich sollte mit dem ersten Zug nach Ungarn bis an die Grenzstation Rajka fahren und mich dort in der Kaserne bei dem Hauptmann der Musterungskommission melden. Dort sollte ich genau den Dienst wie in Budapest ausüben. Und als ich dann die Hacken zusammenschlagend mit etwas Freude in der Stimme: „Jawohl, Herr Hauptmann!" sagte, meinte er: „Nanu, Sie freuen sich ja. Und ich dachte, Ihnen eine traurige Nachricht mitteilen zu müssen." Die Ursache meiner Freude löste das Wort „Rajka", der Ort meines Einsatzzieles, aus. Nun, er konnte ja nicht wissen, daß es der Heimatort meiner Frau ist und daß sie sich zu der Zeit dort aufhielt.

Die Marschpapiere waren schon bereit, und ich fuhr noch am späten Nachmittag zurück nach Ungarn. Kurz vor Rajka fuhr der Zug, es war so verabredet, etwas langsamer, ich warf meinen Tornister hinaus und sprang ab. Es klappte vorzüglich, was auch der Lokführer mit einem Pfeifsignal bestätigte.

Da es inzwischen neun Uhr geworden war, ging ich nicht zur Dienststelle, sondern zum Schwiegervater, wo meine nichts von meinem Kommen ahnende Frau zu der Zeit war. War das eine Freude des Wiedersehens, als ich so unerwartet in die Silvesterfeier trat! Außer den Schwiegereltern, Oma, Schwägerin und Schwager waren noch zwei deutsche Soldaten anwesend, und eine Fragerei über das Woher und das Wieso und wie das Schicksal manchmal so spielt, ließ die ganze Silvesterfeier vergessen machen.

Am nächsten Tag, am 1. Januar 1945, meldete ich mich auf der Dienststelle, bekam aber an diesem Tag dienstfrei und auch die Erlaubnis, bei den Schwiegereltern Quartier zu nehmen.

Auch hier, in Rajka, hatte ich dieselben Arbeiten wie in Budapest. Gemustert wurden zurückflutende ungarische Soldaten. Aber die Dienststelle sollte sich nicht lange halten, und Meldungen, daß der Russe immer näher rücke, veranlaßten auch die Evakuierung des Ortes. Ich bekam von meinem Hauptmann die Erlaubnis, mit dem nächsten abgehenden Transport meine Frau und unsere Tochter mitzunehmen und weiter an einen vermeintlich sicheren Ort zu bringen.

In Breslau verließen wir den Transportzug und fuhren mit einem Personenzug zu Bekannten nach Frankfurt an der Oder, wo Frau und Tochter vorerst einmal verbleiben sollten. Doch die Bekannten saßen selbst auf gepackten Koffern, weil die Stadt geräumt wurde. Ich brachte sie alle noch zur Bahn und fuhr dann, während die Stadt schon unter Beschuß lag, mit dem letzten Zug von Frankfurt an der Oder zurück nach Wien. Dort in der Kaserne angekommen, traf ich auch die anderen Kameraden von der Dienststelle Rajka, die inzwischen aufgegeben worden war.

Nach ein paar Tagen wurden wir feldmarschmäßig ausgerüstet und auf die Schwäbische Alb in Marsch gesetzt. Hier wurde eine Kampfeinheit neu aufgestellt. Ich kam zur SMG-Abteilung - Schweres Maschinengewehr. Nach etwa zwei Wochen Schießübungen wurden wir in Marsch gesetzt mit der Aufgabe, die anrückenden Amerikaner aufzuhalten. Kurz vor dem Abmarsch bekamen wir noch Verstärkung. Es waren „Freiwillige", sechzehnjährige Jungs von der HJ. Ich bekam zwei zu meiner Gruppe als Munitionsträger zugeteilt. Zuerst wurden wir auf Lkws Richtung Front gefahren, dann ging es zu Fuß dem hörbaren Kanonendonner entgegen. Hier wurden wir, die SMG-Gruppen, dem Hauptmann einer Infanterieeinheit zugeteilt - der nur lächelnd den Kopf schüttelte, als er unsere Ausrüstung sah -, während die von den schweren Geschützen selbständig operierten. Meine Aufgabe als „Schütze l" war es, den heranstürmenden Feind mit Gewehrsalven aufzuhalten. Schön und gut, nur, was konnten schon die Kugeln des SMG gegen Kanonengeschosse und Fliegerbomben ausrichten. Geschossen haben wir, und wir wurden auch beschossen. Uns wurde bald bewußt, daß wir nur Feuerschutz für die Absetzbewegungen der eigenen Infanterie geben sollten. Nach ein paar Garben aus dem SMG zogen wir uns schnellstmöglich immer ein Stück zurück, bevor der Feind das Feuer erwiderte. Doch einmal erwischte es meine Gruppe doch. Einer von unserer Gruppe wurde nur „heimaturlaubsreif" verwundet, aber einen der Jungs traf es tödlich. Als die ersten Geschosse rings um uns einschlugen, klammerte er sich an meinen linken Fuß und rief voller Angst nach seiner Mutter um Hilfe, da traf ihn ein Splitter und er war sofort tot.

Schlimm war es für uns von den SMG-Gruppen auch mit der Verpflegung. Die Infanterieeinheit, bei der wir waren, sagte, daß sie für unsere Verpflegung nicht zuständig sei, und wo unser Troß sich jeweils befand, wußten wir oft nicht oder die wußten nicht, wo wir waren. Telefone gab es für uns nicht, wir mußten immer mit einem „beschlagnahmten" Fahrrad auf die Suche nach der Küche gehen. Auch mußten wir uns oft auf einem Hof selbst versorgen.

Ein paar Tage darauf traf es auch mich. Es war am 25. April 1945 im Altmühltal, in der Nähe von Gunzenhausen. Während ich den Abzug der Kameraden sichernd hinter meinem SMG lag, durchschlug ein Splitter mir den linken Fuß, ohne daß die Kameraden etwas davon mitbekamen und so mir auch nicht helfen konnten. Laufen konnte ich nicht mehr. Auch war es nicht ratsam, als aufrechte Zielscheibe durch das Gelände zu gehen. Ich entschloß mich, ein paar Meter von dem SMG ruhig liegen zu bleiben und zu warten, was geschehen werde. Zu meinem Erstaunen blieb im Gelände alles ruhig, wie im tiefsten Frieden. Nur etwa zwei Kilometer von mir auf der Straße wälzte sich eine Masse von Fahrzeugen vorbei. In meine Nähe kamen keine vorrückenden feindlichen Soldaten, und als es Abend wurde, humpelte ich in ein in der Nähe liegendes Dorf. Dort wurde ich von mehreren Dorfbewohnern empfangen, ein Bauer brachte mich in die Scheune, wo sie über Stroh eine Kolter legten, auf die ich mich legen sollte. Man zog mir den Schuh aus, wusch mit Jod die Wunde aus und verband den Fuß. Ich bekam zu essen und sollte beruhigt schlafen, für mich sei der Krieg jetzt zu Ende. Man sagte mir noch, daß seit dem Nachmittag die Amerikaner im Ort seien und daß man ihnen am nächsten Morgen melden werde, daß ein verwundeter deutscher Soldat in ihrer Scheune liege.

In der Frühe öffnete der Bauer das Scheunentor und zu meiner Überraschung betrat ein amerikanischer Soldat die Scheune. Er kam auf mich zu und sprach mich in deutscher Sprache an. Er wollte wissen, wo ich verwundet sei, welcher Einheit ich angehöre, blätterte in meinem Soldbuch und meinte dann, ich sollte das Soldbuch und meine Uniformjacke wegschmeißen. Ich verneinte dies und fragte ihn, warum. Er meinte nur, das könne er mir nicht sagen, aber es wäre besser für mich. Er sah sich meinen inzwischen von Blut durchtränkten Verband an und meinte: „Okay." Ich mußte mich auf eine Trage legen, und er und der Bauer trugen mich zu seinem Jeep. Dann fuhr er mit mir in den Ort zu einer Gaststätte, wo ich in den Saal getragen wurde, in dem schon mehrere von Amerikanern bewachte deutsche Soldaten waren. Der Saal lag mit den Fenstern zur Straße, und da sah man die endlosen Kolonnen von Panzern, Lastwagen voll mit Soldaten und Munition. Und als ich die Masse an Menschen und Material sah, da mußte ich an unsere kleinen, müden Häuflein denken, mit denen diese Macht aufgehalten werden sollte.

Um halb eins bekamen wir zu essen und um zwei Uhr fuhr ein Lastwagen vor, wir wurden aufgeladen und weggefahren. Nach etwa zehn Kilometern hielt der Lastwagen vor einem auf der Wiese aufgebauten Feldlazarett der Amerikaner. Die Verwundeten wurden abgeladen und in die Zelte gebracht und mit den anderen fuhr der Lastwagen weiter. Ich nehme an, in ein Lager für Gefangene.

Hier wurden wir untersucht, und wo es nötig war, wurde operiert. Bei mir wurde, wie ich glaubte zu spüren, nur ein bißchen mit dem Skalpell geschnitten, die Wunde gereinigt und ein Gipsverband darumgelegt. Dann kamen wir in ein von Amerikanern bewachtes Zelt, wo wir noch vier Tage verbrachten.

Am 30. April wurden wir, die Gehbehinderten auf Tragen, auf Lastwagen weggefahren. Nach einer Fahrt von etwa sechs Stunden kamen wir auf einem den meisten von uns unbekannten Flugplatz an. Hier standen drei Maschinen mit Rote-Kreuz-Kennzeichen, in die wir verladen wurden. In der Maschine, in die ich kam, waren seitlich acht Betten, jeweils zwei übereinander, angebracht. Insgesamt sechzehn. Als wir bereits flogen, fragte einer: „Wer weiß denn, wo wir hier sind?" Ein anderer meinte, daß, dies ein Feldflugplatz in der Nähe von Frankfurt sei. „Eschborn, heißt das Kaff." Mit dem Ort Eschborn wußte auch ich damals noch nichts anzufangen.

Das Flugzeug brachte uns nach Paris. In Versailles kamen wir in ein Lazarett. Hier in Versailles wurde mir bewußt, warum der Amerikaner mir den Rat gab, meine Uniformjacke mit den SS-Runen wegzuwerfen, hier wurde es mir knallhart vorgeführt. Wir kamen in den ersten Stock, und die Träger, es waren Franzosen, ließen mich immer wieder auf der Treppe fallen, was mir arge Schmerzen an der Wunde verursachte. Ich fragte sie, sie sprachen Deutsch, warum sie so was machen würden? Darauf meinten sie, daß ich so schwer sei. Die Treppe selber hochlaufen ließen sie auch nicht zu, da ich ja verwundet sei.

Im ersten Stock kamen wir alle achtundvierzig Mann in einen großen Saal mit Stockbetten. Es war ein großer Saal und nur zu drei Vierteln belegt. Ich selbst durfte nicht in den Saal. Weil ich ein „SS-Mann" sei, und die würden stinken, und das könne man den anderen nicht zumuten, meinte der für unseren Saal zuständige „Sani". Es war ein amerikanischer Jude und er sprach Deutsch. Für mich wurde ein Bett auf den Gang gestellt. Wir mußten uns ausziehen und die Kleidung zur Entlausung abgeben, mußten baden und bekamen Schlafanzüge. Nur für mich war seltsamerweise kein Schlafanzug mehr da, und ich mußte mich, so wie mich meine Mutter zur Welt gebracht hatte, aufs Bett legen. Auch gab es keine Zudecke mehr für mich.

Kurz nach dem Abendbrot machte die „Nurse", eine amerikanische Krankenschwester, ihre Visite. Ich sehe sie heute noch, groß gewachsen, dürr, stocksteif gerade gehend wie sie auf mein Bett zukam, um mir den Puls zu messen, und wie sie mich da im Adamskostüm liegen sah, hielt sie abrupt in ihrem Lauf inne, wurde bis an die Nasenspitze rot, und ich dachte schon, daß sie einen Schlaganfall erleiden würde, und wollte schon aufstehen und ihr helfen, da schrie sie „No! No!", machte auf dem Absatz kehrt und verschwand in ihrem Zimmer.

Kurz darauf kam der Sani, brachte mir einen Schlafanzug und eine Zudecke. Die Schwester ließ sich aber an diesem Abend nicht mehr blicken. In dieser Nacht schneite es in Paris. Daran kann ich mich noch gut erinnern. Denn der Sani kam immer wieder und öffnete die Fenster im Flur, weil es so stinke.

Erst am nächsten Morgen, nach dem Frühstück, kam die Nurse wieder, und als sie mich da liegen sah, machte sie wieder kehrt. Und während ich noch nach der Ursache ihrer Kehrtwendung nachdachte, erschien der Sani, führte mich in den Saal und wies mir ein Bett an. Es war ein oberes Bett. Unter mir lag ein Berliner, der hatte die rechte Seite, Arm und Fuß, ganz in Gips. Der Sani sprach dann ein Rauchverbot für mich aus und drohte dies auch dem ganzen Saal an, falls einer mir eine Zigarette gäbe. Es lag mir auf der Zunge, aus purer Schadenfreude zu sagen, daß ich ja Nichtraucher sei. Ich sagte aber nichts. Die Nurse machte ihre Visite und tat so, als hätte sie mich noch nie an einem anderen Platz oder ohne Schlafanzug liegen sehen.

Hier im Lazarett erlebte ich auch das Kriegsende. Am 9. Mai 1945 zogen die Franzosen durch die Gänge des Lazaretts und riefen immer wieder: „La guerre fini! La guerre fini!"

Doch die Einstellung von dem Sani über mich änderte sich. Woran es lag, ich weiß es nicht. Eines Tages kam er in den Saal, kontrollierte die Betten und schob etwas unter mein Kopfkissen. Er muß die Fragezeichen in meinem Gesicht bemerkt haben, denn er legte den Zeigefinger auf den Mund, machte mit der Handbewegung die Geste des Rauchens nach und meinte: „Nur Toilette!" Als er gegangen war und ich nachsah, fand ich in Zeitungspapier eingepackt eine Handvoll Zigarettenstummeln. Das wiederholte sich dann täglich immer wieder. Er sammelte im Aufenthaltsraum der amerikanischen Offiziere die Kippen und brachte sie dem, dem er Rauchverbot verordnet hatte. Nun, ich habe sie nicht geraucht, aber der Berliner unter mir war ein leidenschaftlicher Raucher und dem kamen sie zugute.

Auch sollte ich, sicher auf sein Betreiben, nach Jugoslawien entlassen werden. Es hieß, ich sei doch kein deutscher Staatsbürger und sicher zum Soldatendienst gezwungen worden. Ich mußte alle mir zur Verfügung stehende Überzeugungskraft nutzen, um dem amerikanischen „Captain", der übrigens gut deutsch sprach, klarzumachen, daß diese vermeintliche Wohltat mein sicherer Tod sei, daß ich für die Serben fahnenflüchtig sei und bei einer Rückkehr standrechtlich erschossen würde. Abschließend meinte er: „Na, dann bleiben sie halt in Gefangenschaft!"

Und noch mal tat er etwas, was mein Staunen erweckte. Als es nach etwa zwei Monaten hieß, daß die Transportfähigen nach Hause entlassen würden, war ich, trotz meiner fast vollständigen Genesung, fest davon überzeugt, nicht zu den Glücklichen zu gehören. Denn es wurde bekannt, daß SS-Angehörige nicht nach Hause entlassen würden, sondern in französische Gefangenschaft kämen und im Bergwerk schaffen müßten.

Und so schien es auch noch, als Anfang August die Papiere mit dem Befehl „Fertig machen" ausgeteilt wurden; meine waren nicht dabei. Ich nahm es ohne Gram zur Kenntnis und sah den Abreisenden vom Fenster aus winkend zu. Da wurde auf einmal mein Name gerufen, und der Sani kam eilends herbei, sagte, ich solle schnell meine Sachen packen, wobei er mir half, und schob mich buchstäblich in einen bereits abfahrbereiten, geschlossenen Wagen und gab mir einen Klaps zum Abschied auf den Hintern.

Es waren fünf kleinere, verdeckte Transportwagen, die uns durch Paris zum Ostbahnhof fuhren. Als wir den uns begleitenden Posten fragten, warum wir wie Verbrecher in einem geschlossenen Wagen gefahren würden, meinte er, aus Sicherheit, denn die Franzosen würden auf alles, was eine deutsche Uniform trägt, mit Steinen schmeißen. Vom Pariser Ostbahnhof fuhren wir bis Frankfurt am Main und von dort auf Lastwagen nach Ulm ins Lager, wo wir dann am nächsten Tag entlassen wurden.


Ich ließ mich nach Franzheim bei Freising entlassen. Dazu hatte ich mich auf der Fahrt von Paris entschlossen. Und das kam so: Ein neben mir sitzender Kamerad, Friedel Krüger, fragte mich, wohin ich gehen werde, und ich sagte, ich wisse dies noch nicht. Meine Frau und meine Tochter würden, wenn sie den Krieg überlebt hätten, woran ich keine Minute zweifelte, sicher in Frankfurt an der Oder sein, aber da dies russisches Besatzungsgebiet sei, möchte ich nicht so recht dorthin. Wahrscheinlich werde ich nach Frankfurt am Main gehen, wo ich in der Lehre war. Da meinte er, ich könnte zu ihm kommen, bis ich meine Angehörigen gefunden hätte, und dann könnte ich immer noch nach Frankfurt am Main.

Und so kam es auch. Von Ulm fuhren wir mit dem Zug nach München, von dort nach Freising, und von da gingen wir zu Fuß nach Franzheim. Das Haus Friedel Krügers, ein Bauernhof, stand mitten im Feld. Es war eine herzliche Begrüßung von Krügers Frau und Tochter. Auch über den „Familienzuwachs" hat man sich gefreut. Denn die Erntearbeiten begannen und die Frau hatte nur zwei entlassene Soldaten als Helfer und die reichten nicht. Mir wurde gleich der Kuhstall mit den vier Kühen zugeteilt. Der Stall mußte in der Frühe ausgemistet, die Kühe mußten gefüttert, getränkt und am Nachmittag auf die Weide gebracht werden. Gegen Abend wurden sie wieder in den Stall gebracht, angekettet, gefüttert und getränkt. Gemolken hat zuerst noch Marie, Friedels Frau. Aber ich wurde angelernt und nach einer Woche war ich der Melker.

In dieser Zeit versuchte ich, weil die Post aus Frankfurt/Oder wieder als „Unzustellbar" zurückkam, über das Rote Kreuz mit meiner Frau und Tochter Runhild Verbindung zu bekommen. Beide wurden bei meinen Eltern in Wölkau gefunden, und dann dauerte es nicht lange, bis ich beide in die Arme schließen konnte.

Bald darauf fuhr ich nach Frankfurt am Main, um mich nach Arbeit und einer Bleibe umzusehen. Als ich den Frankfurter Bahnhof verließ, bot sich mir ein erschütterndes Bild. Ich hatte viele Luftangriffe auf Frankfurt selbst miterlebt, viele Trümmer gesehen, aber so schlimm kannte ich es nicht. Zuerst versuchte ich bei meiner Lehrfirma, der Frankfurter Zeitung, wo auch mehr zerstört war, als was ich schon kannte, Arbeit zu erhalten. Zu meinem Bedauern mußte ich feststellen, daß es diese nicht mehr gab. Die war enteignet worden und die Frankfurter Rundschau hatte den Betrieb übernommen. Die wollte mich auch in Arbeit nehmen, allerdings müßte ich drei Monate Aufbauarbeiten leisten. Das wollte ich nicht, und das Arbeitsamt vermittelte mich an die Druckerei Ulmann. Es war ein kleinerer Betrieb, vor dem Krieg im Stadtteil Bockenheim ansässig, war aber ausgebombt worden und hatte sich in der ehemaligen Flakkaserne im Stadtteil Hausen neu eingerichtet.
Zuweisung als Flüchtling nach Eschborn


Unsere Eschborner „Einbürgerungsurkunde" vom 1. März 1946, mit der Anweisung in den letzten beiden Zeilen: „Soweit eine ärztliche Untersuchung und Entlausung notwendig erscheint, ist dieselbe durch die Gemeinde zu veranlassen. "


In Frankfurt war es zu der Zeit nicht möglich, eine Wohnung zu erhalten, und das Wohnungsamt überwies mich nach Höchst auf das Landratsamt des Main- Taunus-Kreises. Von dort wurde ich nach Eschborn eingewiesen. Bürgermeister Mämpel zeigte sich nicht besonders erfreut über den neuen Bürger seiner Gemeinde. Er wies uns als vorübergehend bei der Familie Ludwig Dahlem, Unterortstraße 7, ein. Es war nur ein kleines Zimmer, etwa sechs Quadratmeter groß. Ein für drei Personen viel zu kleines Zimmer.
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Verträumt, zwischen höheren Bauten eingezwängt, wie aus einer anderen Welt stammend, lag das Häuschen von Hans Michel in der Unterortstraße 5, das fünf Jahre unser „Zuhause" war. Im Sommer, von grünem Laub eingerahmt, sah es märchenhaft aus, bei dessen Anblick ein kleines Madchen erfreut ausrief; „Sieh mal Mutti, ein Hexenhäuschen!" Heute steht hier das Blumenhaus Schweizer.

Ich fuhr zurück nach Franzheim, dort packten wir unsere paar Habseligkeiten, verabschiedeten uns von der Familie Krüger und fuhren nach Eschborn, das unsere neue Heimat werden sollte.

Wir kamen hier am 10. März 1946 an, es war an einem Sonntagnachmittag. Eine Freudenstimmung kam nicht auf, im Gegenteil. Wir setzten uns, ermüdet von der Reise und in Gedanken an die vor uns liegende unbekannte Zeit versunken, auf das Bett und fragten uns: Ist das das Ergebnis der fünfjährigen Flucht in eine bessere Zukunft - ist es Schicksal oder Vorsehung?

Doch alles Grübeln half nichts. Ich ging gleich am nächsten Tag zur Arbeit, meine Frau versuchte sich einzurichten, so gut es ging, uns fehlte es an allem. Wir hatten weder Eßgeschirr noch Schüsseln zum Waschen oder Töpfe zum Kochen. Büchsen als Kochgeschirr besorgte sie von der Abfallgrube der Amis in der „Russenkuhl". Die Familie Dahlem half, wo sie nur konnte, auch Nachbarsfrauen, aber die hatten ja selber nach fünf Jahren Krieg kaum etwas, was sie entbehren konnten. Es war schon eine sehr schlimme Zeit.Eschborner erzählen

Nach ein paar Wochen bekamen wir eine andere Wohnung zugewiesen. Es war ein ganzes Haus allein für uns. Es bestand zwar nur aus Zimmer, Küche und Dachboden, aber wir konnten uns darin bewegen und ein jeder hatte sein eigenes Bett. Das Zimmer war vierzehn und die Küche sechs Quadratmeter groß. Es war das kleine alte Haus von Hans Michel in der Unterortstraße, das von den Flammen des tollen Christian, der 1622 im Dreißigjährigen Krieg Eschborn niederbrennen ließ, verschont geblieben war. Es sollte fünf Jahre für uns vier - eine zweite Tochter, die Heidi, kam 1947 hinzu - unser „Zuhause" sein.

Aus: Eschborner erzählen – Eine Dokumentation von Hansjörg Ziegler, 2004

Hansjörg Ziegler

(* 8.1.1920): ein typisches Menschenschicksal aus einer scheinbar völlig vergessenen Zeit. “Volksdeutscher”, aus Jugoslawien stammend, erst später Soldat geworden, in Frankfurt/Main Schriftsetzer gelernt, von der Gestapo als Spion verdächtigt, bei der Waffen-SS gelandet, nach der Gefangenschaft nach Eschborn verschlagen - und höchst engagierter wie angesehener Heimatforscher geworden. Er verkörperte die Historische Gesellschaft Eschborn e.V. über lange Zeit, sammelte Bilder und Bücher, Spenden und Dokumente in großem Stil für ”seine” Historische Gesellschaft, gab zahlreiche Bücher und Dokumentationen heraus und bewahrte manchen Text vor dem Vergessenwerden.

Die Würde eines Ehrenbürgers seiner Heimatstadt Eschborn war die verdiente Anerkennung für viele Jahrzehnte ehrenamtlicher und selbstloser Forschertätigkeit.

Die Form der mündlichen Erzählung haben wir bewußt beibehalten.

Sehen Sie auch auf die Gedenktafel der Eschborner Opfer der Nazizeit:
Gefallene und Vermißte, an Kriegsverletzungen Verstorbene, Opfer des Bombenkrieges, ein im KZ Ermordeter und zwei durch Euthanasie Ermordete: die kleine Gemeinde Eschborn verlor nahezu 100 Menschen.