Deutsche Scheinanlagen des Zweiten Weltkrieges im Main- Taunus-Kreis (Eschborn, Hofheim-Marxheim, Hochheim- Massenheim) Zur Täuschung der englischen Bomberverbände während der nächtlichen Angriffe auf deutsche Städte im Zweiten Weltkrieg wurden rund um die wichtigsten Großstädte und Industriezentren ab 1940/41 sogen. Schein-Anlagen (S-Anlagen), englisch „Decoys" angelegt. Schein-Anlagen waren im freien Feld aufgebaute Täuschungsvorrichtungen, mit denen die feindlichen Bomberströme bei ihren nächtlichen Angriffen durch entsprechende Beleuchtungs- und Feuereffekte (Brand-, Leucht- bzw. Raucherscheinungen) von ihrem eigentlichen Ziel abgelenkt werden und die die Bombenabwürfe auf sich ziehen sollten. Die nächtliche Orientierung der englischen Bomber beruhte vor der Entwicklung des Radars und seiner Vorgängersysteme in erster Linie auf direkter Beobachtung des Zielgebietes aus großer Höhe. Es war daher leicht möglich, durch Vortäuschen von beleuchteten Häusern oder von brennenden Häusern, brennenden Straßenzügen oder ganzen Stadtvierteln die Flugzeugbesatzungen zum Abwerfen ihrer Bombenladungen gerade über diesem Gebiet zu veranlassen. Im Umkreis von Frankfurt am Main wurden neun solcher Anlagen errichtet1), zwei davon im Main-Taunus-Kreis: Marxheim und Eschborn2). Auf deutscher Seite sind leider fast alle Unterlagen zu den S-Anlagen durch Kriegs- und Nachkriegsereignisse verlorengegangen. So sind wir, wie so oft bei solchen Untersuchungen, fast ausschließlich auf die Akten der Alliierten angewiesen, im vorliegenden Falle auf die des Britischen Bomberkommandos, die neuerdings der Wissenschaft zugänglich sind. Daraus läßt sich erstmals ein etwas genaueres Bild der deutschen Anlagen gewinnen. Sie waren meist abseits der dicht besiedelten Gebiete im freien Feld (z.B. Eschborn oder Marxheim) angelegt oder auf Waldschneisen (z.B. Heusenstamm oder Raunheim). Mit einfachsten Mitteln (Sperrholz, Pappe, Draht) hatte man, Kulissen gleich, versucht, Häuserzeilen, Straßenzüge oder Industrieanlagen nachzubilden, oft auch nur andeutungsweise. Diese Anlagen waren besonders auf den „Schein"-Effekt aus der Luft von mehreren tausend Meter Höhe in der Dunkelheit ausgerichtet. Die nächtliche Wirkung sollte durch geschickte Installation von verschiedenen elektrischen Beleuchtungskörpern erreicht werden, die entsprechend geschaltet waren. Dazu kamen noch flächig angelegte offene Feuer, genährt von Holz, Preßstroh, Papier, Öl oder Gummi und Abfällen. Diese Feuerstellen waren in die vorbereiteten „Straßenzüge" und „Häuser" eingefügt, so daß die brennenden Feuer von den Flugzeugbesatzungen leicht als in Brand gesetzte Häuser oder gar Stadtviertel angesehen werden konnten. Auf dieser Täuschung beruhte der Effekt der Anlagen nicht alleine. Zur Orientierung und Information über dem Zielgebiet, über die genaue Richtung und den Zeitpunkt des Bombenabwurfs, verwandten die Alliierten Markierungsbomben und farbige Leuchtsignale. Aus dieser technischen Notwendigkeit des Bombenkrieges zogen die Deutschen Nutzen und versuchten mit ebensolchen farbigen Markierungen die Bomberbesatzungen zu täuschen. In der Praxis sah das so aus, daß auf dem Gelände der Schein-Anlagen am Rande kleine Abschußrampen für sog. Schein-Signal-Raketen (SSR) aufgestellt waren3). Je nachdem welche Art farbige Signal-Rakete von den Angreifern untereinander zur Kennzeichnung im Zielgebiet verwendet wurden, versuchten die deutschen Kommandos von den S-Anlagen aus, d. h. abseits vorn eigentlichen Zielgebiet, die gleiche Sorte Rakete hochzuschießen und damit den Bombenabwurf auf sich zu ziehen oder zumindest die Besatzungen der englischen Flugzeuge zu verwirren und zu verunsichern. Die einzige Schwierigkeit bestand darin, daß die deutschen möglichst in Farbe und Form (Kugel, Kaskaden, Strahlen, Sternchen) den alliierten Signalraketen entsprachen. Nur dann nämlich blieb die Täuschung unerkannt und konnte Wirkung zeigen. Die geschickte Kombination von Beleuchtung und Feuerschein am Boden sowie nachgemachten Signal-Raketen über dem falschen Ziel war für das Gelingen der Täuschung entscheidend. Wie die Kriegstagebücher der Deutschen Luftwaffe / Luftgau XII/XIII (Wiesbaden), zu dem das Rhein-Main-Gebiet zählte, und die z.T. erhalten geblieben sind, ausweisen, haben die deutschen S-Anlagen in den ersten Kriegsjahren ihren Zweck wohl erfüllt, so z. B. am 4.4) und 7. August 194l5), und die feindlichen Bombenabwürfe auf sich gezogen. Dies ergaben auch englische Untersuchungen, die schon während des Krieges einsetzten und gleich nach Kriegsende dazu führten, daß eine britische Kommission der „Operational Research Section" des Bomber Command in der Zeit vom 1. bis 6. Juni 1945 verschiedene deutsche Schein-Anlagen besichtigte, darunter auch die Eschborner Anlage6). Mit der Zeit lernten die Bomberbesatzungen die Scheinziele jedoch kennen. Sie waren oft zu perfekt, entweder von der Anlage des Stadtbildes (schnurgerade Straßen, rechteckige Plätze) oder weil die Feuer zu schön brannten, um wahr zu sein. War eine Schein-Anlage einmal erkannt, dann erfüllte sie das Gegenteil ihres Zwecks. Sie war dann eine willkommene Navigationshilfe. Und je mehr sich die Angriffstätigkeit der Alliierten infolge ihrer Luftüberlegenheit am Tage steigerte und ihre Luftbildaufklärung zunahm, bekamen sie ein immer genaueres Bild über die Lage der einzelnen Objekte7). Damit sank zwar die Bedeutung der Scheinanlagen zur Luftabwehr. Dies ändert jedoch nichts an der Gefahr einer solchen Anlage für die nahegelegenen Dörfer, die oftmals der Bombardierung ausgesetzt waren (z. B. Eschborn am 24./25. August 1942). Die einzelnen Anlagen hatten bei der Reichsluftwaffe Decknamen, die sich an die nächstliegende Ortschaft anlehnten, so z. B. „S-Anlage Maximilian" für die bei Marxheim gelegene oder „S-Anlage Rüdiger" für die bei Rüsselsheim eingerichtete Anlage8). Der genaue Wortlaut der Eintragung im Kriegstagebuch (KTB) des Luftgaus XII/XIII lautet9): Die Bedienungsmannschaften der S-Anlagen wurden von der „Luftschutztruppe z. b. V.11) der Luftwaffe" gestellt. Ihre Aufgabe war es, die Anlagen zu warten, zu bedienen und wieder instandzusetzen. Das Personal dieser Abteilungen bestand durchweg aus garnisonsverwendungsfähigen Männern der älteren Jahrgänge12), in der Hauptsache aus Spezialhandwerkern von Theaterwerkstätten und Messe- und Ausstellungsfirmen13) sowie Elektrotechnikern. Taktisch unterstellt waren die Schein-Anlagen den jeweiligen örtlichen Flakführern (Flakgruppenkommandeuren)14). Die Führung einer Schein-Anlage erforderte eine genaue Kenntnis der Luftlage, der Witterungs- und Sichtverhältnisse, sowie Beweglichkeit und die Fähigkeit, sich in die Absichten des Gegners hineinzudenken15). Der zuständige Flakkommandeur war meist am besten über die örtliche Luftlage unterrichtet, und er gab den Befehl zur Zündung der geeigneten Anlage(n), sobald ein Angriff auf das zu schützende Objekt (Stadt, Industrieanlage) bevorstand. Die Schein-Anlagen Marxheim und Eschborn waren eingebunden in einen Ring solcher Einrichtungen rund um Frankfurt am Main. Im Osten der Stadt lag Rumpenheim, im Norden Kalbach, im Süden Heusenstamm, Niederrad und Schwanheim, im Westen schließlich Eschborn, Marxheim und Raunheim. Alle diese Anlagen sind in einer geographischen Karte mit militärischem Gitternetz im Maßstab 1:50000 von den Engländern mit entsprechenden Symbolen eingezeichnet16). Leider liegt nicht über jede einzelne S-Anlage ein englischer, ehemals geheimer, Aufklärungsbericht mit Luftbild vor. Aber alle sind erfaßt in einem Katalog sämtlicher Schein-Anlagen17), die den Alliierten in Deutschland und den angrenzenden, von Deutschland besetzten Gebieten bekannt waren. Es sind dies über 200 S-Anlagen und nochmals ca. 150 Schein-Flugplätze gewesen. Der Katalog enthält außer der engl. Bezeichnung des Platzes u. a. die genaue geographische Lage, für Marxheim z. B. 50° 04' 16" N 08° 27' 18" O, dazu die Nummer und das Datum des betreffenden Einzelberichtes. Marxheim hieß bei den Alliierten „Frankfurt 3 - Marxheim" und war unter der Nummer 52 erstmals am 12. September 1942 in einem Bericht erfaßt. Leider konnte dieser Report bisher noch nicht in einem englischen oder amerikanischen Militärarchiv ausfindig gemacht werden. Als Beispiel sei hier aber der Bericht No. Q 108 über die Eschborner S-Anlage („Frankfurt 7 - Eschborn"), der erhalten blieb, in deutscher Übersetzung wiedergegeben18). Übersetzung aus dem Englischen19): (i) Lage : 50° 09' 07" N 8° 34' 57" O ( ii) Beschreibung: ( iii) Bombentrichter: (üii) Flakschutz: Der Schein-Flugplatz bei Hochheim- Massenheim Erstmals wurde dann in den Morgenmeldungen des KTB LG XII/XIII vom 07. August 194127) folgende Eintragung festgestellt: „S-Hafen Massenheim, Landkreis Main- Taunus, 0120 Uhr - l Sprengbombe." Unter der Tarnbezeichnung „S-Hafen Massenheim" hatte die Reichsluftwaffe südwestlich von Massenheim im Feld an der Straße nach Hochheim einen sog. Schein- Flugplatz errichtet. Das Wort „Hafen" steht dabei für Flughafen. Mittels dieser Anlage sollte wohl der nur wenige Kilometer nordwestlich gelegene Militärflugplatz der Reichsluftwaffe Wiesbaden-Erbenheim, der damals schon bestand, geschützt werden. Die schriftlichen deutschen Quellen schweigen sonst über diesen „S-Hafen". Ältere Einwohner von Massenheim und Hochheim erinnern sich sehr wohl noch daran, daß während des Krieges am Ortsausgang von Massenheim in Richtung Hochheim einige Flugzeugattrappen im Gelände standen, die von deutschen Soldaten öfter umgestellt wurden28). Im British Air Ministry's Intel Report, Germany, Vol. II, Appendix II, page 829) ist unter der Bezeichnung Hochheim vermerkt: Dummy Airfield30). 1/2 Meile NNO von Hochheim, 2 1/4 Meilen 050 von Wiesbaden-Flugplatz, 5 1/4 Meilen ONO von Mainz, 10 1/2 Meilen SW von Frankfurt/Eschborn, 12 Meilen WSW von Frankfurt/ Rhein-Main-Flugplatz. Der Scheinflugplatz besteht aus einem umwallten Rechteck, welches einen Hangar (Flugzeughalle) darstellt, und wenigen Flugzeugattrappen, welche in der unmittelbaren Nähe abgestellt sind. Der Hangar und die Flugzeuge stehen auf landwirtschaftlichem Gelände, und es scheint keine Landebahn angelegt zu sein. Der Hochheim-Massenheimer Schein-Flugplatz hatte die englische Code-Nummer 590. Es gab dazu ebenfalls einen gesonderten Bericht (mit Luftbild), der aber leider, wie der zur Marxheimer S-Anlage, verloren gegangen scheint. Letztmals finden wir die Flugzeugattrappen bei Massenheim unter dem 24. März 1945 im Einsatzbericht Nr. l der 392. Fighter Squadron/ 367. Fighter Group des XIX Tactical Air Command (US Air Force) erwähnt. Als „Wichtige Nachricht" (vital information) melden darin acht amerikanische Tagjäger („Jabos"), daß sie nördlich von Flörsheim gegen 8.00 Uhr morgens vier Flugzeugattrappen im Feld stehen sahen31). Die Koordinaten auf der Militärkarte, die sie dabei angeben, führen genau zum „S-Hafen Massenheim". Wenige Tage nach dieser Meldung war der Main-Taunus-Kreis von amerikanischen Truppen besetzt. Die Schein-Anlagen und S-Flugplätze hatten ausgedient. Da die Ausstattung der Plätze nur dürftig und wenig aufwendig war, konnten die Landwirte auch bald wieder ungestört diesen Bereich ihrer Äcker bestellen. Aus Unterlagen des Stadtarchivs Eschborn32) geht hervor, daß die Gemeinde 1946/47 noch Probleme hatte, den kleinen Bunker, der als Schutz für die Bedienungsmannschaft in der Nähe der Schein-Anlage, hinter dem heutigen Eschborner Friedhof gelegen war, zu beseitigen. Niemand wollte die Kosten des Abbruches übernehmen. Schließlich zahlte das Land Hessen. Damit war auch das letzte Relikt der S-Anlage Eschborn beseitigt. Anmerkungen: 1) Frankfurt l (Rumpenheim), Frankfurt 2 (Schwanheim), Frankfurt 3 (Marxheim), Frankfurt 4 (ausgefallen bzw. gestrichen), Frankfurt 5 (Raunheim), Frankfurt 6 (Niederrad), Frankfurt 7 (Eschborn), Frankfurt 8 (Heusenstamm), Frankfurt 9 (Kalbach) (Public Record Office, London: AIR 14/ 1889). Rad und Sparren - 1984 - 13 - mit freundlicher Erlaubnis des Herausgebers Auf die Wiedergabe der Abbildungen haben wir aus technischen Gründen verzichtet. Im Bedarfsfall empfehlen wir die Einsicht in den Original-Beitrag. |