5.1.   Ins neue Jahr mit neuer Hoffnung!

Am 29.12.1917 aus dem Urlaub zurückgekehrt, der mir zu Weihnachten überraschend gewährt worden war, fand ich die zum 24. mit der ganzen Abteilung aus ihrer Stellung herausgezogene 8. Batterie in Cuvillers bei Cambrai. Die Offiziere waren im Vorbereiten eines Offiziersabends der Abteilung in ihrem ausgeschmückten Kasinoraum. Bei Bier und Punsch und mit schönen Reden wurde dort vom alten Jahr Abschied genommen und der Jahresanfang 1918 in der Hoffnung auf ein siegreiches Kriegsende begangen. Beim Übergang ins neue Jahr ließen die im weiten Umkreis aufsteigenden Leuchtkugeln, - weiss-rot-grün -, wie sie die Front nur zu gut kennt, die Freude der Truppe sehen, daß die so schweren Kämpfe wieder einmal siegreich bestanden waren.

Nach ruhigen Wochen in bescheidenen Quartieren und karger Verpflegung, der wir durch das Schießen von Hasen zum Ärger der Feldgendarmerie etwas aushalfen, ging es in der Nacht zum 10. Januar bei Schneesturm, der viel zu schaffen machte, einem unbekannten neuen Ziel entgegen. Doch war schon durchgesickert, wir kämen zur 18. Armee, die als Angriffsarmee in Bildung sei. Die Führung hatte erkannt, daß der Krieg in bloßer Abwehr mit all ihrem Verschleiß von Menschen und Material kein gutes Ende nehmen könne. Die Kriegslage im Osten ließ hoffen, daß dort bald bisher gebundene Divisionen die Westfront verstärken würden. So wurde nun die Ausbildung der Truppe in den stillen Winterwochen ganz auf Angriff und Vormarsch ausgerichtet. Wir fanden uns nun an der von früher so gut bekannten Sommefront, die jetzt ganz ruhig war. Unsere 8. Batterie ging nicht in Stellung, sondern blieb als Divisionsreserve in Fonsomme. Gute Geländekenntnis sollte sie sich beschaffen, Stellungen zur Tankbekämpfung erkunden, in Zusammenwirken mit der Infanterie auch Einsatzübungen halten. Wie ruhig hier die Front war, zeigte auch das Gelände hinter den Linien an, das kaum einmal ein Granatloch aufwies, und wenn schon, dann war es so klein, daß es nichts Beunruhigendes an sich hatte. Demgegenüber kannten wir nur zu gut die anderen, die einen grinsend und Zähne fletschend anschauten und durch Mark und Bein erschauern ließen!

5.3.   Der Unterrichtsoffizier (Februar 1918)

Die lange Kriegsdauer, der Hunger in der Heimat, die Zunahme revolutionären Geistes in ihr ließen die Heeresführung für Geist und Einsatzfreudigkeit vor allem ihrer aus dem Urlaub kommenden Soldaten fürchten. Das war recht gesehen. Hatte ich doch selbst erlebt, daß ein Glied unserer 8. Batterie, ein Berliner, mir nach Rückkehr aus seinem Urlaub in einer stillen Nacht sein Herz ausschüttete. Er habe Frau und Kinder so arm und verhungert in ihrem Hinterhaus vorgefunden, daß er sich in Zivil einem Demonstrationszug unter Karl Liebknecht angeschlossen habe!

Das enge und kameradschaftliche Zusammenleben in einer Batterie führt auch mit dem ärmsten und einfachsten Mann zusammen und läßt Blicke in sein Herz tun. So schrieb ich damals nach Hause: „Wenn man sich in die Lage wirklich armen gedrückten Volkes hineindenkt, kann man manch' Gefühl dieser Volksklasse verstehen. Vertieft man sich in die Gedankenwelt der sozialdemokratischen Partei, der sie angehören, kann man für manches ihrer Ideale eintreten und sich dafür begeistern. Sieht man aber, welche Kräfte alle in dieser Partei tätig sind, wie gewühlt und gehetzt, kein Anstand gewahrt, keine Ehrfurcht gekannt, wie niedrig in allem gedacht wird, wie sich da mit vaterlandsliebenden ernsten Männern Phantasten und unreinster Mob mischen, dann kann man nur mit Betrübnis auf diese Partei sehen, die so Grosses will, so Gutes leisten, so ideal denken konnte, und sich von Gliedern m ihren Reihen mit ihrem Wollen in den Schmutz ziehen läßt".

Um dem Geist der Zersetzung zu begegnen, ließ die höhere Führung für jede Einheit einen Unterichtsoffizier bestimmen, ein Amt, das mir zufiel. Aufklärung und Belehrung der Batterieangehörigen war mir zur Aufgabe gemacht. Dadurch sollte das Durchhalten erleichtert, die Vaterlandsliebe gestärkt und die Angehörigen zu Hause zu tapferem Denken beeinflußt werden. Dies Amt setzte aber auch voraus, daß man über alle Vorgänge in der Heimat, über Wollen, Planen und Versprechen der Regierenden im Bilde war. Denn bange Fragen kamen aus dem Munde der im Feld Stehenden: „Wie wird gesorgt, wenn mein Arbeitsplatz verloren gegangen ist, wenn der Krieg die Gesundheit genommen hat oder man als Krüppel heimkehrt?" Es wäre zu wünschen, daß die Regierenden befriedigende Antworten geben und ihre Versprechen auch halten!
(…)

5.9.   Verdiente Ruhe (27.4.1918)

Die so groß angelegte Offensive an der Somme hatte nicht den gewollten Erfolg gebracht. Der Engländer, den unsere Schläge getroffen hatten, war weithin von Franzosen abgelöst oder durch französische Verbände verstärkt. Unsere Infanterie und unsere Artillerieabteilungen waren aber am Ende ihrer Kraft. Allein die 8. Batterie hatte in diesen Kämpfen 4 Tote, 36 Verwundete und 38 Pferde verloren. Nun fehlte es unserer Batterie an Richtkanonieren, Telefonisten, Blinkern, MG-Mannschaften. Blutjunger Ersatz war zwar eingetroffen, mußte aber noch ausgebildet werden. Endlich kam für uns Ablösung! Wir durften den Rückmarsch nach dem Ruheort Hauteville bei Guise antreten. Nach tagelangen Märschen durch die öde Kriegslandschaft, in der kein Haus mehr stand, erreichten wir ihn endlich! Am Ziele angekommen, war unsere Stimmung bald wieder glänzend! Hatten wir doch den Krieg mit seinen Gefahren hinter uns gelassen! Jetzt waren Ruhe und Frieden, - Freude und Lachen unser! Das Leben hatte uns wieder!

Ähnlich wie die Menschen empfanden selbst die Pferde. Fern dem schaurigen Donnern der Geschütze tummelten sie sich fröhlich im Sonnenschein auf den grünenden Weiden.

Das Schlaflied sangen uns des Abends und in der Nacht die Nachtigallen mit ihrem wunderbaren Gesang. Auch die Quartiere waren gut.

Eines nur fehlte mir: meine Tabakpfeife! So konnte ich um diese Zeit sagen: ohne Pfeife und Tabak wird kein Krieg gewonnen!

5.10. Ein ehrendes Angebot (Mai 1918)

Über meine nassauische Landeskirche kam der Vorschlag des Feldpropstes an mich, meine Bereitschaft dazu zu erklären, daß er mich für die Militärseelsorge anfordere. Nach meiner Ablehnung dieses Vorschlags schrieb ich an meinen Vater:

„Ich kann Dich verstehen, für mich so einen Posten, der mich auch im Beruf weiterbringt, zu wünschen. Doch jetzt in unserem letzten Rennen kann ich es nicht mehr über mich bringen, dem Regiment, an dem man hängt, untreu zu werden. Hier hat man seine Kameraden, mit denen man soviel Freude und Leid teilte, - hier auch seine Kanoniere, denen man guter Freund ist, und denen man in Vorbild und Aussprache auch mehr sein kann als nur Vorgesetzter und Offizier. Dazu hoffen wir doch bestimmt, daß der Krieg bald einmal zu Ende geht!"

5.11. Der neue Versuch, dem Krieg die Wende zum Sieg zu geben. Die Marneoffensive (ab 27.5.1918)

Die Wochen mit viel Dienst, um die Batterie wieder kampffähig zu machen, lebten wir in der Spannung auf den neuen Einsatz, der, wie wir spürten und an mancherlei Anzeichen sahen, wieder solcher Grossangriff wie an der Somme werden sollte. Es hat uns zwar traurig gemacht, als ein am 18.5. aus dem Urlaub zurückkehrender Offizier sagte, daß die erste Offensive die Heimat enttäuscht habe, und daß die Stimmung in der Heimat niedergeschlagen und verzagt sei. Gott sei Dank - war sie bei uns besser! Von Angst vor dem Feind war bei niemand was zu spüren! Alle waren wir dessen gewiß, daß unser nächster Schlag ihn ganz gehörig treffen würde. Auch wußten wir, daß das nötig sei, da das Jahr 1918, das den Frieden bringen sollte, schon bald zur Hälfte um war! So hieß das, der Friedensaussicht auf die Beine helfen, als für uns der Marschbefehl kam. Nach verschiedenen Nachtmärschen kamen wir in die von früher bekannte Gegend am Chemin des Dames! Damit der Feind zu keinem Verdacht auf einen bevorstehenden Angriff komme, herrschte in dem ganzen Gebiet tagsüber vollkommene Ruhe, fiel kein Schuß, mußten alle Erkundungen in Dunkelheit und bei Mondscheinbeleuchtung vorgenommen werden. Die Räder der Fahrzeuge, welche die Stellungen mit Munition versorgten, waren zur Abdämpfung der Geräusche mit Säcken umwickelt. Wieder wurden die im Feuerplan vorgesehenen Ziele von keiner der einrückenden Batterien eingeschossen, sondern nach genauer Vermessung der Stellung nach Ausschaltung der Witterungseinflüsse nur errechnet.

Und dann war es am 27.5. soweit. Um 2 Uhr nachts eröffneten 4.000 Geschütze der 7. und 1. Armee auf die gegenüberliegenden feindlichen Stellungen ihr Feuer, wobei viel mit Blaukreuzmunition, gegen deren Gas die feindlichen Gasmasken nicht schützten, geschossen wurde. Daß das Feuer gut lag, bewies, daß unsere Stellung ganz von Artilleriebeschuß verschont blieb. Um 2.40 Uhr begann der Sturm der Infanterie, die gut voran kam. So kam für uns schon früh der Befehl zum Stellungswechsel nach vorne! Erschütternde Bilder mußten wir da sehen. Überall sahen wir an Gas erstickte Soldaten mit verzerrten Gesichtern, Engländer und Franzosen, bekamen aber auch noch viel von dem über dem Land liegenden Gas zu riechen! Der Infanterie folgend und mit ihr zusammenarbeitend, führte unser Weg über Pontavert und das einen großen Trümmerhaufen darstellende, aus dem Vorjahr als Gegenüber wohl bekannte Berry au Bac immer weiter nach Süden, der Vesle entgegen.

Nachts wurde dicht hinter der Infanterie mit Protzen und Pferden biwakiert. Die Stimmung war bestens, denn wir meinten, die Westfront wanken zu sehen. Dabei waren die Ortschaften, die am Wege lagen, reich und gaben alles, was man haben wollte: Speck und Fett, Schweine, Hammel und Kühe, Wein und Sekt! Alles im Überfluß. Das ließ uns traurig der Armut der Heimat denken! Ich konnte nicht fassen, was ich sah, als ich Verbindung mit der Infanterie suchend, mit meinem Begleiter plötzlich in einem großen Proviantlager stand. Es umfaßte mächtige Baracken, bis oben angefüllt mit schönsten Sachen. Da sah man Eimer voll Fett und Marmelade, Kisten voll von Tee, Säcke voll von Kaffee! Hier waren Ölsardinenbüchsen den Wänden hoch aufgestapelt, dort die Wände voller Fleischkonserven, hier waren stapelweise die Büchsen mit kondensierter Milch, dort lauter Schokolade! Was konnte ich mir mitnehmen? Nichts als eine Tafel Schokolade! Ich mußte ja weiter und den Bataillonsstab finden! Doch sah ich mit Schrecken, daß viele Infanteristen, die nicht zur Etappe, sondern zur kämpfenden Truppe gehörten, hier herumschwirrten, Säcke füllten und Flaschen ansetzten.

5.12. Ein böses Bild!

Nach dem Kriege konnte man oft hören, die Marneoffensive sei an den gefüllten Weinkellern an der Marne gescheitert. Wenn ich das hörte, mußte ich immer an das bittere Erlebnis von Jonchery denken. Als wir mit der Batterie den Ort durchzogen, um an der ihm vorgelagerten Höhe in Stellung zu gehen, konnte es uns zuerst scheinen, in diesem Orte wäre Karneval! Als Frauen verkleidet, Damenhüte auf dem Kopf, Sonnenschirme aufgespannt, in der anderen Hand eine Weinflasche, torkelten unzählige Infanteristen auf der Dorfstrasse herum und fehlten gewiß vorne im Einsatz. Nein, so konnte der Krieg nicht gewonnen werden!

5.13. Fast zum Feinde übergelaufen!

In diesen Tagen wäre eine Frontlücke meinem Begleiter und mir beinahe zum Verhängnis geworden. Ich hatte den Auftrag, mit dem Regimentsstab des vor uns kämpfenden Infanterieregiments Verbindung aufzunehmen. Ein Feldwebel des Infanterieregiments wies uns nach dem vor uns liegenden Savigny. Die an den Hauseingängen stehenden, zum Teil noch halb vollen Wein- und Sektflaschen zeigten an, daß Infanterie hier durch war! Aber weder von Gliedern des Infanterieregiments, noch von einem Befehlsstand war etwas zu finden. Der Ausgang aus Savigny führte in einen Hohlweg, von dem bald in rechtem Winkel ein Feldweg zu einem vielleicht 400 Meter entfernten Waldrand führte. Dort glaubten wir unsere Infanterie zu finden. Als wir ungefähr 50 Meter dem Wald zugegangen waren, schlug uns plötzlich aus allernächster Nähe, die Ohren peitschend, das Feuer eines MG entgegen, das uns sofort zur Erde fallen ließ, als wären wir tot. Angstvolle Momente, als das MG noch weiter schoß und die Geschosse vor unseren Köpfen von der Erde abprallten. Wir blieben lange ganz still liegen, konnten dann im Schneckentempo am Rande des Wegs einen kleinen Graben und, in ihm mühsam rückwärts kriechend, wieder den Hohlweg erreichen. Von da kam gerade eine ganze Gruppe von Infanteristen, der wir von dem Erlebten berichteten und die wir dadurch vor Verlusten schützten. Es stellte sich heraus, daß hier eine Frontlücke war, weil das gesuchte Infanterieregiment sich zu weit nach rechts vorgekämpft hatte, ohne nach links Anschluß zu halten.

Leider brachte auch diese Offensive dem Frieden nicht näher. Die Marne wurde zwar rechts von uns erreicht, die Kämpfe hatten große Erfolge gebracht, doch wurden die Angriffe, die schwere Verluste kosteten, eingestellt. Mitte Juni wird unser Regiment, um für andere Aufgaben bereit zu sein, aus dieser Front herausgezogen, um vorläufig in Ruhe zu gehen. Mir wurde das Glück zu teil, in Urlaub fahren zu dürfen, so daß ich meinen Geburtstag zu Hause feiern konnte.

5.15. Aufsteigender Rassenhaß!

Bei den Märschen, teils zur Front, teils von der Front zurück in einen als Ruhequartier bestimmten Ort, sah man immer neu Scharen zur Arbeit - meist Schanzarbeiten - eingesetzten Gefangener. Es waren Franzosen, Engländer, Italiener und Schwarze.

Beim Anblick der Schwarzen gerieten viele in der Batterie in Zorn und wünschten sich, sie könnten vom Pferd oder den Geschützen springen und sie nach Hause prügeln. Man hörte sie Halbmenschen nennen, die gegen uns losgelassen seien, hörte sie Teufel nennen mit tierischen falschen Augen! Daß der Franzose mit ihnen gut Freund war, sah man daran, daß er mit den Schwarzen aus ein und derselben Flasche trank!

Die Unseren konnten nicht verstehen, daß sich der Franzose nicht „vor diesem furchtbaren Maul" fürchte, „diesem widrigen Ding, bei dessen Anblick es einen kalt überlaufe!" „Maul" und „Schnauze" waren noch gelinde Ausdrücke, welche unsere Leute da brauchten!

5.16. Wende des Kriegsglücks (20.7.1918)

Vom Urlaub zurückgekehrt, wurde ich mit der vertretungsweisen Führung der Batterie beauftragt, da der Batteriechef zur Beerdigung seines verstorbenen Vaters nach Hause fahren mußte. Ich empfand es gegenüber der gedrückten Stimmung der Heimat als wohltuend, wieder unter den wohlgemuten, zuversichtlichen und frohgesinnten Kameraden zu sein. Während wir uns im Ruheort für neue Aufgaben rüsteten und, wie das ganze Artillerieregiment, einen hohen Ausbildungsstand zu erreichen suchten, wird das Regiment plötzlich mit allen Abteilungen alarmiert und in Gewaltmarschen zum Einsatz in Richtung von Villers Cotterets gerufen. Dort hatte am 16.7. aus dem Dunkel der Wälder auf die vollkommen unvorbereiteten deutschen Linien nach starkem Artilleriefeuer ein feindlicher Grossangriff mit zahllosen Panzern begonnen. Die deutschen Stellungen wurden m einer Tiefe von 8 km durchbrochen, so daß nun die Front um Soissons in größter Gefahr war. Nach einem Tagesmarsch von 60 km gingen wir am Abend dieses Tages noch in Stellung. Auf dem Marsch erlebten wir, daß der Führer der Heeresgruppe, der deutsche Kronprinz, von der Front kommend, uns im Auto begegnete, uns froh anlachte und außerordentlich freundlich grüßte, so daß wir sagen mußten: entweder es steht wieder gut oder er sah die 63er kommen und dachte na, jetzt wird es wieder gut gehen! Wir hatten heiße Kampftage, an denen viele Angriffe auch mit Panzern schon im Feuer der Artillerie zusammenbrachen, und an denen der Feind während unseres Dortseins keinen Schritt mehr voran kam. Am 28.7. wurden wir hier wieder abgelöst.

Doch das empfanden wir alle: Der Krieg war an einer Wende angekommen! Feindliche Übermacht spürend, standen wir wieder in der Defensive. Mit unverbrauchten Kräften in Mann und Material war jetzt auf Frankreichs Boden der Amerikaner in den Kampf getreten.

5.17. Die Einwohner zwischen Aisne und Marne

Als die Marneoffensive begann, flüchteten die meisten Einwohner aus ihren Dörfern. Nur wenige blieben in ihrem schönen Heimatland zurück. Man konnte diese Ärmsten, die all das Ihre verloren und nun elend Hunger leiden mußten, nur bedauern. Und doch waren wir ihnen wenig gewogen. Denn mit welcher Freude und mit welchen Erwartungen mußten die vor einem Jahr gesehen haben, als im April letzten Jahres die unheimlichen Geschützmassen zur großen Aisneoffensive gegen uns aufgebaut wurden! Und mit welcher Liebe lasen sie gewiß immer die elenden Hetzblätter gegen uns, „Petit Journal" und wie sie alle hießen, die man in allen Häusern in Massen fand! Wie schmutzig und frivol war ferner alle Lektüre, die in den Häusern von vornehm wie gering zu finden war! All das ließ den deutschen Soldaten ihnen gegenüber jetzt rücksichtsloser sein, zumal er nicht verstehen konnte, daß Frankreich nicht friedensbereit wurde. Beim Rückmarsch in die Ruhequartiere kamen wir an zwei 37 cm englischen Eisenbahngeschützen vorbei, die mit dem ganzen dazugehörigen Eisenbahnzug bei unserem Vormarsch unversehrt stehen geblieben waren. Ungeheure Dinger, vor denen wir uns schon oft geduckt und verkrochen, gezittert und gebebt haben, die wir aber in dieser Grosse noch nicht gesehen hatten. Nun standen sie lammfromm und zahm auf den Gleisen, und in ihrer Nähe waren nicht weniger als 5.000 Schuß gelagert. Wir wünschten, daß wir die hier gegen uns gestapelte Munition nun an anderer Stelle hinüber wandern lassen könnten!

5.18. Drohende Gefahr!

Die Einwohner des Ortes Pipaix am Schießplatz Timougies waren freundlich zu uns und außerordentlich gastfrei. Meiner Wohnung gegenüber war ein belgischer Bauernhof, dessen Haustüre immer offen stand, durch die man in die Küche sah, in der Madame Marie stets auf den Beinen war. Im Blick auf vorbei kommende Einwohner konnte man den ganzen Tag hören: „Ah, Madame Marie! Toute suite visite!" Dem Eintreten folgte, daß stets ein Kaffeeschälchen gereicht wurde!

Demgegenüber erlebten wir, daß die aus Heimaturlaub zurückkehrenden Kameraden, von all der Armut und den Entbehrungen der Ihren niedergedrückt, traurig und mutlos zurückkamen. Sie brachten wenig aufmunternde Zeitungen mit, die von Hand zu Hand gingen, und erzählten, daß zu Hause niemand mehr an den Sieg glaube! Zudem war die Truppe überall einer Unmasse von Flugblättern ausgesetzt, die von Fliegern abgeworfen wurden. Diese waren außerordentlich gefährlich, weil sie in einem gemein vertraulichen Ton geschrieben waren und zu den Soldaten wie unter 4 Augen redeten. Sie sprachen von dem Eintritt der amerikanischen Divisionen in den Kampf in Frankreich und daß demzufolge kein deutscher Sieg mehr errungen werden könne! Darum riefen die Flugblätter zur Desertion auf und predigten die Revolution!

In diesen Flugblättern konnte man starke und aufrüttelnde Worte fremder Staatsmänner lesen. Sie gaben die Worte Clemenceaus wieder: „Wir weichen jetzt zurück, - aber wir werden uns nicht ergeben! Wir werden den Sieg erringen! Wir schlagen uns vor Paris, - wir schlagen uns in Paris, - wir schlagen uns hinter Paris!" Doch auf deutscher Seite schwieg man sich aus. Wir hörten keine Worte von höchster Stelle, die neues Vertrauen erweckten, hinrissen und mit neuer Kraft erfüllten! In dieser Zeit, in der so manche Gerüchte unter den Leuten dahinschlichen, zersetzten und entmutigten, hätte etwas geschehen müssen, um Geist und Stimmung der Truppe zu heben und Gegenmittel gegen den Geist der ausgesäten Zersetzung zu sein. Doch darauf warteten wir vergebens und konnten nur sagen: „Wenn es mit uns Deutschen noch schiefgehen sollte, dann haben wir es verdient!"

5.19. Dem Kriegsende entgegen (Ende September/Oktober 1918)

Daß wir an einer Wende des Krieges standen, zeigte unser neuer Einsatz im Raume westlich von Cambrai, in dem nicht eine neue Offensive unsererseits, sondern härteste Abwehrkämpfe gegen einen immer neuen Boden gewinnenden übermächtigen Feind unserer warteten. Seine von zahlreichen Panzern begleiteten Angriffe wurden in einer ganz neuen Taktik geführt. Der Angriff begann mit einem viertelstündigen Feuerschlag aller Kaliber auf unsere vordersten, allerdings nur dünn besetzten Linien, da der Verschleiß der Divisionen in den zurückliegenden Kämpfen sehr groß gewesen war. Die Kampfstärke des Infanterieregiments, mit dem wir zusammenarbeiteten, stellte sich uns als 200 Mann stark heraus! Mit Beginn des Sturmes auf die vordersten Linien wurden die Artilleriestellungen mit Feuer eingedeckt. Ihre Verbindung zu den Beobachtungsstellen vorne war natürlich sofort gestört! Bei immer neu zerschossenen Leitungen mußte ja von den Störungssuchern Unmenschliches geleistet werden! In diesen Kämpfen machte das Zurückweichen der Infanterie häufige Stellungswechsel der Artillerie nach rückwärts notwendig.

Meinen Vater, der mir traurig von 3 Vermißten unseres Ortes in den Kämpfen unserer Gegend geschrieben hatte, ließ ich wissen, daß sie noch gut am Leben sein könnten! Zeigten diese Kämpfe doch, daß die feindliche Propaganda ihre Früchte trug, weil das „Hände hoch" und „sich fangen lassen" auch für den deutschen Soldaten schon etwas Gewöhnliches geworden war. Daß es auf der Gegenseite nicht viel anders stand, erlebte ich eines Abends gegen 10 Uhr, als ich von dem Batterieposten aus meinem Erdloch gerufen wurde, der mir einen Infanteristen mit 4 gefangenen Engländern meldete. Von vorne kommend hatte der Infanterist ohne Gewehr die 4 Engländer mutterseelenallein durch die dunkle Nacht geführt und suchte an unserem Gefechtsstand nun Auskunft, wo er sie abgeben könne. Ich spürte, daß die 5 schon ganz gute Freunde waren. Die Engländer saßen an der Böschung, von den Strapazen ausruhend und sich aus dem gefährlichen Raum hier in die Etappe sehnend. Als ich dem Infanteristen den Weg zu einem rückwärtigen Gefechtsstand gewiesen hatte, rief er: „Kommt, Tommys" und sie sprangen auf und trotteten wie zufriedene Hündlein hinter ihm her. Hätten sie sich verständigen können, dann hätten sie gewiß einander das Herz ausgeschüttet und von der Dummheit der Menschen gesprochen, die auf Erden Freunde sein könnten, aber einander totschlagen!

An diese Dummheit der Menschen auf unserer so schönen Erde läßt auch die jetzt hier im Land um Cambrai erlebte Evakuierung der noch vorhandenen Zivilbevölkerung denken. Wir sehen ergreifende Bilder von Elend und Jammer, wenn Alte und Junge, mit Allernötigstem bepackt, sich dahin schleppen, das große Weh im Herzen, alles das ihnen lieb war, zurücklassen zu müssen und später vielleicht nur noch Trümmer ihres Hauses zu finden. Ich wünschte, daß Unzufriedene und Nörgler zu Hause etwas davon sähen! Dann dämmerte ihnen vielleicht auf, wie glücklich sie doch dran sind, daß tapfere Heere den Feind von der Heimat ferngehalten haben und für sie auch jetzt, in schwerster Lage kämpfend, noch stehen! Denn man weiß ja allmählich nur zu genau, daß sie uns unsere schöne Heimat nicht gönnen, und, weil wir Deutsche sind, uns nur zu gern vernichten möchten!

5.20. Der dunkelste Tag des Artillerieregiments 63 (27.9.1918)

Nach verschiedentlichen Stellungswechseln stand die 8. Batterie wie die gesamte Abteilung zuletzt westlich des Bourlonwaldes, rechts der Strasse Cambrai - Rouen. Die Gegend war uns aus der Tankschlacht von Cambrai Dezember 1917 gut bekannt. In einer Sandgrube unmittelbar bei der Stellung war ein Stollen, in dem die ganze Stellungsbesatzung, 25 Mann und Offiziere, Unterkunft fand. Ein Unterstand, eng und düster, schmutzig und zugig, doch da wir in ihm zu 25 Mann schliefen und rauchten, fror man nicht und kam man, wenn auch auf Brettern liegend, mit Hilfe der dicken Luft zum Schlaf. Wer nach paar Ruhetagen im Protzenquartier allerdings wieder nach vorne kam, entlaust und mit frischer Wäsche, war nach der ersten Nacht von neuem verlaust wie vorher!

Wie glücklich waren wir in diesem für uns letzten Bunker des Krieges, wenn der Abend kam! Da rückten wir das Arbeitstischchen in die Ecke und sagten: „Der gemütliche Teil beginnt!" Jetzt war das Essen von hinten gekommen und konnte ohne Hast in Ruhe gegessen werden, - das Fahrzeug hatte vielleicht Post und Nachricht von den Lieben zu Haus mitgebracht! Das Pfeifchen konnte angesteckt und vielleicht zum ersten Male am Tag in Ruhe geraucht werden! Kartenspieler fanden sich zusammen, und, pfui Teufel, wie gut schmeckte zum Spiel der empfangene Schnaps, der von hinten mitgekommen war. Wie arm wären wir in der verlausten schmutzigen Erde dran gewesen, hätten wir dies herrliche Getränk nicht gehabt, das uns aufrecht hielt!

Auch hier machten Enge der Unterkunft und Läuseplage Ablösung untereinander notwendig. So kam am 25.9. die Reihe an den Batteriechef und mich, für 2 Tage ins Protzenquartier zu dürfen, um dann die zurückgebliebenen Offiziere am 27.9. wieder abzulösen. Wir standen unmittelbar vor der Ablösung unseres ganzen Regiments durch ein neu aufgestelltes Garde-Feldartillerieregiment. Der Stab des neuen Artillerieregiments war bereits an die Stelle unseres Regiments-Stabes getreten. Wohltuende Tage hatten wir in unserem an einem Kanal gelegenen Protzenquartier, hatten ein warmes Bad nehmen können, waren durch Angeln zum Essen gebackener Fische gekommen. Die Front war ruhig, das ließ uns die beiden Tage recht genießen.

Anders war es in der Morgenfrühe des 27.9., in der Oberleutnant Schmitz und ich zur Ablösung der anderen Offiziere nach vorne reiten wollten. Ab 5 Uhr war ein gewaltiges Trommelfeuer zu hören, das uns aufschreckte und versuchen ließ, auf schnellstem Weg zur Batterie zu kommen. Je näher wir aber dem Kampfgebiet kamen, um so schwereres Feuer lag auf den Anmarschstrassen, so daß wir die Pferde rückwärts schickten und seitlich der Strasse voran zu kommen suchten. Durch von vorne kommende Verwundete und Versprengte hörten wir von der Größe der Katastrophe in unserem Frontabschnitt, der in seiner Breite vom Feind durchbrochen war und alle Artilleriestellungen ohne infanteristischen Schutz sein ließ. Uns in schwerem Feuer von Granatloch zu Granatloch vorwärtskämpfend, kamen wir auf 200 Meter an unsere Feuerstellung heran! Da aber begegnete uns mit noch einigen Batterieangehörigen verwundet Leutnant Brückel. „Die Batterie habe bis zuletzt gekämpft und alle Munition verschossen, auch das MG gegen den andringenden Feind benutzt, habe dann aber von hinten vom Rande des Bourlonwaldes vom Engländer, der die Batterie umgangen hatte, Feuer bekommen, so daß die Lage unhaltbar war. Diejenigen, welche die Batterie nicht noch rechtzeitig verlassen hatten, kamen in englische Gefangenschaft." Die Geschütze der Batterie waren also verloren! Das wurde für uns ein trauriger Weg zum rückwärts verlegten Stab des Artillerieregiments, den bösen Tatbestand zu melden. Dort waren aber schon andere Hiobsnachrichten eingetroffen, die sich dahin ergänzten, daß das gesamte Regiment seine Geschütze verloren hatte, daß ferner viele gefallen, verwundet und in Gefangenschaft geraten waren. Dieser 27. September war wirklich der dunkelste Tag in der Geschichte des Regiments geworden!

Als schweren Verlust empfanden wir alle den Tod unseres Leutnants Müller, der im Urlaub alles für seine Hochzeit vorbereitet hatte und der von seiner Braut gerade die Stoffprobe fürs Hochzeitskleid zugesandt bekommen hatte! Welch ein Leid wurde das den Seinen!

5.21. Das Ende (Oktober/November 1918)

Nach dem verhängnisvollen 27. September marschierten wir mit Protzen ohne Lafetten nach Valenciennes und wurden auf den Schießplatz Namur verladen. Dort hatten wir zunächst ruhige Zeit. Die 8. Batterie wohnte in ihrer Gesamtheit in einem Schloß, das nur von einer Gärtnerfamilie gehütet wurde. Natürlich spürte man auf Grund des Erlebten große Niedergeschlagenheit. Allmählich bekam das Regiment Ersatz und auch wieder Geschütze. Am 20. Oktober wurde ich mit der Führung der 2. Batterie beauftragt, die ich mit Kriegsende zum Ort der Demobilisierung, nach Schlüchtern zurückführte. Wir widmeten uns nun ganz der Ausbildung, die gute Fortschritte machte, so daß wir hofften, in einigen Wochen wieder einsatzbereit zu sein. Die 2. Batterie hatte am 27. September ja weniger Ausfälle als die 8. Batterie mit einem Toten, 2 verwundeten Offizieren, 8 schwer Verwundeten und 14 Vermißten. Sie hatte auch noch junge und brauchbare Kanoniere, während zu meiner 8. Batterie als Ersatz allerletztes Aufgebot kam, Männer mit verkrüppelten Beinen und gleichgültigen Hirnen! Mit größter Spannung haben wir natürlich die Nachrichten aus der Heimat erwartet und waren aufs tiefste erregt über die Auseinandersetzungen im Parlament, den Zerfall der Einigkeit, den Kanzlerwechsel, das Friedensangebot! Die Note Wilsons, des Präsidenten der USA, an den die Regierung sich mit der Bitte um Vermittlung gewandt hatte, gab zu erkennen, wie man auf der Feindseite weiter nach Rache schrie, nach Blut, nach Vernichtung! Als schwersten Schlag der letzten Zeit empfanden wir, daß General Ludendorff ging, der Mann, zu dem wir immer noch das größte Vertrauen hatten, und der notfalls noch einmal das deutsche Heer zur Hingabe der äußersten Kräfte aufzurufen vermocht hätte. Doch nun sahen wir uns aller Hoffnungen beraubt! Bei der Aussicht auf das nahe Ende des blutigen Ringens spürten wir zwar unsere Herzen lauter pochen! Denn das Ende des Krieges verhieß das Leben! Im Erfühlen unserer schmachvollen Lage aber verschloß sich der Mund und ließ alle Worte fehlen. Von mir unschön umgemodelt, trafen die Worte von Faust zu.

„Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust!
Die eine will sich von der andern trennen!
Die eine jauchzt in froher Lebenslust
des Krieges End' - des Friedens Näh' entgegen!
Die andre, die stets folgt dem höhern Triebe,
die fühlt die Schmach wie Peitschenhiebe!"

In diesen schweren Tagen belastete mich sehr, daß seitens der Einwohner des Unterbringungsortes Klagen über Diebstähle seitens der Batterieangehörigen gemeldet wurden. Als gestohlen wurden gemeldet ein Schwein und ein Schaf, dieses das einzige Stück Vieh einer Witwe. Sollten wir deutschen Soldaten auch hier noch als Diebesbande in Erinnerung bleiben? Als eine vom Hauptwachtmeister durchgeführte Quartieruntersuchung ergebnislos verlaufen war, ging ich persönlich durch die Quartiere, fand dabei das geschlachtete Schwein, revidierte dann am Abend noch einmal überraschend die Kochtöpfe und fand das Schaf! Aufkommendem Bolschewikentum mußte gewehrt werden!

Am 11. November aber war Waffenstillstand. Auf Befehl war die am 9. November ausgebrochene Revolution der Truppe bekannt zu geben. Jede Einheit hatte sofort einen Soldatenrat zu bilden, in den in der 2. Batterie 3 beste Männer kamen, die ihren Offizieren nur halfen, - nicht aber unangenehm in Erscheinung traten.

Das Regiment trat den Rückmarsch in die Heimat an, war 20 Tage unterwegs und überschritt am 16. November bei Malscheid in der Eifel die deutsche Grenze. Auf der Grenze war Halt. Ich führte hier mit den Hauptwachtmeistern der 2. (Stück) und der 3. (Bender) ein ernstes Gespräch. Hinter uns sahen wir die Gräber der gefallenen Kameraden. Vor uns die Heimat, die nun auf unsere besten Kräfte wartete, daß sie nicht in Anarchismus falle.

In Koblenz ging es über die von revolutionären Matrosen besetzte Schiffsbrücke des Rheins. Da wir gewarnt worden waren, den Offizieren würden hier die Achselstücke heruntergerissen, marschierten die Kanoniere als starker Block mit ihren Gewehren vor der Batterie. Die Matrosen wagten nicht, uns anzuschauen! Jenseits des Rheins marschierte das Regiment während des Spielens der Regimentskapelle an ihrem Regimentskommandeur, Oberstleutnant v. Reckow vorbei, ein letzter Höhepunkt des langen Krieges!

Wir sahen uns in Ehren rückmarschieren, gaben ein Bild bester Disziplin und Manneszucht, und fühlten uns als unbesiegt!

“Im Felde unbesiegt!” Das formulierte auch Friedrich Ebert - und stellte sich auf die Seite der Reaktion. Es nahm ein schlimmes Ende.