1. Der Einsatz ausländischer Arbeitskräfte in Hanau in den Kriegsjahren 1939-1945

1.1. Die Entwicklung allgemein

Der Einsatz von ausländischen Landarbeitern als Saisonkräfte in der Landwirtschaft war schon jahrzehntelang üblich, als sich mit dem deutschen Angriffskrieg gegen Polen am 1. September 1939 das Arbeitskräftepotential für Gewerbe und Industrie grundlegend veränderte. Die Reservisten wurden zu den Waffen gerufen und fehlten an den Arbeitsstätten. Ferner führte der Bedarf für militärische Zwecke zu Mangelerscheinungen bei Energie (Kohle) und Transportmöglichkeit (Eisenbahn). Die Wirtschaftskammer Hessen berichtet bereits Anfang 1942 über Betriebseinschränkungen und -Stillegungen „wegen Kohlenmangels", die im Kammerbezirk Hanau sieben Betriebe (davon zwei mit über 100 Beschäftigten) mit zusammen 531 Beschäftigten betrafen. Die staatliche Verwaltung versuchte, den Mangel zu verwalten bzw. Prioritäten zu setzen.

Bei der Beurteilung der Lage müssen wir Heutigen, die wir an ein Marktwirtschaftssystem gewöhnt sind, uns ins Bewußtsein rufen, dass damals ein System mit starken Zügen einer Zentralverwaltungswirtschaft bestand. Zwar gab es keine zentrale Planungsinstanz, und auch der 1936 in Gang gesetzte „Vierjahresplan" betraf nur einen Teil der Wirtschaftszweige. Die Besitzverhältnisse blieben unangefochten, die einzelnen Firmen operierten weiterhin nach dem Prinzip der Gewinnmaximierung. Dies jedoch „in den engen Grenzen eingeschränkter Entscheidungsbefugnisse in bezug auf Investition, Rohstoffverwendung, Produktenauswahl und Profitausschüttung". Mit der Neuordnung der Landwirtschaft, der staatlichen Kontrolle des Außenhandels, der Kontrolle der Preise, Löhne und Investitionen bereits vor dem Krieg „ergab sich im Gesamtbild zumindest der Versuch einer neuen und integrativen nationalistisch-etatistischen Wirtschaftsordnung".

Die Regelungsdichte wurde im Laufe der Kriegsjahre erhöht. Mit der Reorganisation des Rüstungswesens 1941/42 setzten Planungsstäbe für jeden Produktionszweig die Quoten fest und teilten den einzelnen Betrieben dementsprechend die notwendigen Rohstoffe und Arbeitskräfte zu. Wir begegnen dem später beim Bau von Baracken für die Firma VDM in Großauheim: die Baracken mußten über den „Bevollmächtigten für den Holzbau" in Berlin angefordert werden, und sie wurden dann von einem Betrieb in Großauheim geliefert, der direkt neben VDM lag. Entsprechend wurden auch die Arbeitskräfte verwaltet. Der Freiheit des/r Arbeitnehmers/ in, sich einen beliebigen Arbeitsplatz auszusuchen, war eingeschränkt. Im Februar 1935 war die Arbeitsbuchpflicht eingeführt worden, um den Wechsel der Arbeitsplätze zu bremsen; der Lohnstopp wurde von innovativen Unternehmern durch zusätzliche Sozialleistungen umgangen, um in der Vollbeschäftigung durch besondere Anreize zu zusätzlichen Arbeitskräften zu kommen. Im Rahmen des Vierjahresplanes erging im März 1939 das ausdrückliche Verbot, den Arbeitsplatz ohne Bestätigung der Arbeitsämter zu wechseln. Diese „Militarisierung der Arbeitskräfte" bedeutete in der Praxis, dass die Arbeitskraft vom Arbeitsamt einem Unternehmen zugewiesen wurde, das Bedarf angemeldet hatte. Dass dies alles nicht immer nach rationalen Gesichtspunkten erfolgte, sondern auch Beziehungen und Seilschaften eine Rolle spielten, liegt auf der Hand. So veröffentlichte die NSDAP-Parteizeitung „Kinzig-Wacht" in Hanau am 23. Februar 1943 offenbar zur Abschreckung die Meldung: „Zuchthaus für 'empfängliche' Angestellte" über zwei Angestellte des Arbeitsamts Ansbach, die sich „in einigen Fällen für die Vermittlung ausländischer Landwirtschaftsarbeitskräfte von den Bauern mit Lebensmitteln, und zwar Eiern, Geflügel, Fleisch und Obst beschenken" ließen; das Sondergericht Nürnberg verurteilte sie zu je fünf Jahren Zuchthaus.

Um die durch die Einberufung zum Militärdienst entstandenen Lücken zu schließen, wurden Arbeitsstätten „ausgekämmt", d.h. angeblich nicht effektiv eingesetzte Arbeitnehmer wurden dem einen Betrieb weggenommen und einem anderen Betrieb zugewiesen. Die Kommunalverwaltungen hatten Listen von Müßiggängern („Arbeitsscheuen") zu erstellen, die dann je nach Eignung für bestimmte Arbeiten „dienstverpflichtet" wurden. Während die Nazi-Ideologie in den Jahren zuvor das Bild der Frau am häuslichen Herd stilisiert hatte, erfolgte nun der Aufruf zur Berufstätigkeit: wie der Mann „an der Front" sollte die Frau „an der Heimatfront" tätig werden, wenn dies die Familienverhältnisse ermöglichten. Kommunalverwaltungen schnüffelten in der Privatsphäre von Familien und erstellten Listen von Frauen, die nicht berufstätig waren und die dann für die Arbeit in einer Fabrik „dienstverpflichtet" wurden. Zum Beispiel meldete der Bürgermeister von Klein-Auheim im November 1943 dem Arbeitsamt Offenbach nach dessen Anfrage 14 Frauen; in dem Brief heißt es u.a.: „Fina K., geb. G.: Frau K. lebt im Hause ihrer Eltern. Sie hat ein Kind, geboren am x.x.1936. Die Mutter der Genannten kann das Kind in ihre Obhut nehmen und Frau K. wird für den Arbeitseinsatz frei."  Schließlich wurden bei immer knapper werdendem Arbeitskräftepotential Betriebe zwangsweise geschlossen, weil ihr Angebot angeblich nicht erforderlich sei, und die Arbeitskräfte wurden anderen Betrieben zugeteilt.

Mit Kriegsverlauf, d.h. Vergrößerung der Streitkräfte und Ersatzbedarf für Tote und Verletzte, wurde der Arbeitskräftemangel immer größer. Die weiteren historischen Daten: 9. April 1940 deutscher Angriff auf Dänemark und Norwegen, 10. Mai 1940 deutscher Angriff auf Frankreich, die Niederlande und Belgien, 22. Juni 1940 Waffenstillstand mit Frankreich.

Die Wirtschaftskammer Hessen schrieb am 5. Juli 1940 in ihrem (geheimen) Bericht für Juni: „Als wichtigste Aufgabe erscheint die Bereitstellung von Arbeitskräften für die Rüstungsindustrie. Nachdem die Stillegungsaktion nicht den erwarteten Erfolg gebracht hatte, versucht die Auskämm-Aktion vornehmlich an die größeren Betriebe heranzugehen. Dabei ergab sich ein äußerst schwieriger Stand für die betreffenden Arbeitsämter ... Auf Weisung des Landesarbeitsamtes sind aus dem hiesigen Bezirk etwa 450 Facharbeiter der Metallindustrie freizumachen, während die hiesige Rüstungsindustrie zugleich dringend 800 Facharbeiter anfordert. Trotz Einspruchs des Rüstungskommandos, insbesondere bei einigen Großbetrieben, muß die auferlegte Abgabe nach auswärts durchgeführt werden. Hier scheint man sich bei dem Plan der Wehrmachtsfertigungen verrechnet zu haben. Zunächst werden daher meist Klein- und Mittelbetriebe von den vorgesehenen Abzügen betroffen werden."

Weiter heißt es: „Im Handwerk konnten neuerdings auch die Betriebe mit weniger als fünf Beschäftigten von Dienstverpflichtungen nicht verschont bleiben, was über kurz oder lang zur Stillegung einer großen Zahl von Betrieben führen dürfte."

Über die Auskämm-Aktion, d.h. die Dienstverpflichtung von Arbeitskräften an einen anderen Arbeitsplatz, z.B. von Verkaufspersonal aus dem Einzelhandel als Hilfsarbeiter/-innen in eine Fabrik, berichtete die Wirtschaftskammer am 4. Oktober 1940 in ihrem September-Bericht: „Aus dem Einzelhandel waren innerhalb der ersten Auskämmaktion rund 4.000 Kräfte namhaft gemacht worden, wodurch der Personalbestand des Handels bereits auf das äußerste Mindestmaß herabgesetzt war. Nachdem nunmehr weitere Abzugsaktionen in Gang gekommen sind, muß befürchtet werden, dass die ordnungsgemäße Bedienung der Kundschaft vielfach unmöglich wird."  Und am 1. Februar 1941 heißt es im Januar-Bericht: „In einer der größten Holzhandlungen Frankfurts zum Beispiel sind nur noch Arbeitskräfte über 60 Jahre und Schwerkriegsbeschädigte tätig, sodaß die Aufträge der Rüstungsbetriebe nur mit großen Verzögerungen ausgeführt werden können."

Am 1. März 1941 tritt Bulgarien dem Dreimächtepakt Deutschland-Italien-Japan bei, am 2. März marschieren deutsche Truppen in Bulgarien ein zum baldigen Angriff auf Griechenland. Zwei Tage nachdem am 25. März Jugoslawien dem Dreimächtepakt beigetreten ist, erfolgt in diesem Land ein Militärputsch, am 6. April beginnt der deutsche Angriff auf Jugoslawien und Griechenland. Am 22. Juni 1941 beginnt der deutsche Angriff auf die Sowjetunion. Der Arbeitskräftemangel verschärft sich.

Fachkräfte in Schlüsselpositionen der Betriebe wurden „unabkömmlich" gestellt, d.h. sie wurden nicht zum Militär einberufen. Um diese „uk"-Stellungen gab es ständig Reibereien zwischen Wirtschaft und Militärverwaltung. Die Wirtschaft forderte die Überlassung der „bedingt verwendungsfähigen" Soldaten. Der Leiter der Wirtschaftskammer Hessen, Prof. Dr. Carl Lüer, schrieb am 1. Mai 1942 in seinem April-Bericht: „Im Hinblick auf die mit den kommenden Einberufungen zu erwartenden Einbußen treten die Betriebe immer wieder mit zwei Anregungen an uns heran: 1. Freigabe derjenigen qualifizierten Fachkräfte durch die Truppe, die sich während ihrer Ausbildungszeit als nicht kriegsverwendungsfähig herausgestellt haben. Trotz der bekannten militärdienstlichen Bedenken können die Betriebe nicht einsehen, dass z.B. leistungsfähige Werkzeugmacher der Jahrgänge 1912 und älter als nur „g.v." (“garnisonsverwendungsfähig”) oder gar „a.v." (“arbeitsverwendungsfähig”) in Heimattruppenteilen festgehalten und mit wenig produktiven Arbeiten beschäftigt werden, während sie an ihrem zivilen Arbeitsplatz zur Beseitigung eines Kriegsengpasses beitragen würden. 2. Beschleunigung der Entlassung von Kriegsversehrten aus den Genesendenformationen."

Im Bericht für die Monate Mai/Juni vom 3. Juli 1942 beklagte er die hohe Zahl der Einberufungen: Das hessische „Gebiet hat in den sechs Monaten von August 1941 bis Februar 1942 neun Prozent der beschäftigten Männer verloren gegenüber einem Verlust von 4,3 Prozent im Reich. ... Der Rückgang betrug insgesamt rund 64.000 Arbeitskräfte. ... Der Hauptgrund ... ist..., daß das Gebiet der Wirtschaftskammer Hessen bei den Einberufungen zur Wehrmacht wesentlich stärker herangezogen wurde..."

Anfangs wurden Kriegsgefangene - Polen und Franzosen - nur in der Landwirtschaft eingesetzt. Schon am 5. Juli 1940 forderte die Wirtschaftskammer Hessen in ihrem Monatsbericht eine Ausweitung: „Der Wunsch nach Einstellung von Kriegsgefangenen und deren Verwendung auch außerhalb der Land- und Forstwirtschaft wird daher immer stärker."  Zwei Monate später wird die Zurückhaltung der Wehrmachtsstellen beklagt: „Die Beschaffung von Kriegsgefangenen ist weiterhin sehr schwierig. Die Maßnahmen der Militärverwaltung sind mit den Bedürfnissen der Wirtschaft sehr schwer überein zu bringen. Es besteht für die Firmen, die Kriegsgefangene beantragt haben, ein großes Risiko bei der Errichtung von Lagern, weil sie niemals genau damit rechnen können, daß sie die beantragten Gefangenen auch erhalten. Die Industrie- und Handelskammer Frankfurt a.M. hat die Vorarbeiten für die Errichtung eines Lagers übernommen. Es wurde eine Arbeitsgemeinschaft der interessierten Firmen gebildet, wobei sich die Firmen verpflichteten, die entstehenden Kosten anteilsmäßig nach der Zahl der beantragten bzw. zugewiesenen Gefangenen zu tragen."

Mit der Zuweisung von Kriegsgefangenen als Arbeitskräfte war die Wirtschaft nicht zufrieden - es waren ihr zu wenig. Am 3. Juli 1942 monierte die Wirtschaftskammer Hessen: „Ein ... Teil der Arbeitsnöte des Gebiets ist auf die Minderzuweisung von Kriegsgefangenen und zivilen Ausländern zurückzuführen. Gegenüber einem Ausländeranteil von 13,5 % im Reich verzeichnet der Bezirk der Wirtschaftskammer Hessen nur einen Anteil von 12,2 %. Die Gesamtzahl der beschäftigten Ausländer und Kriegsgefangenen betrug am 16. Februar 1942 in Hessen 125.600. Am Reichsdurchschnitt gemessen hätten es rund 13.500 ausländische Arbeitskräfte mehr sein müssen."
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Kriegsgefangenenlager in Hanau, Oktober 1940. Keine nähere Ortsangabe. Das ältere Schild (rechts) verweist auf einen „Privatgarten".
Das große Schild ist unterzeichnet: „Die Polizeidirektion Hanau" (Bildstelle Hanau)
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Der Einsatz von Kriegsgefangenen

Kriegsgefangene wurden von der Wehrmacht verwahrt und verwaltet. Das System sah, kurz beschrieben, folgendermaßen aus:

Die Gefangenen wurden in „Frontstammlagern" zusammengefaßt und dann auf das Reich verteilt. Das Reich war in „Wehrkreise" eingeteilt, die mit römischen Zahlen durchnumeriert waren. Stadt und Kreis Hanau gehörten zum „Wehrkreis IX", Kassel, der östlich bis weit nach Thüringen reichte. Auch Steinheim und Klein-Auheim gehörten zum „Wehrkreis IX". Die südlichen und westlichen Teile des heutigen Landes Hessen und die Region auf der anderen Rheinseite bildeten den „Wehrkreis XII".

Kriegsgefangene Mannschaften wurden im Mannschaftsstammlager „Stalag" untergebracht und dann in „Arbeitskommandos" an Betriebe der Region verteilt, Offiziere blieben im Offizierslager „Oflag". Im Wehrkreis IX gab es drei Mannschaftsstammlager: Stalag IX A in Ziegenhain, Stalag IX B in Bad Orb und Stalag IX C in Bad Salza (Thüringen). Sofort nach Kriegsbeginn im September 1939 - die Pläne waren offenbar vorbereitet - wurde das Schullandheim der Stadt Frankfurt am Main auf der Wegscheide bei Bad Orb zum Kriegsgefangenenlager ausgebaut, um ab 1. Dezember 1939 aufnahmebereit zu sein: Mehr als 40 Unterkunftsbaracken mit den Ausmaßen 42,5 m x 12,5 m bzw. 36 m x 8 m sowie Wirtschaftsgebäude u.a. Das Lager verwaltete über 20.000 Kriegsgefangene - Personaldatei, Postverkehr über das Internationale Rote Kreuz, besonderes Krankenhaus (Lazarett) in Bad Soden-Salmünster u.a. Etwa 1.500 bis 3.500 Gefangene befanden sich im Lager, die anderen waren in Arbeitskommandos andernorts untergebracht, z.B. in Hanau.

Die Unterkünfte der Arbeitskommandos wurden von Militär bewacht. Die Unternehmen hatten den Gefangenen Unterkunft und Verpflegung zu gewähren (teils im Lager, teils im Unternehmen) und zwischen 60 und 80 Prozent der ortsüblichen Durchschnittslöhne an das Stalag zu zahlen, das einen Teil davon den Gefangenen gut schrieb.

Mitte Juli 1940 waren bereits etwa 200.000 französische und britische Gefangene in Deutschland zur Arbeit eingesetzt, Mitte August 600.000, Ende Oktober 1,2 Millionen.

Etwa ein Jahr nach Kriegsbeginn, in ihrem Bericht für November 1940, schrieb die Wirtschaftskammer Hessen: „Die Zahl der beschäftigten Kriegsgefangenen ist auf etwa 58.000 gestiegen, wovon 15.000 auf die gewerbliche Wirtschaft einschließt. Bergbau und Baugewerbe entfallen." Schwerpunkt war anfangs die Landwirtschaft. Zunehmend wurden auch die Personallücken in der Industrie gefüllt, schließlich auch in der Rüstungsindustrie. Zur Verstärkung der Rüstung sollte in einer „Rü-Oktober-Aktion" 1942 z.B. der Landesarbeitsamtsbezirk Hessen 10.700 Kräfte stellen, „wovon 6.600 für den Aufstockungsbedarf und der Rest für den Ersatz von Ausfällen im Monat Oktober (insbesondere Einberufungen) gestellt werden mußten. Die Gestellung gelang nur unter großen Schwierigkeiten mit rund 2.100 Inländern, 7.800 Ausländern und 800 Kriegsgefangenen", berichtete die Wirtschaftskammer Hessen.

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Blick in das Lager mit französischen Kriegsgefangenen am Waldesel, Oktober 1940 (Bildstelle Hanau).

Betroffene berichten

Was bei Gefangenen aus West- und Südeuropa sehr schnell abgewickelt wurde (vgl. Der Hanauer Franzose), entwickelte sich für die russischen Kriegsgefangenen zur Katastrophe. In einem Bericht vom 22. Juli 1941 - drei Wochen nach dem Angriff auf die Sowjetunion - heißt es über das Lager Minsk: „Die Gefangenen, die auf diesem Platz zusammengepfercht sind, können sich kaum rühren und sind gezwungen, ihre Notdurft an dem Platz zu verrichten, wo sie gerade stehen. Die Kriegsgefangenen, bei denen das Verpflegungsproblem kaum zu lösen ist, sind teilweise sechs bis acht Tage ohne Nahrung und kennen in einer durch den Hunger hervorgerufenen Apathie nur noch eine Sucht: zu etwas Eßbarem zu gelangen." Die NSDAP-Zeitung „Kinzig-Wacht" für die Region Hanau berichtete am 20. September 1941: „Deutsche Truppen in Kiew. Bisher 1,8 Millionen Bolschewisten gefangen genommen." Und am 15. Oktober 1941: „Weit über 3 Millionen gefangene Bolschewisten." In der Gefangenschaft starben 2,6 Millionen sowjetrussische Soldaten, davon waren allein in den ersten Wochen etwa 2 Millionen verhungert.

Ein Arbeitseinsatz sowjetischer Gefangener im Reich war anfangs nicht vorgesehen, erst die katastrophale Lage auf dem Arbeitsmarkt führte im Oktober 1941 zur Vorbereitung ihres Einsatzes. Als die Verteilung ins Reich begann, waren viele Gefangene durch Unterernährung schon so geschwächt, dass sie nicht transportfähig waren bzw. während des Transports starben. Insgesamt sind von den 3.350.000 sowjetischen Kriegsgefangenen des Jahres 1941 bis Ende März 1942 nur 166.881 zur Arbeit eingesetzt worden, fünf Prozent.

Sowjetische Kriegsgefangene trafen im Lager Wegscheide Anfang Dezember 1941 ein. In den ersten zwei Monaten starben im Durchschnitt täglich fünf Gefangene - auf dem Kriegsgräberfriedhof Wegscheide, etwa einen Kilometer vom Lager entfernt, werden die Namen der 256 sowjetischen Kriegsgefangenen überliefert, die vom 5. Dezember 1941 bis 22. Januar 1942 im Lager Wegscheide an Hunger, Kälte und Krankheiten starben. Danach wurden keine Totenscheine mehr ausgestellt, die Namen der Toten sind deshalb nicht bekannt, sie wurden auf der Waldwiese verscharrt. Dort liegen etwa 1.430 sowjetische Kriegsgefangene und zwei Serben.

Ausländische Zivilarbeiter

Ab 1936 wurden in jährlichen Verhandlungen mit der polnischen Regierung Kontingente für Saisonarbeiter vereinbart: 1937 für 10.000, 1938 für 60.000 und 1939 für 90.000 Arbeiter und damit „erheblich weniger als es arbeitslose und wegen der hoffnungslosen sozialen Verhältnisse in Polen ausreisewillige polnische Landarbeiter gab, die auf eine Arbeitsstelle in Deutschland hofften." Als die polnische Regierung wegen der zunehmenden Spannungen zwischen Deutschland und Polen das Kontingent 1939 zurückhielt, erließ der Reichsinnenminister die Anordnung, dass polnische Arbeitskräfte auch ohne Papiere nach Deutschland hereingelassen und von eigens an der Grenze eingerichteten Arbeitsämtern aufgefangen werden sollten. Sie wurden in die Landwirtschaft geschleust.

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Ein metallener Kahn wird als großer Waschzuber benutzt, Lager Waldesel, Oktober 1940 (Bildstelle Hanau).

Mit Italien, Bulgarien, Ungarn, Rumänien, Spanien, Jugoslawien und anderen Ländern wurden Abkommen zum „Arbeitskräfteaustausch" geschlossen. Mitte 1939, vor Kriegsbeginn, waren 37.000 Italiener, 15.000 Jugoslawen, 12.000 Ungarn, 5.000 Bulgaren und 4.000 Holländer in der deutschen Landwirtschaft beschäftigt.

Seit der Besetzung der Tschechoslowakei - Oktober 1938 Sudetenland, März 1939 Errichtung des „Reichsprotektorats Böhmen und Mähren" - verfügte man auch über qualifizierte Facharbeiter für die Industrie. Von den 100.000 arbeitslosen Tschechen wurden etwa zwei Drittel bis Kriegsbeginn nach Deutschland angeworben.

Aufgrund des Arbeitskräftemangels begann man im Frühjahr 1940, Bergleute aus Polen im Ruhrbergbau einzusetzen. Die Ausweitung auf andere Industriebereiche war politisch lange umstritten. Von den 279.333 polnischen Zivilarbeitern, die bis zum 1. Juli 1940 aus dem Generalgouvernement nach Deutschland geschickt worden waren, arbeiteten nur 32.000 nicht in der Landwirtschaft.

Für die Industrie wurden Freiwillige aus anderen Ländern angeworben. Im Herbst 1940 startete die Anwerbung ziviler Arbeitskräfte auf freiwilliger Basis in Belgien, Frankreich und den Niederlanden. Bis zum Sommer 1941 wurden über 110.000 Belgier angeworben; demgegenüber stieg die Zahl der Franzosen vom Vorkriegsstand 6.600 nur auf 48.500. Viele wohnten in Privatquartieren, der Lohn entsprach dem der deutschen Arbeiter. Holländer klagten darüber, dass sie von holländischen Scheinfirmen angeworben worden seien und dann in Deutschland mit langfristigen Verträgen an eine deutsche Firma gebunden wurden; viele verließen ihre Arbeitsstellen und kehrten in ihre Heimat zurück. Im Februar 1941 wurde zwischen Italien und Deutschland vereinbart, dass 320.000 Italiener zur Arbeit nach Deutschland kommen sollen.

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Waschtag im Waldesel-Kriegsgefangenenlager der Franzosen, Oktober 1940 (Bildstelle Hanau).

Nach dem Vormarsch der deutschen Truppen durch die Ukraine wurde im Herbst 1941 der dortige Erzbergbau in Kriwoi Rog auf geeignete Arbeitskräfte für das Ruhrgebiet inspiziert, im November wurden von dort die ersten Zivilarbeiter aus der Sowjetunion nach Deutschland geholt. Sie sollten in besonderen Lagern, abgesondert von den übrigen Arbeitskräften untergebracht werden. Daraus wurde, da nicht genügend Kriegsgefangene zur Verfügung standen, ein Millionen-Arbeitsheer. Mit der Einsetzung eines „Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz" wurden die Kompetenzstreitigkeiten zwischen Reichsarbeitsministerium, Deutscher Arbeitsfront (DAF), Vierjahresplanbehörde und Wehrwirtschafts- und Rüstungsamt im Oberkommando der Wehrmacht überwunden. Der Arbeitseinsatz wurde zwischen dem „Generalbevollmächtigten" und dem neuen Rüstungsminister geregelt und systematisch ausgeweitet. Im Frühjahr 1942 trafen die ersten Massentransporte mit sowjetischen Arbeitskräften in Deutschland ein. Von April bis Dezember 1942 wurden etwa 1,3 Millionen zivile Arbeitskräfte aus der Sowjetunion nach Deutschland geholt.

Die Verteilung erfolgte über die Arbeitsämter. In geringem Umfang gab es auch direkte Kontakte großer Unternehmen ins Ausland zur Beschaffung von Arbeitskräften. So schloß die LG. Farbenindustrie AG, Werk Ludwigshafen, mit dem von ihr beherrschten französischen Unternehmen Francolor einen Gruppenarbeitsvertrag für die geschlossene Übergabe von 100 Arbeitern nach Ludwigshafen. Die französischen Arbeiter wurden für die Vertragsdauer zwar Mitarbeiter des deutschen Werks, das französische Unternehmen erhielt sie danach aber geschlossen wieder zurück. Die Aufstockung auf ein höheres Kontingent wurde gebremst, weil Francolor im besetzten Frankreich für die deutsche Wehrmacht produzierte.

Zwischen Anfang 1943 und Ende 1944 wurden weitere fast 2,5 Millionen Fremdarbeiter nach Deutschland geholt, vor allem Zivilarbeiter aus den Ländern der Sowjetunion und Kriegsgefangene (nach dem Sturz Mussolinis) aus Italien.

Der Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz hatte im August 1944 mehr als 7,6 Millionen ausländische Arbeitskräfte als beschäftigt registriert: 1,9 Millionen Kriegsgefangene und 5,7 Millionen zivile Arbeitnehmer, darunter 250.000 Belgier, 1,3 Millionen Franzosen, 590.000 Italiener, 1,7 Millionen Polen, 2,8 Millionen Sowjets. Mehr als die Hälfte der polnischen und sowjetischen Zivilarbeiter waren Frauen, das Durchschnittsalter lag bei etwa 20 Jahren.

Aus: "Fremd- und Zwangsarbeiter in Hanau 1939 -1945" - mit freundlicher Erlaubnis des Hanauer Geschichtsvereins 1844 e.V., Hanau 2006

Auf die Wiedergabe der umfangreichen Fußnoten müssen wir verzichten; wir verweisen auf das Originalwerk.

Lesen sie zum Thema “Blicke aus Polen”,  einen Bericht über eine Ausstellung in Berlin.